| Pressemeldung

Statement des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, vor dem Bundesverfassungsgericht zur Verfassungsbeschwerde gegen das Brandenburgische Schulgesetz am 26.06.2001 in Karlsruhe (I. Senat)

1. Mit der heutigen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht tritt ein Rechtsstreit in seine entscheidende Phase, auf dessen Ausgang sich viele Erwartungen richten. Seit der Erhebung der Normenkontrollklage und der Verfassungsbeschwerde sind fünf Jahre vergangen. Mehr als doppelt so lang ist die Zeitspanne seit der Wiederherstellung der deutschen Einheit. In diesen Jahren, die beinahe die vollständige Schullaufbahn eines jungen Menschen umfassen, wird christlichen Schülern im Land Brandenburg der Religionsunterricht in der öffentlichen Schule vorenthalten. Ähnlich wie im Schulsystem der ehemaligen DDR sind sie darauf verwiesen, die Erziehung in dem religiösen Bekenntnis, dem sie durch die Taufe angehören, außerhalb des regulären schulischen Unterrichts zu suchen. Nach wie vor müssen die Kirchen ein paralleles Unterrichtsangebot aufrecht erhalten, damit Eltern und Schüler ihren Anspruch auf eine ganzheitliche Bildung und Erziehung, zu der die Entfaltung der religiösen Identität wesentlich gehört, verwirklichen können. Dieser kirchliche Religionsunterricht ist kein Bestandteil des schulischen Fächerkanons. Selbst wenn er mit Zustimmung der staatlichen Behörde in den Räumen der Schule erteilt wird, stellt er ein zusätzliches, von außen hinzukommendes Element dar. Schülerinnen und Schüler, die den Religionsunterricht besuchen, sind nach wie vor in die Rolle von Außenseitern gedrängt. Damit diese Situation ein Ende findet, haben Eltern und Schüler Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie fordern nicht mehr und nicht weniger als die Einlösung der Zusage des Grundgesetzes, das Ihnen einen Anspruch darauf gibt, dass Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach in der Schule erteilt wird. Die Deutsche Bischofskonferenz bestärkt sie in diesem Anliegen und unterstützt nachdrücklich die Verfassungsbeschwerde der Eltern und Schüler.
2. Das Land Brandenburg beruft sich mit seiner Entscheidung, den Religionsunterricht nicht zu einem integralen Bestandteil der staatlichen Schulorganisation und Unterrichtsarbeit zu machen, auf den Art. 141 des Grundgesetzes. Diese Position zeichnete sich bereits während der Verhandlungsphase über den Einigungsvertrag im Jahr 1990 ab. Die Deutsche Bischofskonferenz hat die Entwicklung seinerzeit mit großer Aufmerksamkeit verfolgt. Wir waren damals wie heute fest davon überzeugt, dass mit dem Beitritt der neuen Bundesländer auch Art. 7 III GG seine volle Wirkung entfaltet. Dennoch haben wir die Stimmen, die 1990 eine andere Auffassung vertraten, sehr ernst genommen. Der Erzbischof von Paderborn und heutige Kardinal Johannes Joachim Degenhardt hat als Vorsitzender der Kommission für Erziehung und Schule im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz in einem Schreiben vom 30. Juli 1990 den damaligen Bundesminister des Inneren Dr. Wolfgang Schäuble dringend ersucht, eine Bestimmung in den Einigungsvertrag aufzunehmen, die jede Unklarheit und jeden Zweifel an der Geltung von Art. 7 III GG im Bereich der neuen Bundesländer von vornherein ausschließt. Die Bundesregierung hat, wie man sich erinnert, diesen Vorschlag nicht aufgegriffen. Maßgeblich dafür waren einerseits die rechtssystematisch-strukturelle Anlage des Einigungsvertrags und die Intention, keine Sonderregelungen aufzunehmen, andererseits die feste Überzeugung, "dass sowohl Artikel 7 Abs. 3 Satz 1 GG als auch Artikel 141 GG nach dem Beitritt auf dem Gebiet der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik ohne Einschränkungen gelten" (Antwortschreiben des Bundesministers des Inneren vom 5.09.1990, S. 2). Gleichzeitig wurde im selben Schreiben (ebd., S. 2) die Meinung vertreten, dass das Land Brandenburg sich nicht auf Artikel 141 GG berufen könne, da es - wie auch die meisten neuen Bundesländer - rechtlich untergegangen sei, keine ununterbrochene Identität eines Rechtssubjektes darstelle und darum als Bundesland "mithin gänzlich neu zu gründen" sei. Dies ist - wenn ich recht sehe - auch heute noch die Auffassung der CDU/CSU, und ich bin dankbar, dass die Bundestagsfraktion dies durch die Normenkontrollklage deutlich zum Ausdruck bringt. Vor dem Hintergrund der früheren Bemühungen unterstützt die Deutsche Bischofskonferenz diesen Antrag mit allem Nachdruck.
3. Das Erzbistum Berlin und die Bistümer Görlitz und Magdeburg erheben mit Zustimmung der Deutschen Bischofskonferenz auch im eigenen Namen Verfassungsbeschwerde gegen das Schulgesetz des Landes Brandenburg. Indem dieses dem Religionsunterricht den Status eines ordentlichen Lehrfachs an den öffentlichen Schulen versagt, nimmt es bewusst eine Position außerhalb des konkordatären und verfassungsmäßigen Rahmens ein, der für das Verhältnis zwischen Staat und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland konstitutiv ist. Die Gründe hierfür sind zu prüfen.
Der schulische Religionsunterricht erfüllt als klassische "gemeinsame Angelegenheit" (resmixta) in besonderer Klarheit die Anforderungen eines heutigen pluralistischen Gemeinwesens. Er bedeutet eine Entscheidung für eine Hinführung zu humanen und zum größten Teil durchaus verallgemeinerungsfähigen christlichen Grundüberzeugungen bzw. Werten. Sie liegen - gewiss auch mit anderen Wertvorstellungen - unserer Verfassung zugrunde, können aber vom weltanschaulich-neutralen Staat nicht geschaffen werden, der freilich auf sie angewiesen bleibt. Zu diesem Horizont gehören auch die ersten Worte der Präambel unseres Grundgesetzes "Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen ...", die unabhängig von der genaueren Fassung des Gottesgedankens eine "übergreifende Transzendenz" meint (Carlo Schmid), die menschlicher Willkür entzogen ist. Der schulische Religionsunterricht hebt diesen Bezug zu Gott hervor und versucht ihn zu klären. Er tut dies bei einer grundsätzlichen Wahrung der Religionsfreiheit und im Rahmen des Bildungsauftrags der modernen säkularen Schule.
Indem der Religionsunterricht nach den Grundsätzen der jeweiligen Religionsgemeinschaft unterrichtet wird, also "in konfessioneller Positivität und Gebundenheit", leistet er einen umfassenden Ausgleich zwischen der staatlichen Erziehungshoheit und der Garantie der Religionsfreiheit. Die religiöse Neutralität des Staates sowie die gebotene Trennung von Staat und Religionsgemeinschaften werden beachtet.
Mit seinem schulpolitischen Sonderweg verlässt das Land Brandenburg diesen bewährten Konsens des deutschen Staatskirchenrechts. Hier liegt die entscheidende Problematik, die über das konkrete Anliegen von Bildung und Erziehung hinausgeht. Das Verhältnis zwischen Staat und Kirche, das beide Seiten in ihrer Unabhängigkeit und Freiheit respektiert, zugleich ihre Verantwortung in gemeinsamen Aufgaben betont und ihr Zusammenwirken regelt, hat sich in Deutschland über schwierige Zeiten hinweg bewährt und als außerordentlich belastungsfähig erwiesen. Es ist, wie der Vergleich im zusammenwachsenden Europa auf neue Weise deutlich macht, keine veraltete Lösung, sondern ein zukunftsfähiges Modell, das den Vergleich mit anderen Ländern nicht zu scheuen braucht.
4. Wenn manche Befürworter des Brandenburger Modells auf die angebliche Trennung der Sphären von Staat und Kirche in der ehemaligen DDR hinweisen, verkennen sie die historische Realität. Das sozialistische System war gerade nicht durch Neutralität des Staates gegenüber Religion und Kirche, sondern durch ein weltanschauliches Staatsmonopol gekennzeichnet, das der individuellen und korporativen Religionsfreiheit enge Grenzen setzte. Das Unterrichtskonzept für das Fach LER und die Begründungen, mit denen es eingeführt wurde, legen noch immer dieses Verständnis einer umfassenden Zuständigkeit des Staates auch für die inneren Überzeugungen seiner Bürger zugrunde. Auch wenn dies in guter Absicht geschieht, um die nach dem Ende der DDR zurückgebliebene Orientierungslosigkeit zu überwinden, bleibt dieser Ansatz doch grundsätzlich hinter unserer Verfassung zurück, die den Staat in weltanschaulichen Fragen zur Zurückhaltung verpflichtet.
Die Integration der religiösen Erziehung in die öffentliche Schule und die Einbeziehung des Religionsunterrichtes in die von Staat und Kirche gemeinsam verantworteten Angelegenheiten ("res mixtae") hat sich in langer Praxis bewährt. Bis heute zeugt die auf hohem Niveau stabile Teilnahme am konfessionellen Religionsunterricht von der allgemeinen Akzeptanz dieses Faches bei Schülern und Eltern. Eine aktuelle repräsentative Untersuchung von Prof. Dr. Dr. Anton Bucher (Salzburg) "Religionsunterricht zwischen Lernfach und Lebenshilfe" (Stuttgart 2000) hat dies vor kurzem noch einmal wissenschaftlich dokumentiert. Diese Anerkennung beruht darauf, dass der Religionsunterricht ein modernes Unterrichtsfach ist, das in seiner wissenschaftlichen Fundierung, seiner curricularen Didaktik und insbesondere auch mit der Qualifikation seiner Lehrer nicht hinter den anderen Schulfächern zurücksteht. Der Religionsunterricht ist kein Fremdkörper in der modernen Leistungsschule. Für kaum ein Schulfach ist eine ähnliche Reflexion geleistet worden. Leider wird diese hohe theoretische und praktische Qualifikation des Religionsunterrichtes mit seinen Wandlungen oft nicht genügend beachtet und immer wieder mit veralteten Zerrbildern verstellt.
5. Der schulische Religionsunterricht ist nicht der einzige Ort, wo der christliche Glaube an die kommenden Generationen weitergegeben wird. Es gibt viele und verschiedene "Lernorte des Glaubens", wie z. B. die Familie, der Kindergarten, die Jugendgruppe und die Jugendarbeit überhaupt, die Gemeindekatechese, das vielfältige Leben der Gemeinde selbst. Die Medien kommen hinzu. Jeder Lernort hat seine spezifische Leistungsfähigkeit, seine Aufgabe und seine Chance.
Der Ort des Religionsunterrichtes ist die Schule. Der Religionsunterricht soll zuerst der Bildung und Erziehung des jungen Menschen dienen, damit dieser sein Leben mit allen Aufgaben, Veränderungen und Krisen im Licht des Glaubens selbst verstehen, gestalten und bewältigen kann. Der schulische Religionsunterricht darf also nicht zuerst oder gar allein - wie man meint - als "Zulieferer religiösen Nachwuchses" verstanden werden. Er zielt primär auf eine selbständige Kenntnis des christlichen Glaubens, was ohne Auseinandersetzung mit ihm, ohne Offenheit zu den anderen christlichen Kirchen und zum Judentum, ohne das Gespräch mit den nicht-christlichen Religionen kaum möglich ist. Dies erfolgt durch eine rationale, gesprächsoffene Argumentation, die selbstverständlich den einzelnen Schularten und Altersstufen entsprechen muss.
Der Religionsunterricht gehört so auch in den Kanon der verschiedenen Fächer und ihrer Zusammenarbeit. Der Umgang mit der Geschichte und Kultur unseres Landes und Europas verlangt ein Minimum an Kenntnis wenigstens der Grundlagen der christlichen Religion. In diesem Sinne erfüllt der Religionsunterricht auch einen wichtigen Dienst für andere Fächer und die Schule überhaupt. Dies gilt besonders auch für eine Humanisierung der Schule (vgl. Bedeutung der Schulseelsorge).
In dieser Perspektive ist es verständlich, dass auch nicht-getaufte Schülerinnen und Schüler am schulischen Religionsunterricht teilnehmen. Dies ist in den neuen Bundesländern, wie Prof. A. Bucher z. B. für den Großraum Dresden nachgewiesen hat, in einem überraschenden Maß der Fall.
6. Das umschriebene Erziehungsziel wird entscheidend verkürzt, wenn die religiöse Dimension eliminiert oder aus ihrem authentischen Kontext herausgelöst wird. Religiöse Bildung und Erziehung kann nicht zureichend aus der Perspektive der Distanz als bloße Information vermittelt werden. Die Bindung des Religionsunterrichts an ein bestimmtes Bekenntnis, d. h. an eine identifizierbare Kirche oder Religionsgemeinschaft, ist deshalb keine einschränkende Fessel, sondern eine notwendige Grundlage für das Gelingen seines pädagogischen Auftrags. Der Glaube erhebt auch einen geistigen Anspruch und verantwortbare Geltung für die Gegenwart. Dafür bedarf es auch einer konkreten Glaubensgemeinschaft (vgl. Konfessionsbegriff).
Die These, dass dieser Auftrag durch die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung hinfällig oder zumindest grundlegend verändert worden sei, wird der Wirklichkeit nicht gerecht. Religion und Glaubensbekenntnis sind auch heute in unserem Land keineswegs das Anliegen von Minderheiten, das allein der privaten Sphäre überlassen werden könnte. Dies gilt nicht nur für die alten Bundesländer. Die religiöse Überzeugung ist immer noch in weiten Teilen eine vitale und prägende Kraft des individuellen und politischen Lebens. In den öffentlichen Debatten z.B. über Gentechnik und Bioethik, Ehe und Familie, Integration von Menschen aus anderen Kulturen und bei vielen anderen Themen tritt dies deutlich zu Tage. Die historische Entwicklung hat in den neuen Bundesländern die erklärte Konfessionszugehörigkeit stark reduziert. Aber sie hat die Menschen in ihrer Mehrheit nicht schlechthin areligiös oder gar antireligiös gemacht. Das Interesse von nichtgetauften Schülern am evangelischen und katholischen Religionsunterricht - selbst in Brandenburg, wo er bisher ein kirchliches Angebot ist - spricht hier für sich.
Die Einführung des Religionsunterrichts als ordentliches Lehrfach an den brandenburgischen Schulen ist deshalb nicht nur ein verfassungsmäßig verbürgtes Gebot, sondern eine zukunftsorientierte Entscheidung im Dienst der künftigen Generationen. Das Fach LER kann ihn schlechthin nicht ersetzen. Die Monopolstellung von LER lässt sich nicht rechtfertigen.

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