Empfehlungsliste 2017

Tamara Bach: Vierzehn

Carlsen Verlag, Hamburg, 2016
112 Seiten, ISBN 978-3-551-58359-8, € 13,99
Ab 13 Jahre

Beh war lange krank und hat die Klassenfahrt vor den Sommerferien verpasst.

Acht Wochen hat sie die anderen nicht gesehen und fühlt sich trotz aller Schulroutine seltsam fremd. Es fällt ihr schwer, an das vertraute Miteinander mit den Freundinnen anzuknüpfen, die auf einmal Geheimnisse vor ihr zu haben scheinen. Träge schleichen die ersten Schulstunden und Pausenzeiten dahin. Beh selbst ist hellwach und registriert die vielen Anzeichen dafür, wie sich in den vergangenen Wochen alte Gewissheiten unwiederbringlich verändert haben. Auch ihr Zuhause fühlt sich nach der Trennung der Eltern fremd an, das frisch gestrichene Kinderzimmer im neuen Haus des Vaters ist das verstörende Zeichen verlorener Zugehörigkeit.

Tamara Bach erzählt einen Tag der vierzehnjährigen Beh, unspektakulär und doch für jeden Leser nachhaltig beeindruckend. Die Erzählperspektive des präzise und äußerst knapp formulierten Textes bietet durch die ungewöhnliche Verwendung des Du Identifikation und Anteilnahme und ist gleichzeitig distanzierte Beobachtung von außen. Die ehrliche Bestandsaufnahme aktueller Lebensbrüche ist schmerzlich, das Wissen um ein trotz allem tragendes Fundament und die Vorfreude auf ein ganz neues, aufregendes Wir aber hoffnungsvoll und lebensbejahend.

Sarah Crossan: Eins

Mixtvision Verlag, München, 2016
Übersetzt von Cordula Setsman
424 Seiten, ISBN 978-3-95854-057-6, € 16,90
Ab 13 Jahre

Niemand hätte für möglich gehalten, dass Tippi und Grace 16 Jahre alt werden.

Die siamesischen Zwillinge, die von der Hüfte an miteinander verbunden sind, haben ihre ungewöhnliche Symbiose nie als die Tragödie empfunden, die andere Menschen in ihrem Schicksal sehen. Auch wenn die sehr unterschiedlichen Schwestern um ihre persönlichen Freiräume kämpfen müssen und immer bemüht sind, als zwei selbstständige Individuen wahrgenommen zu werden, können sie sich ein Leben ohne den anderen nicht vorstellen. In der öffentlichen Schule, die sie nach langjährigem Privatunterricht besuchen, erleben sie Voyeurismus und Ablehnung, finden aber auch Freunde, die hinter ihrer auffälligen Erscheinung Menschen mit ganz alltäglichen Vorstellungen und Wünschen erkennen. Der hoffnungsvolle Aufbruch endet jäh, als Grace schwer erkrankt und nur eine riskante Trennung zumindest ein Leben retten könnte.

Welchen Wert hat menschliches Leben? Was ist Liebe? Was bedeutet es, ein Mensch zu sein, der sich nach Verbundenheit sehnt und dennoch auf Freiheit hofft? Die knappe, poetisch verdichtete Sprache, mit der Sarah Crossan aus der Perspektive von Grace erzählt, ermöglicht einen ungefilterten Blick auf den Alltag und das Seelenleben zweier bemerkenswerter Menschen und lässt viel Raum zum Nachdenken.

Esther Ehrlich: Nest

Aladin Verlag, Hamburg, 2016
Übersetzt von André Mumot
320 Seiten, ISBN 978-3-8489-2077-8, € 14,95
Ab 11 Jahre

Naomi, von allen wegen ihres Interesses an Vögeln Chirp genannt, hat ein sehr vertrauensvolles Verhältnis zu ihrer lebensfrohen Mutter.

Ihre Familie empfindet sie als schützendes Nest, auch wenn der Vater als Psychotherapeut jede ihrer Lebensregungen hinterfragt. Umso mehr fühlt sie mit dem Nachbarjungen, der unter seinem brutalen Vater leidet. Naomis sorglose Kindheit endet abrupt, als die Mutter aufgrund einer MS-Diagnose schwere Depressionen entwickelt und sich schließlich das Leben nimmt. Naomi findet keinen Weg aus ihrer inneren Erstarrung und flieht mit Joey, mit dem sie eine zarte doch intensive Freundschaft verbindet, vor ihrer Trauer und den hilflosen Versuchen ihres Vaters, die Familie zusammenzuhalten. Im Augenblick der größten Verzweiflung ist der Vater plötzlich da und steht ihr zu Seite.

Warmherzig und mit viel Einfühlungsvermögen in die authentisch gezeichneten Protagonisten lässt die Autorin Naomi vom traumatischen Bruch in ihrem Leben erzählen, der sie dazu zwingt, ihr schützendes Nest zu verlassen. Am Ende der symbolstarken Geschichte steht trotz aller Trauer die hoffnungsvolle Erkenntnis, dass auch ein großer Verlust nicht das Ende ist, wenn es Menschen gibt, die aufeinander achtgeben.

Hubert Gaisbauer, Leonora Leitl: Ein Brief für die Welt. Die Enzyklika Laudato si von Papst Franziskus für Kinder erklärt

Tyrolia-Verlag, Innsbruck-Wien, 2016
Illustration von Leonora Leitl

106 Seiten, ISBN 978-3-7022-3523-9, € 14,95
Ab 9 Jahre

Was ist eigentlich eine Enzyklika?

Angeregt durch die neugierige Frage seiner Enkelin bereitet der Hörfunkjournalist Hubert Gaisbauer die Umwelt-Enzyklika „Laudato si“ für ein kindliches Lesepublikum auf und lässt die wesentlichen Aussagen des päpstlichen Rundschreibens in 13 kurzen Kapiteln lebendig werden. Um die Thesen des Papstes zu Umweltzerstörung, Klimawandel und Krieg und zur ungerechten Verteilung von Gütern anschaulich zu machen, kommentiert der Autor die ausgewählten Originalzitate der Enzyklika mit Geschichten, wie sie Kinder täglich in ihrem Umfeld erleben können.

Die lebendigen Texte aus dem kindlichen Alltag machen Zusammenhänge deutlich und fördern das Verständnis dafür, dass die Bewahrung der Schöpfung eine Herausforderung ist, die alle Menschen angeht und für die auch Kinder in ihrem Lebensumfeld Verantwortung übernehmen können. Knappe Sachtexte ergänzen die angesprochenen Themen und bieten zusätzlich Informationen über Jorge Bergoglio und vor allem über den Heiligen Franziskus, auf dessen Vorbild sich der Papst immer wieder bezieht. Gaisbauer schreibt engagiert, konkret und verständlich und immer auf kindlicher Augenhöhe. Die bemerkenswerten Wachsmal-Kratzbilder spiegeln die Vielfalt der Themen wieder und erleichtern den Zugang zur Enzyklika.

Karin Gruß, Tobias Krejtschi. Was WÜRDEst du tun?

Minedition, Michael Neugebauer Edition, Bargteheide, 2016
Illustration von Tobias Krejtschi

32 Seiten, ISBN 978-3-86566-308-5, € 10,00
Ab 6 Jahre

Die Würde des Menschen ist unantastbar!

Artikel 1 des Grundgesetzes, der ein zentrales Element des christlichen Menschenbilds formuliert, ist ein Leitsatz, der jederzeit von allen Menschen umgesetzt werden muss, um Gültigkeit zu erlangen. Jedes der ganz alltäglichen Szenarien, die der Illustrator mit seinen aufs Wesentliche konzentrierten Bildern beispielhaft entworfen hat, zeigt Situationen, in denen Menschen das Leben schwergemacht wird: Mädchen, die niemand in eine Mannschaft wählen will, ein ärmlich aussehender Mann, der im Restaurant nicht bedient wird, eine Frau, der man in Partylaune das Kopftuch wegreißt, ein Stadtstreicher, der dringend Hilfe braucht…

Bei allen Beispielen wird deutlich, dass Opfer in anderen Zusammenhängen Täter werden können und umgekehrt. Die sorgfältig arrangierten und durch die reduzierte Farbigkeit sehr pointiert wirkenden Bilder, die das Thema maßgeblich tragen und die den Kern jeder Situation erschließen, werden durch provokant direkte Fragen auf den Punkt gebracht und zwingen den Betrachter dazu, nicht länger wegzuschauen und eine eigene Haltung zu entwickeln. Das Buch stößt den wichtigen Dialog über Toleranz und Respekt an und unterstützt eine Kultur des Hinsehens und der Empathie.

Stian Hole: Morkels Alphabet

Carl Hanser Verlag, München, 2016
Übersetzt von Ina Kronenberger
48 Seiten, ISBN 978-3-446-25100-7, € 14,90
Ab 7 Jahre

Es ist Winter, als Anna und Morkel aufeinandertreffen.

Der geheimnisvolle Junge hat das Mädchen mit kleinen Zettelbotschaften auf sich aufmerksam gemacht und lädt sie dazu ein, seinen Rückzugsort in einem Baumhaus mitten im Wald mit ihm zu teilen. Gemeinsam verbringen sie viel Zeit an diesem wundersamen Platz zwischen Himmel und Erde und lassen sich vom glitzernden Winterwunder ihrer Umgebung anrühren. Die Liebe zu Wortspielen lässt ihre stille Freundschaft wachsen. Anna ist überwältigt von Morkels Alphabet, das alles, was man benennt, immer wieder neu zum Klingen bringt. Doch die Beziehung zwischen den beiden Kindern ist fragil, vieles bleibt rätselhaft. Als Morkel spurlos verschwindet, bleibt Anna traurig und verwirrt zurück. Erst im Frühjahr, als die Zugvögel zurückkehren, schöpft sie neue Hoffnung.

Die traumhaft dichten Collagen aus Fotomontagen und realistischen Zeichnungen wirken wie ein visuelles Alphabet, das den Blick für Unausgesprochenes und Unsagbares schärft und innere Welten sichtbar macht. Die packend inszenierte Hymne auf die Wunder der Schöpfung und die Wirkmächtigkeit von Sprache lässt viel Raum für das Nachdenken über Liebe und Sehnsucht, über Einsamkeit, Abschied und die Ängste in Umbruchszeiten des Lebens.

Heinz Janisch, Lisbeth Zwerger: Geschichten aus der Bibel

NordSüd Verlag, Zürich / Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, 2016
Illustration von Lisbeth Zwerger
Kommentare und Nachwort von Mathias Jeschke

144 Seiten, ISBN 978-3-314-10301-8, € 21,99
Für alle

Die zwölf Geschichten aus dem Alten Testament und die zwanzig Texte des Neuen Testaments,

die der österreichische Autor Heinz Janisch für diese Auswahlbibel frei nacherzählt, spannen einen Bogen von der Schöpfungsgeschichte bis zur Offenbarung des Johannes und bilden trotz aller Reduzierung die zentralen Aussagen der biblischen Botschaft ab. Janisch vertraut der Kraft der biblischen Texte und verzichtet auf ausschmückende Details und Erklärungen. Seine poetisch klare und sehr direkte Sprache konzentriert sich auf das Wesentliche und bietet auf diese Weise einen verständlichen Zugang zum biblischen Geschehen. Bis auf wenige neue Bilder sind Lisbeth Zwergers Illustrationen schon 2000 in einer Ausgabe der Einheitsübersetzung erschienen. Ihre immer wieder staunenswerten und gänzlich unverbrauchten Bildlösungen entfalten sich allerdings vor dem Hintergrund des aktuellen Textes noch einmal ganz neu. Ohne Klischees und frei von jeder Historisierung unterlaufen sie die konventionellen Erwartungen an biblische Illustrationen und setzen die Heilsgeschichte in überraschend aktuelle Bezüge. Die zwischen den einzelnen Kapiteln eingestreuten Kommentare stellen den Zusammenhang der Erzählungen sicher und liefern Hinweise zu ihrer Deutung. Ein Hausbuch für die ganze Familie.

Ingrid Olsson: Neuschnee. Erzählungen

Mixtvision Verlag, München, 2016
Übersetzt von Cordula Setsman

112 Seiten, ISBN 978-3-95854-067-5, € 12,90
Ab 16 Jahre

Acht junge Menschen an der Schwelle zum Erwachsenwerden, acht Momentaufnahmen von Lebenssituationen, die scheinbar unüberwindbare Stolpersteine bereithalten und doch bewältigt werden müssen.

Da ist der Junge auf dem Bahnsteig, eingefroren in seiner Trauer um die verunglückte Mutter. Das Mädchen, das ihr liebloses Zuhause meidet und ihre Freundin um die fürsorgliche Mutter beneidet. Der Junge, der sich vom Vater verabschiedet und ihm verschweigt, dass er endgültig aus der Abhängigkeit eines überfürsorglichen Elternhauses fliehen will. Sie alle fühlen sich alleingelassen, leiden unter großen Ängsten angesichts der ungewohnten Herausforderungen, sind wütend, traurig, deprimiert und wagen es trotzdem, sich ihre Sehnsüchte einzugestehen und der Hoffnung auf einen Neuanfang Raum zu geben. Neuschnee wird zum sinnfälligen Symbol für die Sehnsucht nach einer lebenswerten Zukunft, die auch in extrem beklemmenden Situationen lebendig bleibt.

Der sehr reduzierte Erzählstil von Ingrid Olsson unterstreicht die radikale Intensität der Darstellung und setzt die Episoden nicht nur besonders eindringlich in Szene, sondern ermöglicht darüber hinaus ein sehr individuelles Leseerlebnis, das viel Raum für eigene Reflexionen lässt.

Kenneth Oppel, Jon Klassen: Das Nest

Dressler Verlag, Hamburg, 2016
Illustration von Jon Klassen
Übersetzt von Jessika Komina und Sandra Knuffinke

224 Seiten, ISBN 978-3-7915-0005-8, € 12,99
Ab 13 Jahre

Steves neugeborener Bruder ist mit einem Gendefekt auf die Welt gekommen.

Lange bleibt ungewiss, ob das Baby überhaupt eine realistische Überlebenschance hat. Steve, dessen zahlreiche Ängste ihn mitunter bis in seine Träume verfolgen, ist mit der Hiobsbotschaft völlig überfordert und versucht trotzdem, ganz allein mit dieser neuesten Sorge fertig zu werden. Nach einem Wespenstich, auf den er allergisch reagiert, erscheint ihm eine Wespengestalt. Zunächst wirkt sie auf ihn wie ein Engel, sie zeigt Verständnis und bietet ihm die Hilfe ihres Schwarms an. Doch mit wachsendem Unbehagen erkennt Steve, dass die Wespen den Bruder nicht heilen, sondern das „Mängelexemplar“ austauschen wollen. Erst als er begreift, dass Perfektion und Gesundheit keine Voraussetzungen für Liebe und Zuneigung und für ein gelingendes Leben sind, kann Steve den Bruder annehmen.

In einem an filmische Horrorszenarien erinnernden Finale riskiert er sein Leben, um den Bruder zu retten. Das literarische Konzept dieser packenden und oft verstörend surrealen Geschichte von Kenneth Oppel mit den eindringlich dunklen Illustrationen von Jon Klassen fordert den Leser dazu heraus, sich mit der Frage nach dem Wert menschlichen Lebens und den fragwürdigen Maßstäben zu dessen Beurteilung auseinanderzusetzen.

Alois Prinz: Ein lebendiges Feuer. Die Lebensgeschichte der Milena Jesenská

Beltz & Gelberg, Weinheim, 2016
240 Seiten, ISBN 978-3-407-82177-5, € 17,95
Ab 16 Jahre

Milena Jesenská, 1896 in Prag geboren und 1944 an den Folgen einer Nierenerkrankung im KZ Ravensbrück gestorben, war eine einflussreiche und angesehene politische Journalistin, die stets meinungsstark und kritisch über ihre unruhige Epoche berichtete und die sich Zeit ihres Lebens kompromisslos für Menschen am Rand der Gesellschaft einsetzte.

Ohne Rücksicht auf die eigene Sicherheit half sie Verfolgten des Naziregimes und wurde schließlich wegen ihrer unbeugsamen Haltung inhaftiert. Faktenreich, nüchtern und dennoch sehr anschaulich zeichnet Alois Prinz den wechselvollen Lebensweg einer starken und unkonventionellen Frau nach, die in einer skandalumwitterten Sturm- und Drangphase mit ihrer gutbürgerlichen Herkunft brach und sich auch in ihrem späteren Leben immer wieder über gesellschaftliche Normen hinwegsetzte.

Die lebendige Biographie zeigt alle Facetten dieser bemerkenswerten Frau, die heute zu Unrecht vielen Menschen hauptsächlich wegen ihrer kurzen Beziehung mit Franz Kafka bekannt ist. Der Autor vermeidet jede Heroisierung ihrer vielschichtigen und immer wieder überraschenden Persönlichkeit und bietet jungen Lesern gerade deshalb ein glaubwürdiges Vorbild für gesellschaftliches Engagement und die Hinwendung zum Nächsten.

Francesca Sanna: Die Flucht

NordSüd Verlag, Zürich, 2016
Übersetzt von Thomas Bodmer

48 Seiten, ISBN 978-3-314-10361-2, € 17,99
Ab 5 Jahre

Was bedeutet es für Menschen, die vertraute Heimat zu verlassen und sich auf eine gefährliche Flucht mit ungewissem Ausgang zu begeben?

Woher schöpfen sie die Kraft, nicht aufzugeben? Der knappe Text erzählt aus kindlicher Perspektive, wie ein glückliches Familienleben durch den Ausbruch eines brutalen Krieges endet, der täglich mehr Chaos und Zerstörung bringt und schließlich zwei Kindern den Vater nimmt. Um sie in Sicherheit zu bringen, entschließt sich die Mutter zur Flucht, und inmitten aller Gefahren wird sie nie müde, den beiden Trost und Zuversicht zu vermitteln. Der Weg zur Grenze ist lang, dubiose Schleuser bedrohen die Menschen, die Fahrt übers Meer ist lebensgefährlich, die Reise scheint kein Ende zu nehmen. Doch auch wenn das Ziel noch nicht erreicht ist, bleibt die Hoffnung auf einen Neuanfang in Sicherheit.

Francesca Sanna findet mit ihren stark stilisierten Illustrationen und dem eindringlichen Wechselspiel von dunklen und hellen Farbtönen eine wirkmächtige Darstellungsmöglichkeit, die den bedrohlichen Schatten des Krieges und die oft kaum beschreibbaren Fluchterfahrungen ebenso emotional erfahrbar macht wie die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Ein auf den realen Erzählungen von Flüchtlingen beruhender Appell an Empathie und Solidarität.

Andreas Steinhöfel: Wenn mein Mond deine Sonne wäre

Carlsen Verlag, Hamburg, 2016
Illustration von Nele Palmtag

Mit Hörbuch-CD und Musik
80 Seiten, ISBN 978-3-551-27136-5, € 16,99
Ab 8 Jahre

Max vermisst seinen geliebten Großvater jeden Tag ein wenig mehr.

Seit einem Jahr wohnt der alte Mann wegen einer beginnenden Demenz im Pflegeheim. Als die Sehnsucht zu groß wird, entführt der Junge den alten Herrn kurzerhand und bringt ihn für einen sommerlichen Nachmittag zur Wiese im Blumental, einem Ort, mit dem der Großvater in vielen guten Erinnerungen verbunden ist. Es wird ein unvergesslicher Tag, auch wegen der etwas wunderlichen älteren Dame, die sich ihnen angeschlossen hat und die in der sonnenwarmen und farbdurchtränkten Natur aufblüht und unbeschwert zu tanzen beginnt. Endlich kann Max seine heimlichen Ängste aussprechen und findet Trost in Großvaters Überzeugung, dass das große Vergessen ihrer liebevollen Verbindung nichts anhaben kann.

Steinhöfels warmherzige und zärtliche Generationengeschichte steht nicht für sich allein. Seine lebendigen Sprachbilder gewinnen durch die eigenwilligen Buntstiftzeichnungen Nele Palmtags mit den vielen gut beobachteten Szenen und durch die zur wechselnden Stimmung passend ausgewählten Musikstücke aus Prokofjews „Ein Sommertag“ und Bizets „Jeux d’enfants“ auf der beiliegenden CD an Tiefe. So entsteht ein mitreißender Rhythmus, der das Glück und die Sehnsucht dieses wunderbaren Tages im Leser nachschwingen lässt.

Elisabeth Steinkellner, Michaela Weiss: die Nacht der Falter und ich

Tyrolia-Verlag, Innsbruck-Wien, 2016
Illustration von Michaela Weiss

125 Seiten, ISBN 978-3-7022-3540-6, € 14,95
Ab 15 Jahre

Die Zeit des Erwachsenwerdens ist eine Zeit des Aufbruchs.

Alte Sicherheiten brechen weg, neue Horizonte müssen erst erfahren werden, alles wird intensiver empfunden, Lebensfreude und Melancholie, Sehnsucht und Enttäuschung liegen im komplizierten Gefühlschaos nahe beieinander. Bei der Suche nach Sinn und Tiefe im Leben fühlen sich junge Leute oft unverstanden und alleingelassen. In Gedichten und kurzen Prosatexten nähert sich Elisabeth Steinkellner sehr behutsam und nuanciert den inneren Wirklichkeiten einer aufregenden Lebenszeit, für die Jugendliche selbst oft keine Worte finden.

Die atmosphärisch dichten Texte erzählen von Liebe und Verlust, von großen Erwartungen und tiefen Enttäuschungen und brauchen dabei nicht mehr als ein Ich und ein Du, um alle Facetten des Inneren lebendig werden zu lassen. Die genauen Beobachtungen spiegeln ein großes Spektrum jugendlichen Lebensgefühls wider und öffnen dem Leser einen Zugang zu den geschützten Räumen der Seele. Dabei lassen die klaren Worte genügend Platz, um eigenen Empfindungen nachzuspüren. Das gilt auch für die sorgfältig komponierten Illustrationen von Michaela Weiss, die sich mit ihren zarten und immer neu überraschenden Bildern an Emotionen herantasten und Räume für Assoziationen öffnen.

Bette Westera, Sylvia Weve: Überall & nirgends

Susanna Rieder Verlag, München, 2016
Illustration von Sylvia Weve
Übersetzt von Rolf Erdorf

112 Seiten, ISBN 978-3-946100-09-6, € 25,00
Für alle

Wäre ein Leben ohne die Gewissheit des Todes wirklich glücklich?

Leben Verstorbene in einem Himmel weiter? Kann man unterschiedlich trauern? Mit ihren 51 Gedichten gelingt Bette Westera eine kluge und vielschichtige Annäherung an ein Thema, das häufig in hilfloses Schweigen verdrängt wird. Trauer begegnet uns in vielen Beziehungen - wenn der Großvater stirbt oder der Mitschüler, die Mutter oder ein Haustier. Die poetischen und sehr direkten Texte zeigen den Tod als wesentlichen Teil des Lebens, der dem Dasein erst Tiefe und Bedeutung verleiht. Die Unausweichlichkeit des Sterbens wird auf überzeugende Weise als einschneidendes Lebensthema behandelt und nicht mit Floskeln verdeckt. Dazu gehört auch ein Blick auf die ambivalenten Gefühle, die der Tod bei den Überlebenden auslösen kann.

Die Gedichte treffen den Leser mit ganzer Wucht und sind trotzdem nicht ohne Trost, weil in ihnen stets die Liebe zum Leben und die Dankbarkeit für die geschenkte Zeit mitschwingt. Die manchmal abstrakten, manchmal realistischen Illustrationen von Sylvia Weve sind auf vielen Ebenen eng mit dem Text verwoben und verbinden die vielschichtigen Perspektiven durch geschickt arrangierte Halbseiten. Gleichzeitig weiten sie den Blick und schaffen begehbare Räume für Trauer und Erinnerung.

Anna Woltz: Gips oder wie ich an einem einzigen Tag die Welt reparierte

Carlsen Verlag, Hamburg, 2016
Übersetzt von Andrea Kluitmann

176 Seiten, ISBN 978-3-551-55676-9, € 10,99
Ab 10 Jahre

Ein Tag an dem die Welt im Schnee versinkt und stehen zu bleiben scheint – draußen. Drinnen hingegen klaffen Wunden; jene, die offen liegen, aber auch jene, die tief innen bluten, ohne dass jemand von ihnen weiß. Die niederländische Autorin Anna Woltz nutzt für ihren Kinderroman die klassische Einheit von Ort und Zeit und verlegt jenen Tag im Leben der zwölfjährigen Felicia, von dem sie erzählt, in ein Krankenhaus. Heute ist die Welt hier, heißt es über den in sich geschlossenen Raum, der ein Ort des Unheil-Seins gleichermaßen wie des Heil-Werdens ist.

Hierher geraten Felicia und ihre neunjährige Schwester Bente, weil ihr Vater die Möglichkeiten winterlicher Fahrradtransporte überschätzt und mit dem glätteuntauglichen Fortbewegungsgerät samt Schlitten und Bente auf dem Gepäckträger ausrutscht. In der Wundversorgung jedoch zeigt sich, dass in Felicias Familie weit mehr in die Brüche gegangen ist als ein Zombiefinger, dem nun eine Kuppe fehlt. Die Fingerkuppe kann wieder angenäht werden; aber wie ist das mit Felicias Familie – kann auch die wieder hergestellt werden? Ist man überhaupt noch eine Familie, wenn die Eltern geschieden sind?

Nur kurze Zeit vorher haben Felicias Eltern ihren Kindern mitgeteilt, dass man einander immer verbunden sein, in Zukunft aber getrennte Wege gehen werde. Daraufhin hat Felicia ihre Eltern per E-Mail informiert, ab jetzt Fitz genannt werden zu wollen. In ihrer Erzählhaltung macht sie kein Hehl aus ihrer Wut, aber auch ihrer Enttäuschung und Ratlosigkeit. Eloquent steigt sie in die Schilderung der Ereignisse ein und erzählt unmittelbar aus ihrer Situation heraus. Anna Woltz stattet Fitz als Ich-Erzählerin dafür mit den sprachlichen Mitteln des Präsens ebenso wie mit trockenem Humor aus.

Sie positioniert sie zu Beginn des Romans als scheinbare Unheilbringerin – denn Fitz hat sich ihren Kommentar zur familiären Situation angriffslustig mit Permanentmarker ins Gesicht geschrieben. Ins Krankenhaus darf sie überhaupt nur mit, weil die Nachbarin ihr eine Tigermaske ausgeliehen hat. Während Bente im Krankenhaus als Patientin aufgenommen wird, agiert der Vater leicht panisch und die in ihren nagelneuen Joggingschuhen antrabende Mutter regelt die Dinge außerordentlich souverän. Der wilde Tiger Fitz jedoch streift durchs Krankenhaus und findet gerade hier, an einem Ort zahlreicher anonymisierter Schicksale, auf verschlungenen Wegen neu zu sich selbst.

Anna Woltz inszeniert Rituale des Übergangs und befreit dabei einzelne Biografien aus der Anonymität: Sie lässt Fitz gemeinsam mit dem unwiderstehlichen Adam sowie der schrägen Primula kleine Dummheiten zelebrieren und große Wahrheiten wie nebenbei erkennen. Denn das Gefühl des Zurückgesetzt- und Angenommen-Seins, das in unterschiedliche Varianten aufgefächert wird, birgt gerade für kindliche Leserinnen und Leser großes (emotionales) Identifikationspotential. Dabei werden einzelne Motive und Symbole in sprachlich und situativ immer neuen Variationen aufgegriffen – wie auch der titelgebende Gips. Denn Brüche müssen in Gips gelegt werden; dieser Gips wird hart und schließt sich wie ein Panzer um Wunden; er dient der Selbststärkung gleichermaßen wie der Befriedung der darunterliegenden Irritationen. Brüche heilen und auch wenn der Knochen nicht mehr seinem Ausgangszustand entspricht, ist er dennoch wieder tragfähig: Ich fühle mich neu. Als hätte ich nicht nur einen neuen Namen, sondern auch ein neues Stück Gehirn. Und ein neues Stück Herz, stellt Fitz gegen Ende des Romans fest. Zum Gefühl des Neubeginns gehört für Fitz auch die Erfahrung, dass Idealbilder von Familie zersplittern, aber auch neue Konstellationen heilbringend sein können. Vor Gott sind 1.000 Jahre wie ein Tag und für Fitz verdichtet sich in diesem Tag ein Wegstück des Erwachsenwerdens, das schmerzvoll, aber auch unendlich beglückend ist.

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