| Aktuelle Meldung | Nr. 007

Triage

Medizinische Allokationsprobleme angesichts der Covid-19-Pandemie in ethischer Beurteilung

Angesichts der öffentlichen Debatte um mögliche medizinethische Entscheidungskonflikte, wenn infolge der Covid-19-Pandemie die intensivmedizinischen Behandlungskapazitäten nicht mehr für alle Patienten ausreichen, hat das Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz eine Argumentationsskizze erarbeitet, die den Leserinnen und Lesern helfen kann, die Problematik, auch in ihrer ethischen Gewichtung und Orientierung, zu vertiefen.

1.    Die Covid-19-Pandemie führt zu Situationen und Problemstellungen, die die gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen offensichtlich schnell an den Rand ihrer Möglichkeiten der Daseinsvorsorge bringen. Eines der zentralen Probleme ist dabei die erhebliche Überlastung der Gesundheitssysteme angesichts der mit der Pandemie einhergehenden Notwendigkeit intensivmedizinischer Versorgung. Die Situation in Ländern wie Italien und Spanien führt drastisch vor Augen, wie sich diese Dynamik innerhalb von Tagen zuspitzt, wenn es nicht gelingt, die Ausbreitungsgeschwindigkeit durch Kontaktreduktion so zu verlangsamen, dass der Aufbau zusätzlicher intensivmedizinischer Kapazitäten einigermaßen Schritt halten kann. Es kommt dann unweigerlich, auch bei den an sich sehr guten intensivmedizinischen Grundbedingungen in Deutschland, zu einer eklatanten Knappheit der Ressourcen für die Behandlung schwerer Verläufe von Covid-19. Mehrere namhafte medizinische Gesellschaften haben aus gegebenem Anlass gemeinsame Handlungsempfehlungen für den Fall herausgegeben, dass auch in deutschen Kliniken aufgrund der Covid-19-Pandemie mehr Patienten eine intensivmedizinische Beatmung benötigen als Beatmungsgeräte zur Verfügung stehen.(1)  Auch der Deutsche Ethikrat hat sich mittlerweile zu dieser Thematik geäußert.(2)

2.    Im Fall dieses erdrückenden Ungleichgewichts von Behandlungsbedarfen und Behandlungsressourcen ist die ärztliche Heilkunst gezwungen, in Analogie zum Notfall-Instrumentarium der „Triage“ (frz. „Sichtung, Sortierung, Auswahl“) zu handeln. Dieses Prinzip hat seinen Ursprung und seinen üblichen Einsatzbereich in der Kriegs- und Katastrophenmedizin. In Abwandlung wird die Triage auch im Bereich der klinischen Notaufnahme angewandt, um mit temporären Überlastungssituationen umzugehen. Es handelt sich dabei um, je nach Anwendungsbereich und örtlichen Gegebenheiten verschieden gestaltete, Einteilungsschemata und -methodiken, die dazu dienen, angesichts nicht ausreichender medizinischer Möglichkeiten die Überzahl an behandlungsbedürftigen Patienten nach einer ersten Sichtung in Dringlichkeitskategorien einzuteilen und dadurch so viele Leben zu retten wie möglich. In der Regel sind dabei Schemata mit drei bis fünf Einteilungsgruppen im Einsatz.

3.    Bei der Übertragung dieses Instrumentariums auf die aktuelle Pandemie-Situation ergeben sich allerdings auf medizinischer Ebene eine Reihe von Problematiken, die mit den Spezifika von Covid-19 zu tun haben. Anders als bei den Verletzungen infolge eines Großschadensereignisses oder bei der Bedarfseinschätzung in einer Notaufnahme kann hier nicht auf evaluierte Einteilungskriterien zurückgegriffen werden. Es gibt bisher nur sehr wenige Erfahrungen mit den Symptomen, Krankheitsbildern und typischen Verläufen dieser neuartigen Krankheit. Die Progression der Verläufe ist sehr hoch. So hat man in Italien bei letalen Verläufen eine durchschnittliche Dauer von acht Tagen zwischen den ersten Symptomen und dem Eintritt des Todes konstatiert. Daraus ergibt sich ein zeitlich denkbar knapper Beurteilungsspielraum. Verschärfend kommt hinzu, dass es beim Eintreten erster Symptome noch nicht möglich ist, einen schweren oder leichten Verlauf zu prognostizieren. Gleichzeitig gibt es, da es sich um große Zahlen von Patienten mit derselben Krankheit handelt, auch kaum Behandlungsalternativen. Schwere Verläufe erfordern durchgehend die nahezu gleiche intensivmedizinische Behandlung, die dann zu den intensivmedizinischen Bedarfsfällen des Regelbetriebs noch hinzukommen. Das alles verschärft das eklatante Ungleichgewicht von Behandlungsbedarf und Behandlungsressourcen. Es gibt dann faktisch deutlich zu wenige Beatmungsgeräte, um alle beatmungsbedürftigen Patienten adäquat zu behandeln. Die Triage steht damit vor der alternativlosen Entscheidung über Leben und Tod.

4.    In medizinethischer Beurteilung bedeutet die Triage zunächst ein akut situationsbedingtes Aussetzen des Grundsatzes der Gleichbehandlung aller Patienten: In Konsequenz der Triage wird den einen Patienten eine Behandlung zuteil, die den anderen vorenthalten bleibt, weil sie faktisch nicht erbracht werden kann. Für die behandelnden Ärzte gilt hier der Grundsatz, dass niemand zu Unmöglichem verpflichtet sein kann, wie auch der Deutsche Ethikrat festgestellt hat. Wirft man einen Blick auf die allgemein anerkannten Prinzipien der medizinethischen Praxis: Respekt vor Selbstbestimmung (autonomia), Nicht-Schaden (primum nil nocere), Gutes tun (bonum facere) und Gerechtigkeit (iustitia), dann zeigt sich, dass von der Triage alle vier Prinzipien beeinträchtigt werden. Es handelt sich also bei der Triage um einen erheblichen Eingriff in die medizinischen Standards, der deshalb in höchstem Maß begründungspflichtig ist. Dabei gilt, dass die genannten Prinzipien ihre Gültigkeit auch in der Krisensituation nicht einfach verlieren, sondern soweit wie möglich realisiert werden müssen. Das bedeutet konkret: Auch in der Krisensituation darf niemand mit „sanftem Druck“ zum „freiwilligen“ Behandlungsverzicht bewogen werden. Der Schaden, der entsteht, indem Patienten die optimale Behandlung nicht zuteilwerden kann, ist nach Möglichkeit durch eine Ersatzbehandlung zu begrenzen (also etwa Palliativversorgung anstelle von intensivmedizinischer Behandlung). Das Gute, das trotz begrenzter Hilfemöglichkeiten erreicht werden kann, soll gerade durch die Triage noch ermöglicht werden. Die Gerechtigkeit, die nicht mehr im Sinn der gleichen Heilbehandlung für alle erreicht werden kann, ist zumindest auf der Ebene der strikten Einhaltung gleicher Zuteilungskriterien für alle Patienten zu wahren.

5.    Die Triage ist der Versuch, in einer akuten Notsituation die unzureichenden Hilfsmöglichkeiten unter der Prämisse, so viele Leben wie möglich zu retten, nach rationalen Kriterien zuzuteilen. Die Triage muss daher ethisch unter dem Aspekt der Ultima Ratio betrachtet werden. Es handelt sich nach Ausschluss aller anderen Alternativen um ein letztes Mittel, so rational wie möglich vorzugehen, um so viel Humanität und Leben zu bewahren, wie es die Situation zulässt. Das schließt die Verpflichtung ein, die Ultima-Ratio-Situation durch Sicherstellung der medizinischen Versorgung auch im Hinblick auf Not- und Katastrophenfälle so gut wie möglich zu vermeiden.

6.    Entscheidende Bedeutung kommt bei dieser Anwendung der Triage zwei miteinander zusammenhängenden Aspekten zu: Den Verteilungskriterien für die medizinische Behandlung und der diesen zugrundeliegenden Begründungslogik des gesamten Verfahrens.

Hinsichtlich der Kriterien ist zunächst klar, dass alle Kriterien, die außerhalb der streng medizinischen Beurteilung der jeweiligen Fallkonstellationen liegen, von vorneherein ausscheiden müssen. Es darf also keinesfalls nach Lebensalter, Geschlecht, körperlicher oder geistiger Behinderung, Stand, ökonomischer Potenz, Bekanntheitsgrad oder sonstigen Kriterien entschieden werden. Schwieriger wird es bei dem Aspekt, der in aktuellen Diskursen mit dem Begriff der „Systemrelevanz“ bezeichnet wird. Bei strenger Anwendung medizinethischer Kriterien dürfen demnach z. B. auch Angehörige des Gesundheitssystems selbst nicht allein aufgrund dieser Eigenschaft vorgezogen werden. Auch sie unterliegen der ausschließlich medizinischen Beurteilung. Anderenfalls ist einer utilitaristischen Beurteilung unter dem Aspekt des zu erwartenden gesellschaftlichen Nutzens Tür und Tor geöffnet. Das aber verbietet sich angesichts des Grundsatzes, dass jedes Leben gleich wertvoll ist und Menschenleben nicht gegeneinander abgewogen werden dürfen.

Die medizinischen Kriterien selbst lassen sich in die beiden Kategorien Behandlungsbedürftigkeit (Dringlichkeit) und Prognose (therapeutische Erfolgsaussichten) einteilen. Hier ist eine Abwägung erforderlich. Während in einer Situation ausreichender Ressourcen der Blick besonders auf den Aspekt der Bedürftigkeit fällt, verlagert sich bei der Triage der Fokus stärker in Richtung Prognose. Allerdings ist hier aus ethischer Perspektive Vorsicht geboten. Die klassische Maßgabe für die Triage, so viele Leben wie möglich zu retten, kann aufgrund ihrer Ähnlichkeit zur utilitaristischen Maxime vom „größten Glück der größten Zahl“ (J. Bentham) dazu verleiten, einzig auf den Aspekt der Prognose zu schauen. Das aber würde unweigerlich bedeuten, junge, nicht vorerkrankte Patienten mit leichterem Verlauf gegenüber älteren vorerkrankten Patienten bei der Intensivbehandlung vorzuziehen, weil erstere ja die deutlich bessere Prognose haben. Zudem käme dann in einem utilitaristischen Kalkül schnell der Aspekt des größeren erwartbaren künftigen Beitrags zum gesellschaftlichen Gesamtnutzen. Dass sie auch ohne Intensivbehandlung eine immer noch gute Prognose haben, fiele dann weniger oder gar nicht ins Gewicht. Eine Triage nach solchen Kriterien aber muss in ethischer Perspektive klar verworfen werden. Sie widerspräche dem ärztlichen Ethos von Grund auf. Dies hat auch der Deutsche Ethikrat in seiner Stellungnahme klar herausgestellt. Dennoch hat etwa die Italienische Gesellschaft für Anästhesie, Analgesie, Reanimations- und Intensivmedizin (SIAARTI) kürzlich eine Empfehlung herausgegeben, die einzig auf die beiden Prognose-Aspekte Überlebenswahrscheinlichkeit und erwartbare Jahre geretteten Lebens abstellt. Notwendig ist hingegen eine auf die Person des Patienten bezogene individuelle Entscheidung in Kombination von Bedürftigkeit und Prognose, wobei die unvermeidbare Härte darin besteht, dass eine zu schlechte Prognose auch bei erheblicher Bedürftigkeit von der Behandlung ausschließt.

Deutlich anschlussfähiger als ein rein utilitaristisches Nutzen-Kalkül erweist sich hier eine gerechtigkeitstheoretische Begründungslogik. Diese geht davon aus, dass die Kriterien in einer Weise aufgestellt werden müssen, die unabhängig von eigener Betroffenheit vernünftigerweise für alle zustimmungsfähig sind. Eine durchaus vergleichbare und daher in gewisser Analogie anwendbare Kriteriologie gibt es in unserem Gesundheitssystem bereits bei der Vergabe von Spenderorganen. Auch hier ist es eine Kombination aus Bedürftigkeit und Prognose, die für die Entscheidung herangezogen wird, wenngleich hier der Aspekt der Bedürftigkeit bzw. Dringlichkeit stärker gewertet wird, als es in den anstehenden Triage-Situationen möglich sein dürfte. Daran müsste man sich orientieren, um etwa eine altersdiskriminierende bloße Orientierung am Lebensalter der Patienten zu vermeiden.

7.    Von der Frage der Zuteilung intensivmedizinischer Versorgung zu unterscheiden ist die Frage des Abbruchs der Maßnahmen. Hier gilt festzuhalten, dass einerseits bei länger andauernden Behandlungen anhand einschlägiger medizinischer Parameter zu überprüfen ist, ob das ursprüngliche Behandlungsziel weiterhin erreichbar erscheint oder ob dieses aufgrund einer Verschlechterung der Gesamtsituation verändert und damit die aktuelle Behandlung abgebrochen werden muss. Andererseits ist es aber abzulehnen, eine aussichtsreiche Behandlung abzubrechen, etwa weil ein weiterer Patient mit noch besserer Prognose hinzugekommen ist.

Eine Rolle im aktuellen Zusammenhang spielen auch die Patientenwünsche, die etwa im Rahmen einer Patientenverfügung dokumentiert werden. Ist der Behandlungsverzicht im Hinblick auf intensivmedizinische Behandlung aus freier Entscheidung gewünscht, ist dieser Willensbekundung Folge zu leisten. Zu beachten ist dabei, ob der Verzicht kategorisch oder in Abhängigkeit von der Prognose besteht.

8.    Die Behandlungsteams der Kliniken sind durch die gegenwärtigen Herausforderungen hohen physischen und psychischen Belastungen ausgesetzt. Die dilemmatischen Entscheidungssituationen, in die sie dabei geraten können, verschärfen diese Situation zusätzlich. Auch sie bedürfen daher des Schutzes und der Begleitung. Unterstützende Angebote bestehen durch klinische Ethikkomitees vor Ort. Krankenhausseelsorgerinnen und -seelsorger stehen stets nicht nur für die Patientinnen und Patienten und deren Angehörige, sondern auch für Ärzte und Pflegekräfte als Ansprechpersonen zur Verfügung. Insbesondere durch den Dienst der Krankenhausseelsorge will die Kirche dort sein, wo Not ist und den Menschen in diesen schwierigen Zeiten Nähe, mitmenschliche Solidarität und spirituellen Rückhalt anbieten.

9.    Fazit: Die Triage im Fall einer unüberbrückbaren Kluft von medizinischen Ressourcen und Behandlungsbedarf in Folge einer pandemischen Überlastung des Gesundheitssystems ist im Sinn einer Ultima Ratio zulässig, gerechtfertigt und sogar geboten. Allerdings gelten dafür strenge Rahmensetzungen. So sind bereits im Vorfeld alle alternativen Möglichkeiten auszuschöpfen. Dies gilt insbesondere für die staatlich verantwortete Vorsorge, die darauf ausgerichtet sein muss, die einzelne behandelnde Ärztin und den einzelnen behandelnden Arzt möglichst niemals in die Situation zu bringen, im Rahmen einer Triage über Leben und Tod der Patienten entscheiden zu müssen. Ist die Triage unvermeidbar, ist es aus ethischer Sicht von höchster Bedeutung, sie in streng limitiertem Rahmen nach den etablierten Regeln der ärztlichen Heilkunst, den Grundsätzen der Medizinethik und des ärztlichen Berufsethos durchzuführen. Als Entscheidungskriterien kommen ausschließlich medizinische Aspekte in Betracht, insbesondere aber die Behandlungsbedürftigkeit und die Prognose, die sorgfältig individuell abgewogen werden müssen. Unethisch und abzulehnen sind äußere Kriterien wie etwa das Lebensalter oder das Geschlecht, insbesondere soziale Kriterien wie Stellung, Bekanntheitsgrad, ökonomische Aspekte oder auch „Systemrelevanz“. Unerlässlich ist es auch, alle Patienten, die zum Zeitpunkt der Überlastung eine intensivmedizinische Behandlung benötigen, in die Triage einzubeziehen und diese nicht nur auf die Personen mit Covid-19 zu begrenzen. Zuletzt handelt es sich bei der Entscheidung um ein unausweichliches Urteil des behandelnden Arztes (das auch nicht einem Algorithmus überlassen werden darf). Dem besonderen Verdienst des medizinischen Personals, das hier in schwieriger Situation nach bestem Wissen und Gewissen handelt, gebührt allgemeine Anerkennung. Außerdem bedarf es der psychosozialen und seelsorgerlichen Begleitung. Nach Bewältigung einer solchen Situation ist stets nicht nur kritisch zu evaluieren, ob die Prinzipien richtig angewandt wurden, sondern auch, auf welche Weise ein erneutes Eintreten dieser Ultima-Ratio-Situation zukünftig möglichst verhindert werden kann.

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(1)  „Entscheidungen über die Zuteilung von Ressourcen in der Notfall- und der Intensivmedizin im Kontext der COVID-19-Pandemie. Klinisch-ethische Empfehlungen“ der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), der Deutschen Gesellschaft für Interdisziplinäre Notfall- und Akutmedizin (DGINA), der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI), der Deutsche Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN), der Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin (DGP), der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) und der Akademie für Ethik in der Medizin (AEM). Von den Fachgesellschaften verabschiedete Fassung vom 25. März 2020.

(2)  „Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise“ Ad-hoc-Empfehlung des Deutschen Ethikrats vom 27. März 2020.

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