| Pressemeldung | Nr. 040

Predigt des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Dr. Robert Zollitsch, im Eröffnungsgottesdienst anlässlich der Frühjahrs-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Paderborn am 14. März 2011

Gott ist, wo der Mensch Erbarmen erfährt

Ohne Erbarmen keine Zukunft! Das ist die große Botschaft des heutigen Evangeliums. Es stimmt in doppelter Hinsicht: Wer sich dessen erbarmt, der der Hilfe bedarf, befreit ihn aus der Enge seiner Not. Er gibt Speise und Trank, er bietet eine Unterkunft und bekleidet, er sorgt sich um den Kranken und den Gefangenen. Ohne Erbarmen fehlt dem, der in Not ist, die Zukunft. Zweitens ist aber auch dem Erbarmungslosen die Zukunft verschlossen. Auch in diesem Sinn gilt: Es gibt ohne Erbarmen keine Zukunft. Das mag schon im Alltag des Lebens gelten, weil sich der Erbarmungslose abschneidet von den lebendigen Bezügen zu den Menschen. Das Evangelium bekräftigt diesen Zusammenhang für das gesamte Lebensschicksal eines Menschen: Der Erbarmungslose findet sich auf der linken Seite wieder. Der Herr führt nur die in sein ewiges Reich, die Speise und Trank gaben, Unterkunft gewährt, Kleidung gegeben und sich um Kranke und Gefangene gekümmert haben. Wer das nicht tat, hat – so müssen wir zunächst feststellen – seinen Ort zur Linken des Königs und hat seine Zukunft verwirkt. Ohne Erbarmen gibt es keine Zukunft. Alle Zukunft des Menschen hat etwas mit dem Erbarmen zu tun, das er schenkt und das ihm geschenkt wird.

Dieser innere Zusammenhang von Erbarmen und Zukunft mag uns aufschrecken. Er klingt hart und ist doch mit der Welt des Glaubens eng verbunden. Gottes und des Menschen Erbarmen sind sogar weit über den christliche Glauben hinaus Themen der Religion. Sie verbinden uns mit den Juden, den älteren Geschwistern des christlichen Glaubens, aber auch mit den Muslimen. Überall wird vom Menschen Erbarmen erwartet, damit der Mitmensch Zukunft hat. Überall ist es Gottes Erbarmen, ohne welches das Leben des Menschen zugrunde geht. Wer will schon in einer erbarmungslosen Gesellschaft leben? So wundert es nicht, dass die leiblichen Werke der Barmherzigkeit, von denen das heutige Evangelium weiß, weit über das Neue Testament hinaus bekannt sind. Und es wundert auch nicht, dass das Elisabethenjahr weit über das Bistum Erfurt hinaus ein so großes Echo fand. Hat doch unser Mitbruder Joachim Wanke die sieben Werke der Barmherzigkeit neu in den Focus gerückt und für heute formuliert. Denn, so hat er damals in seiner Eröffnungspredigt unmissverständlich hervorgehoben: „Gegen Unbarmherzigkeit helfen in der Regel keine Gesetze und keine Paragraphen. Gegen Unbarmherzigkeit hilft nur eine Umkehr im Herzen.“

Das Neue aber und Unterscheidende des christlichen Glaubens liegt darin, dass sich Jesus Christus, den das Evangelium heute als den Weltenrichter, den König und Hirten vorstellt, selbst identifiziert mit dem Menschen in Not, der dringend auf das Erbarmen angewiesen ist. Ohne Erbarmen hat er keine Nahrung und keinen Trank, keine Bleibe und keine Kleidung und in Krankheit und Gefangenschaft keine menschliche Nähe. Diese Identifizierung des Herrn mit dem Bedürftigen schafft eine ganz außerordentliche Antwort auf die religiöse Grundfrage: „Wo ist Gott?“ Gott ist, wo der Mensch Erbarmen braucht. Gott ist, wo der Mensch Erbarmen erfährt. Gott ist, wo sich im Erbarmen neue Lebensmöglichkeiten auftun. Im Erbarmen wirkt Gott selbst. Das ist ein praktischer Ort Gottes, ein Ort im Kräftefeld des Herzens und der Liebe und nicht primär in der Welt der theoretischen Erkenntnis.

Wenn man Gott auffinden kann im Kontext des Erbarmens und wenn Gott da ist, wo sich für Menschen eine Zukunft auftut, die nicht da wäre, wenn sich dieses Menschen keiner erbarmt und er Gefangener bleibt seiner Not, dann ist dieser Glaube unserer Alltagserfahrung ganz nah. Dieses Glaubensverständnis ist zudem ganz unmittelbar verbunden mit der modernen Welt, die sich ansonsten oft so schwer tut mit den Fragen des Glaubens. Dass nämlich ohne Erbarmen keine Zukunft möglich ist, sieht jeder ein, der etwas vom menschlichen Leben weiß. Der Gott, der da ist, wo Erbarmen ist, ist ein Gott, der gerade den modernen Menschen inmitten einer Welt, die sich auch mit dem Erbarmen nicht leicht tut, zum Glauben einlädt. Mir scheint, dass unser Evangelium mit seiner Vorstellung vom Weltengericht am Maßstab des Erbarmens ein großer Schatz für die moderne Glaubenssuche und das Finden Gottes ist, ein großartiger Schatz für eine menschenfreundliche und zukunftsfähige Gesellschaft.

Wir selbst haben in diesen Monaten neu ein großes Gespür dafür entwickelt, dass alles auf die Barmherzigkeit ankommt. Wir haben erleben müssen, wie nach und nach große Verfehlungen von Männern der Kirche aufgedeckt wurden. Was vorher nicht bekannt war oder bisweilen auch nicht bekannt werden sollte, gehört doch auch zur Realität der Kirche: der Missbrauch junger Menschen im sexuellen Bereich – von jungen Menschen, die doch eigentlich Schutz und Förderung durch das kirchliche Leben erwarten durften und verdient hatten. Es ist uns nur allzu klar zu Bewusstsein gekommen, dass diese Schuld niemals ungeschehen gemacht und auch nicht entschädigt werden kann. Es sind nur Zeichen der Reue und die Bitte um Verzeihen möglich. Das Entscheidende ist das Erbarmen mit dem Schuldigen und das Verzeihen. Die aber sind für Menschen oftmals kaum möglich. Sie überfordern sie. Aber, wo sie gewährt werden, ereignet sich Göttliches.

Mehr noch: Gott selbst ist es, der über alle menschlichen Möglichkeiten hinaus Erbarmen gewährt. Deshalb haben wir diesen festlichen Gottesdienst mit einer Bußfeier begonnen, in der wir um Gottes erbarmende Liebe gebetet haben: für die Sünder und für die Kirche als ganze, wegen der begangenen Taten und wegen aller Defizite in der Liebe, im Glauben und in der Hoffnung.

Als wir Bischöfe diese Hohe Domkirche betreten haben, durchschritten wir die Rote Pforte. An ihren äußeren Torbögen erinnern drastische Darstellungen daran, dass und wie Menschen falsch handeln: an die Halsabschneider, die Streithähne und die Menschen, die sich nicht mehr in die Augen schauen, sondern nur noch den Rücken zuwenden. Die heutige Lesung schärft es uns Hörern ein: Stehlen, täuschen und betrügen dürfen nicht sein. Der Lohnempfänger darf nicht übervorteilt und der Beschuldigte nicht ungerecht behandelt werden. Und jeden Hass gegen den Bruder, gegen die Schwester sollen wir aus dem Herzen verbannen. Darin zeigt sich der christliche Glaube – wie nicht selten auch die Überzeugung Andersgläubiger –, dass Menschen sich vom Bösen abwenden, sich bekehren und sich darum bemühen, das Gute zu tun.

Der christliche Glaube äußert sich im Handeln: im Erbarmen, wie es der Herr im heutigen Evangelium verlangt. Dieses Erbarmen ist zumeist sehr persönlich und verlangt dann nicht selten eine großmütige Geste des Einzelnen. Es ist ja nicht immer leicht, anderen abzugeben von den eigenen Möglichkeiten oder der eigenen Zeit. Es ist nicht immer leicht, aktiv zu denen zu gehen, die als kranke Menschen oder sozial Gestrauchelte aufzusuchen, Überwindung kostet. Es gibt die Barmherzigkeit des einzelnen Menschen, aber auch die Barmherzigkeit in ihrer strukturellen Form, als formende Kraft innerhalb einer Gemeinschaft, einer Gesellschaft. Wir sollten viel dafür tun, dass sie in unserem staatlichen Gemeinwesen erhalten bleibt. Dazu gehören der soziale Ausgleich und die Solidarität mit Menschen, die weniger leistungsfähig sind, weil sie etwa krank sind, der Pflege bedürfen, oder weil sie wegen ihrer Herkunft noch fremd sind in unserem Land. Wir sollten Mühe darauf verwenden, zu klären, was Barmherzigkeit im öffentlichen Leben unseres Landes sein könnte. Nicht als Ersatz für die eigene Leistung, die jeder im Rahmen seiner Kräfte aufbringen kann und soll; auch nicht als Widerpart zur geforderten Gerechtigkeit in den sozialen Beziehungen, sondern als deren komplementäre Ergänzung.

Ohne Erbarmen gibt es keine lebenswerte Zukunft. In radikaler Zuspitzung gilt das für die Gesamtbilanz unseres Lebens. Wir haben eingangs immer wieder gesungen: „Schenke, Herr, uns neu dein Erbarmen.“ Unser Leben geht ohne Gottes Erbarmen zugrunde. Und weil keiner von uns ohne Sünde ist und wegen seiner Hartherzigkeit zunächst einmal auf die linke Seite des Weltenrichters gehört, gilt es in ganz besonders radikaler Weise: Es gibt ohne Erbarmen keine Zukunft. Eine lebenswerte Zukunft dieser Welt und über diese Welt hinaus gibt es nur dank Gottes Erbarmens und dank seiner Liebe. Wir haben am Aschermittwoch die Österliche Bußzeit begonnen. Sie führt uns in die Feier der drei Österlichen Tage des Gedächtnisses an das Leiden, den Tod und die Auferweckung unseres Herrn. In diesem Festgeheimnis liegt unser Heil, in ihm liegt unsere Zukunft, in ihm erweist sich der ewige Gott barmherzig mit seiner Menschheit. Dafür danken wir ihm aus vollem Herzen. Amen.

(Lev 19, 1-2.11-18; Mt 25, 31-46)

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