Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen Kann Kirche Politik möglich machen? Wissenschaftliche Studientagung in Bad Honnef 1./2. Oktober 1998 / herausgegeben vom Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Kaiserstr. 163, 53113 Bonn / erschienen in der Reihe: Die deutschen Bischöfe : Kommissionen Nr. 21 ------------------------------------------------------------------------------------- Vorwort "Die Kirchen wollen nicht selbst Politik machen, sie wollen Politik möglich machen" (Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Ziff. 4). Diese programmatische Aussage aus dem gemeinsamen Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland (1997) wirft weitreichende Fragen auf bezüglich Rolle und Aufgaben der Kirchen in der modernen Gesellschaft: Wie ist der Ort der Kirchen im Feld zwischen Politik und Gesellschaft zu bestimmen? Welche Möglichkeiten haben die Kirchen, Verantwortung für eine gerechtere Gestaltung der gesellschaftlichen Prozesse wahrzunehmen? Welche Konsequenzen erwachsen den Kirchen und der theologischen Sozialethik aus einer solchen politisch-ethischen Neubestimmung? Diese und weitere Fragen zur Standortbestimmung des Christentums, der christlichen Sozialethik in dieser Gesellschaft nach dem Konsultationsprozeß und dem gemeinsamen Wort der Kirchen waren Gegenstand einer wissenschaftlichen Studientagung der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz (VI) in Bad Honnef am 1. und 2. Oktober 1998. Ihre Ergebnisse sind in der vorliegenden Schrift dokumentiert. Ich danke allen, die an dieser Tagung mitgewirkt haben und wünsche mir, daß unsere Diskussion in dieser Form in regelmäßigen Abständen weitergeführt wird. Dr. Josef Homeyer, Bischof von Hildesheim Vorsitzender der Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen der Deutschen Bischofskonferenz (VI) ------------------------------------------------------------------------------------- Inhaltsverzeichnis Bischof Dr. Josef Homeyer: Eröffnung der wissenschaftlichen Studientagung 7 Analyse der öffentlichen Rezeption des Kirchenwortes Dr. David Seeber: Einführungsreferat 11 Diskussion 28 Gesellschaftspolitische Gegenwartsdiagnosen 35 Prof. Dr. Carl Christian von Weizsäcker: Krise des Sozialstaates 35 Prof. Dr. Michael Zöller: Was kann die christliche Sozialethik zur politischen Willensbildung beitragen? - Kritische Anfragen an das gemeinsame Wort 51 Diskussion 60 Kirche im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 73 Prof. Dr. Helmut Dubiel: Der utopische Realismus der Demokratie 73 Diskussion 84 Prof. Dr. Michael Ebertz: Kirche im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 89 Diskussion 102 Podiumsdiskussion: Entwicklungsperspektiven der katholischen Sozialethik und Zukunftsmöglichkeiten einer sozialethischen "Einmischung" in gesellschaftliche Prozesse 109 Ekklesiologische Reflexion des Vorgehens mit Bezug auf das Kirchenwort 147 Prof. Dr. Jürgen Werbick: Partizipation und Subsidiarität 150 Prof. Dr. Ilona Riedel-Spangenberger: Theologische Prinzipien und kirchenrechtliche Bestimmungen zum sozial-politischen Engagement der Kirche 163 Diskussion 195 Wortmeldungen zur Veranstaltung insgesamt 204 Bischof Dr. Josef Homeyer: Schlußwort 208 ------------------------------------------------------------------------------------- Kann Kirche Politik möglich machen? Bischof Dr. Josef Homeyer: Eröffnung der wissenschaftlichen Studientagung Sehr geehrte Damen und Herren, herzlich begrüße ich Sie zu unserer wissenschaftlichen Studientagung hier im Katholisch-Sozialen Institut der Erzdiözese Köln. "Die Kirchen wollen nicht selbst Politik machen, sie wollen Politik möglich machen." Dieser Anspruch aus dem Gemeinsamen Wort der Kirchen steht in den beiden Tagen auf dem Prüfstand soziologischer, sozialethischer, politiktheoretischer und theologischer Vergewisserung. Auch selbstkritisch haben wir uns die Frage vorgelegt: Kann Kirche (denn) Politik möglich machen? Auf dieser Frage liegt theologisches Gewicht. Denn sollte je die Aussage gelten, Kirche könne Politik nicht möglich machen, wäre damit ihre Sendung, ihr gesellschaftliches und geschichtliches "Worumwillen", in Gefahr. Sie ist ja nicht für sich selbst da; deshalb schärft das II. Vaticanum definitorisch ein, daß die Kirche ihrem Wesen nach nichts anders sei als gleichsam das Sakrament, also das Zeichen und Werkzeug der Zuwendung Gottes zur Welt. Diese Welt ist aber eben nicht nur die personal-existentielle einer nach den konfessionellen Auseinandersetzungen des 16. und 17. Jahrhunderts bescheiden gewordenen, leviathanisch privatisierten Religion, sondern es ist vor allem auch die Welt der Gefährdung und Bewährung gesellschaftlichen Wohlwollens, des öffentlichen Diskurses um das Gemeinwohl mithin, des öffentlichen Diskurses um die Partizipation aller an den Grundgütern der Gesellschaft, des Diskurses um eine - rechtlich und wirtschaftlich - wohlgeordnete, weltweit und nachhaltig tragfähige Gesellschaft: eine politische Welt also. Unsere Weltsendung als wirksame Veranschaulichung der Zuwendung Gottes ist deshalb notwendig in einem spezifischen Sinn eine politische. In einem spezifischen Sinn! - die politische Sendung der Kirchen erschließt sich aus der theologischen, nicht umgekehrt, wie Johann Baptist Metz zu Recht betonte. Diesen theologisch-politischen Richtungssinn kirchlicher Weltsendung gilt es sensibel und klar abgegrenzt auszuweisen, will man jakobinischem Rigorismus und fundamentalistischer Verlockung ebenso wehren, wie der vorauseilenden Sanktionierung des jeweiligen status quo. Dieser Ausweis ist zentrale Aufgabe der christlichen Sozialethik, der darin - für die sakramentale Sendungskirche des Konzils - eine ekklesiologische Schlüsselstellung zukommt: Sie hat argumentativ und kommunikativ dafür einzustehen, daß die Zuwendung Gottes zur Welt politisch eine Kirche meint als Institution gesellschaftskritischer Freiheit, für Solidarität und Gerechtigkeit. I. Welche Theologie, welche Ermöglichung von Politik? Diese Fragen werden auf unserer Studientagung abzuarbeiten sein; zwei theologische Markierungen seien hier nur kurz einleitend benannt: 1. Von der Communio-Ekklesiologie des Konzils her: Ohne Frage ist die Kirche der erste Ort ihrer Sozialethik. Kirchliche Sozialethik gründet in der Gotteserinnerung der Eucharistie, die eine diakonische Hoffnungsgemeinschaft anstiftet. Diese mystische Verwurzelung der Sozialethik, auf die die Politische Theologie von Metz immer wieder pocht, darf jedoch nicht in selbstgekrümmte Abschottung umgemünzt werden. Kirche ist der erste Ort der Sozialethik, nicht der exklusive. Die kirchlich-eucharistische Communio wird also für gesellschaftliche Communio einstehen. Freilich nicht in einem vormodernen-romantischen Sinn der Vergemeinschaftlichung. Es geht ihr aus der eigenen Communio-Erfahrung um das Engagement für ein Modell der Öffentlichkeit als Ermöglichung von Politik. Dem Konsultationsprozeß, der dem Gemeinsamen Wort nicht äußerlich, sondern theologisch verbunden ist, kommt deshalb zentrale Bedeutung für die "Entwicklungsperspektiven der katholischen Sozialethik und Zukunftsmöglichkeiten einer sozialethischen "Einmischung" in gesellschaftliche Prozesse" zu. Da der Konsultationsprozeß sich weniger aus steilen Diskurstheorien Habermasscher Prägung als eben aus eucharistischer Communio-Erfahrung begründet, ist eine drängende Frage in bezug auf die Ermöglichung von Politik: Wie kann zukünftig die Konsultation wissenschaftlicher Sachkompetenz mit der "Graswurzel-Konsultation" (Benjamin Barber) der Gemeinden und Verbände strukturell zusammengehalten und kommunikativ vernetzt werden, wenn nicht danach, daß die Communio der Gemeinden und der sozialethische Diskurs sich wirklich als eucharistisch gegründete und durchprägte, also in die gesellschaftlich-politische Diakonie herausgerufene verstehen? Nur so kann die in Ansätzen im Gemeinsamen Wort aufgenommene Diskussion um Zivilgesellschaft und Sozialkultur vorangetreiben und vertieft werden. 2. Von der christlichen Anthropologie her: Etwas überrascht haben wir nach der Veröffentlichung des Gemeinsamen Wortes zur Kenntnis genommen, welche hohe Aufmerksamkeit das 3. Kapitel "Impulse aus dem christlichen Glauben" gefunden hat. Dieses Interesse speist sich eher weniger aus religiösen als vielmehr aus politischen Motiven. Es gibt offenbar ein Gespür dafür, daß für die Politikfähigkeit einer Gesellschaft metaphysische Fragen nicht so ausgeklammert werden können, wie es liberale Gesellschaftsvertragstheorien bisher unterstellt haben. Denn die Formel für den Liberalismus etwa John Rawls "politisch - nicht metaphysisch" kommt da an ihre Grenzen, wo moderne Gesellschaften ihre Konsense mit den Mitteln ökonomischer Steuerung und verfahrensrechtlich allein nicht mehr einlösen können. Die vollends verrechtlichte Gesellschaft verliert, wie sich zeigt, die Dynamik ihrer Solidarität und ihrer Effizienz. Steuerungsprobleme lassen sich offensichtlich nicht schlicht durch instrumentelle Verfeinerung lösen, sondern bedürfen auch der Debatte grundlegender Orientierungsfragen. Wer dann aber fragt "In welcher Gesellschaft wollen wir leben?" - und genau diese Frage wird im Gemeinsamen Wort unter den Leitworten "Grundkonsens", bzw. "Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft" politisch eingebracht - kommt um die Frage nach dem Menschen, also dem für eine zukunftsfähige, gerechte und effiziente Gesellschaftsordnung vorauszusetzenden Menschenbild nicht herum. Die Kernkompetenz der Kirche aus ihrer Glaubensüberlieferung hat für diese orientierende "Ermöglichung von Politik" Gewicht. Das gilt allerdings nur dann, wenn diese gesellschaftlich-anthropologische Herausforderung von den Kirchen in ihrer Sozialethik auf "Sozialprinzipien" und "ökonomische Sachlichkeit" konkretisierend übersetzt werden kann. Die politische Öffentlichkeit läßt sich wohl kaum auf ontologische Grundsatzdebatten ein. Eine zentrale Herausforderung an unsere Sozialethik besteht darin, "unter dem Faktum des Pluralismus" Formen der Verkündigung zu entwerfen, in denen grundlegende Orientierungsfragen politisch kommuniziert werden können. Die theologische Bedeutung unserer Studientagung möchte ich abschließend in Anlehnung an ein Bild Adornos so kennzeichnen: Die Sozialethik formuliert heute - auch in diesen beiden Tagen - gleichsam jene "Personalausweise" oder "Identitätskarten" des Christentums, die die verstärkte Marginalisierung christlicher Traditionen in säkularer Gesellschaft durchbrechen lassen. Sozialethik enthält das Paßbild und die unverwechselbare Unterschrift, mit deren Hilfe die öffentliche Identität der Kirchen festgestellt wird. Vor allem mit dieser Identitätskarte unserer Sozialethik ist das Wort von der Sakramentalität der Kirche gegenwärtig kulturell und politisch relevant als Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenhalt (1) und zur grundlegenden Orientierung (2) unter völlig neuen Rahmenbedingungen, die unter den Überschriften "Globalisierung", "Individualisierung" oder auch "Digitalisierung" diskutiert werden. ------------------------------------------------------------------------------------- Analyse der öffentlichen Rezeption des Kirchenwortes Dr. David Seeber: Einführungsreferat Rezeption ist ein bekanntlich ein sehr komplexes, unter Umständen intrikates Geschehen. Wie eine bestimmte Botschaft aufgenommen wird und ob sie bei den Adressaten überhaupt ankommt, hängt ganz von den Umständen, im Beamtendeutsch von den Rahmenbedingungen ab, unter denen sie veröffentlicht und verbreitet wird. An ganz eminenter Stelle gehören dazu die Sichtweisen und Interessenlagen derer, die sich mit der Kommentierung und Umsetzung befassen. Gilt das schon ganz allgemein, so für kirchliche Botschaften zu wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, kulturellen, also lauter weltlichen Sachverhalten erst recht. Den Kirchen wird, ob man zu ihnen als Glaubensgemeinschaften einen Bezug hat oder keinen, eine hohe moralische Autorität zuerkannt. Der öffentlich-rechtliche Status der Kirchen in Deutschland ist der institutionelle Ausdruck dafür. Weil man ihnen hohen Respekt zollt, und dies Teil des öffentlichen Umgangs mit ihnen ist, will man es mit "den Kirchen" nicht verderben. Auf keinen Fall, keine politische Richtung und erst recht keine Partei möchte das, jedenfalls gegenwärtig. Vielmehr demonstriert man Übereinkunft, soweit dies möglich ist; und wo das nicht möglich ist, wird sortiert: Was schadet uns eventuell, was ist ganz oder wenigstens halb in unserem Sinne? Was paßt, wird herausgestellt, das übrige verschwiegen oder schlicht ignoriert. Dabei können die Reaktionen von Partei zu Partei, von Verband zu Verband trotzdem ganz verschieden sein, je nachdem eine Partei oder ein Verband nach Weltbild und Tradition den Kirchen verbunden ist oder ihnen eher fernsteht, aber Übereinstimmungen in politischen oder Sachfragen feststellt. Da liegt es dann nahe, in den Kirchen an Hand der Botschaft Verbündete zu suchen. Das alles geschieht natürlich in einen sehr "weltlichen" Rahmen zu sehr pragmatischen Zwecken, aber keineswegs mit für die Kirchen zwingend negativem Ausgang. Mit Grünen und Sozialdemokraten kommt man so in ein intensiveres Gespräch, als es bislang der Fall war: Man lernt sich und die jeweiligen Positionen besser kennen, kann die Haltbarkeit der gegenseitigen Argumente prüfen: Das schafft nicht Gemeinschaft, aber fördert den konstruktiven Gedankenaustausch und die gegenseitige Achtung auch dort, wo man nicht übereinkommt. Und diejenigen, die den Kirchen durch Tradition und Weltbild verpflichtet sind, aber mit einzelnen Sachaussagen oder auch mit der Grundrichtung einer bestimmten Botschaft ihre Probleme haben, können auch nicht ,auf Dauer' verdrängen, was ihnen wider den Strich geht, müssen sich allein schon deswegen damit auseinandersetzen, weil der politische Gegner sie dazu zwingt. Es sieht ganz danach aus - erstes erfreuliches Ergebnis der öffentlichen Rezeption des "Gemeinsamen Wortes der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage", daß sich diesbezüglich bereits einiges bewegt hat, zumindest was das politische Klima im Verhältnis zu den Kirchen betrifft. Allerdings nur als ein herausgehobenes Moment in einem schon länger stattfindenden Prozeß. Einfacher und schwieriger zugleich gestaltet sich die öffentliche Rezeption des Gemeinsamen Wortes offensichtlich im vorpolitischen Raum. Auch dort gibt es die üblichen Aussortierungen bei Gewerkschaften, Verbänden, auch bei den "kircheneigenen": Was ist für uns hilfreich, was kommt uns in die Quere, wo werden wir unter Umständen desavouiert und wo finden wir eine Stütze? Auch da können zwar keine "strategische Allianzen" begründet, aber doch neue Gesprächsfäden geknüpft und alte verstärkt werden. Aber Sach- wie Machtargumente kommen in diesem Raum weit unvermittelter zum Zuge. Man braucht nicht allzuviel Rücksicht zu nehmen auf Wahltage und politische Klientel. Man prüft deswegen schon genauer: Trägt die Botschaft in der Sache? Ist das Konzept sozialer Gerechtigkeit, wie es das Gemeinsame Wort entfaltet, stimmig? Welche Realitäten werden mit einer bestimmten Armutsdefinition getroffen oder verschleiert? Oder wie zukunftsträchtig sind die Vorschläge zur Reform der Rentenversicherung, und ist zur Sozialen Marktwirtschaft wirklich alles gesagt, was sich dazu sagen läßt oder dazu gesagt werden müßte? Daß es auch dabei nicht unparteiisch zugehen muß und die Rezeption recht selektiv ausfallen kann, zeigen nicht zuletzt eine Reihe von Sozialethikerbeiträgen, speziell solche aus dem katholischen Raum. Die Atmosphäre kann gerade da recht kühl werden; phonetisches Zeichen: man spricht dann schon nicht mehr vom Kirchenwort, sondern von "Kirchenleitungen", als ob diese unendlich weit von einem weg wären und man nicht sogar selbst irgendwie dazu gehörte. Und die Wirtschaft? Sie fühlte sich, jedenfalls soweit sie verbandlich organisiert ist, wie als Fachökonomie von dem Gemeinsamen Wort durchaus angesprochen und die ihr nahestehende Publizistik auch. Man läßt sich aber nicht gerne dazwischenreden. Man wiegt die Argumente, aber auch das gesellschaftliche Gewicht der Kirchen; man macht den feinen Unterschied zwischen realer und protokollarischer Größe und schlägt - Argument hin, Argument her - auch schon mal mit voller Pulle zurück. Die Feststellung Hans D. Barbiers in der Einleitung zum FAZ-Beitrag von Herbert Hax (Ausgabe vom 17. 5. 98) "Fixiert auf Verteilung", ein paar "bekenntnishafte Anmerkungen zum Wert der Sozialen Markwirtschaft" hätten dem "Wort der Kirchen" zu beifällig-anerkennenden Kommentaren verholfen, aber je genauer marktwirtschaftliche Ordnungspolitiker sich an die Textanalyse machten, um so eingeschränkter werde die Zustimmung, ist nicht nur als konzinner Kommentar zum Rezeptionsgeschehen interessant, sondern auch als Stimmungsbericht aus den mittleren und oberen Etagen der Wirtschaftsverbände. Und: womit man sich in der Fortführung der Debatten auch wird auseinandersetzen müssen: die Reaktionen aus den konfessionellen Verbänden von Wirtschaftlern fielen nicht anders, gelegentlich, je nach Temperament des Vertreters sogar schärfer aus, als die Wortmeldungen aus den Residenzen der Arbeitgeber. Und für die andere Seite, etwa im Verhältnis KAB-Gewerkschaften gilt Paralleles. Es mag durchaus richtig sein, was das Gemeinsame Wort selbst in Nr. 44 feststellt, der gesellschaftliche Grundkonsens sei durch den Konsultationsprozeß "gestärkt und verbreitert worden". Aber die Rezeptionszeit des Gemeinsamen Wortes hat auch alte Grenzen binnenchristlicher, auch binnenkatholischer Verständigung neu sichtbar gemacht. Und natürlich hängen Reichweite und Nachhaltigkeit trotz aller Einflußfaktoren aus dem kirchlichen wie aus dem gesamtgesellschaftlichen Umfeld in erster Linie immer noch von der Überzeugungskraft und der Zielrichtung der Botschaft selbst ab: Worauf legt sie den Schwerpunkt: nur auf die ethischen Grundlagen oder auch auf die politischen Anwendungen? Will sie "nur" den ethischen Grundkonsens formulieren und festschreiben oder angesichts der Globalisierung des Wettbewerbs der Sozialen Marktwirtschaft zu stärkerer sozialer Verantwortung verhelfen und zähmend auf die Marktkräfte einwirken wollen? Will sie hauptsächlich Grenzmarkierungen setzen oder auch reformerisch etwas bewegen: bei der Arbeitsmarktpolitik, bei den sozialen Sicherungssystemen, bei der Familie? Schichtet sie nur Position auf Position oder schlägt sie sich für ein bestimmte? Und wenn, wo und mit welchen Konsequenzen? Letztlich bestimmt die Schlüssigkeit der Inhalte über Zustimmung und Widerspruch, über Nachhaltigkeit und Vergessen. Für ein Dokument, das sich aus der Perspektive definiert, der Weg sei das Ziel, gilt das kaum weniger, eher mehr. Doch gehen wir der Reihe nach vor. Vielleicht am besten in einem Dreischritt: 1. Aufnahme und Wirkung, 2. Einsprüche und Weiterführungen, 3. Rückfragen. 1. Aufnahme und Wirkung Das Gemeinsame Wort, dies kann ohne Einschränkung gesagt werden, ist trotz aller selektiven Blickrichtungen in der Debatte von der Öffentlichkeit insgesamt überaus freundlich aufgenommen worden. Nicht nur in den ersten, naturgemäß summarischen Kommentaren, sondern auch den späteren Analysen wurde allgemein begrüßt, daß sich die beiden Kirchen zu einem solchen Wort entschlossen, daß sie, wie es mehrfach hieß, "ihre Gehäuse" verlassen haben und den Mut hatten, sich auf zentrale Gegenwartsfragen von Wirtschaft und Gesellschaft orientierend einzulassen und "ihr Wort dazu zu sagen". Niemand hat den Kirchen das Recht abgesprochen, sich in dieser Weise in den öffentlichen Diskurs "einzumischen". Spott gab es höchstens einmal nebenher. Selbst wer dem Papier weder in seinem Grundsatzteil noch in seinen praktischen Anregungen viel abgewinnen konnte, fand das Wort in der Regel "hilfreich". Es wurde nicht lange darüber philosophiert, ob Kirchen so etwas überhaupt dürfen oder tun sollen. Das öffentliche Echo war durchaus eindrucksvoll. Wann füllt ein kirchliches Ereignis schon die Topmeldungen des Fernsehens und die Leitartikel der großen und kleinen Tageszeitungen. Nicht wenig geholfen dürfte dabei ein gewisser Überraschungseffekt haben, der nach dem langen und weit verzweigten Konsultationsprozeß keineswegs mehr selbstverständlich war. Man hätte ja auch meinen können, nach dem Diskussionsentwurf und den ihm gefolgten Debatten sei die Luft schon raus. Und zwischendurch war ja immer wieder ungewiß, ob es überhaupt zu einem abschließenden, die Diskussion verarbeitenden gemeinsamen Wort kommen würde. Das Ziel stand immer vor Augen, aber mehrfach wurde bezweifelt, daß die Kräfte dafür reichen würden. Um so größer die Genugtuung, daß man es doch schaffte - "mit passablem Ergebnis". Es war wie nach einem lang erhofften, aber immer wieder bezweifelten Friedensschluß: Es wurde mehr erreicht, als man dem kirchlichen Gemeinschaftsunternehmen zugetraut hatte. Das hob die Sympathien. Wäre die öffentliche Aufnahme des Gemeinsamen Wortes der Maßstab für das Ansehen der Kirchen in der Gesellschaft hierzulande, bräuchte um deren Öffentlichkeitsbedeutung niemandem bange zu sein. Allerdings: die einmütige Zustimmung gilt dem "factum brutum", daß das Wort überhaupt erscheinen konnte, dem Konsultationsverfahren, der gemeinsamen Formulierung der ethischen Leitlinien (vor allem im Kapitel 3) und den gegenüber dem Diskussionsentwurf erreichten analytischen und inhaltlichen Ergänzungen und Vertiefungen, einschließlich der Ausführungen zur innerdeutschen Ostwestproblematik, zur Gleichstellung der Frau und zum neugefaßten Kapitel 6 über die Rolle und die Verantwortung der Kirche selbst als wirtschaftlich agierende Größe mit sozialer Verpflichtung. Zu allem, was darüber hinausgeht, ist das Reaktionsbild ziemlich bunt, es gibt kaum eine Einzelfrage, von der Umschreibung des Subsidiaritätsprinzips bis zum zweiten Arbeitsmarkt, die nicht auf- und angegriffen würde. Höchstens, was zur Unentbehrlichkeit, Struktur, Dynamik und ethischer Grundierung der Sozialen Marktwirtschaft niedergeschrieben ist, wird noch einigermaßen einmütig "rezipiert", obwohl auch kritisiert wurde, das Wort bleibe gerade in marktwirtschaftlichen Fragen einem ideologisch überformten Marktschema verhaftet. Es hätte des autoritativen Wortes von Bischof Lehmann gegen das "Totloben" also wohl gar nicht bedurft, oder wenn doch, dann war es prophylaktisch wie katalytisch höchst erfolgreich. Ein Gesprächspartner - aber das sei hier nur als mündliche Überlieferung festgehalten - meinte unlängst gar, außer den allen einleuchtenden allgemeinen ethischen Prinzipien gebe es in dem Text überhaupt nichts, was nicht bestritten werde. Und in der Tat beginnt die rezeptive Uneinigkeit bereits bei der intentionalen Grundspannung, wenn Sie so wollen beim Rohbau des Papiers. Herbert Hax hatte auf dem Wissenschaftlichen Forum im September 1995 (vgl. Gemeinsame Texte 7, S. 17) den Kirchen "vermittelt", sie könnten in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fragen zur Beachtung sittlicher Grundsätze aufrufen, wenn diese nachweislich mißachtet würden, und sie könnten sich "an der Diskussion darüber beteiligen, welches die geeigneten Mittel sind, wirtschafts- und sozialpolitische Ziele zu erreichen", über die grundsätzlich Übereinstimmung bestehe. Ein wahrlich an allen Ecken und Enden drückendes und zwickendes Korsett. Aber die Verfasser und die für das Gemeinsame Wort Verantwortlichen sahen das wohl auch so oder folgten dem Vorsitzenden des Sachverständigenrates darin. Nach der Veröffentlichung des Gemeinsamen Wortes ist außer der Versicherung, es handle sich bei diesem nicht um ein alternatives Sachverständigengutachten kein Satz so häufig wiederholt worden wie der aus dem gemeinsamen Vorwort von Bischof Lehmann und Landesbischof Engelhardt, die Kirchen strebten einen Konsens an über Prinzipien und Maßstäbe, die nach ihrer Ansicht "unabdingbare Voraussetzung für eine solidarische und zukunftsgerechte Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung sind", wie sie in den Kapiteln 3 und 4 niedergelegt seien, die "Konkretisierungen und Richtungshinweise in den Abschnitten 2 und 5" dagegen seien "ein Beitrag zur öffentlichen Verständigung über Probleme und mögliche Lösungsvorschläge". Die Folge: Praktiker wie Theoretiker stürzen sich vor allem auf die "Konkretisierungen": Was sagt das Wort zum Schicksal der Erwerbsarbeit, wenn nach der "Globalisierungsbereinigung" die Autoindustrie mit 20 Prozent weniger Leuten 30 Prozent mehr Autos herstellt? Was sagt es zur Zukunft des Generationenvertrages, wenn diesem überall der Boden unter den Füßen wegbricht? Was zur Nachhaltigkeit ökologisch-sozialen Marktwirtschaftens, wenn wir uns schon bei der CO2-Steuer so schwer tun? Was sagt es zu den Unwegsamkeiten der Vermögensbildung und Vermögensverteilung? An solchen Fragen müssen sich christliche Sozialethik und Solidaritätsrhetorik bewähren, sagen die einen, während andere meinen, alle diese Erörterungen seien in einem kirchlichen Wort schlicht "überflüssig" und sollten lieber den Bonner Finanz- und Sozialpolitikern überlassen werden, die es im Zweifelsfall besser wüßten (vgl. z.B. FAZ vom 1. 3. 97). Entsprechend der kontroversen Rezeptionssituation ist die Wirkung einzuschätzen. Sie dürfte kaum oder gar nicht in der Konsenslogik des Gemeinsamen Wortes zu suchen sein. Die Wirkung dürfte einstweilen vielmehr im atmosphärischen Terraingewinn liegen. Einmal binnenkirchlichlich. Das Gemeinsame Wort und der vorausgegangene Konsultationsprozeß haben ein Stück Selbstvergewisserung im sozialen Wandel der Gegenwart geleistet. Und einiges davon ist immerhin bis in die Gemeinden gedrungen. Sodann zwischenkirchlich im Zugewinn an gemeinchristlichem Bewußtsein in sozialethischen Fragen. Gesellschaftlich im Zugewinn an Öffentlichkeit. Politisch im Zugewinn an kirchlichem Selbststand und parteipolitischer Unabhängigkeit. Auch wenn der Konsultationsprozeß mühsam war und der Ausgleich zwischen Kirchenverstand, Bürgerverstand und Sachverstand nur halb gelungen ist, man hat sich durchgerungen. Man kann - auch an Hand des Rezeptionsgeschehens - bezweifeln, ob durch den Konsultationsprozeß der gesellschaftliche Grundkonsens tatsächlich "gestärkt und verbreitert" wurde (GW 44), aber "verirrt" haben sich die Beteiligten darin nicht. Und es gab zwar Kritik auch dergestalt, das Gemeinsame Wort verbinde katholische mit evangelischen sozialethischen Positionen, aber schaffe nicht wirklich Konsens, auch nicht zwischenkirchlich. Und weder Theologen noch Politiker fanden die theologische Grundlegung in jeder Beziehung befriedigend, aber allein schon mit Ergebnis den Versuch gemacht zu haben, diese Grundlegung gemeinsam zu formulieren, verdient Beachtung. Dies gilt sowohl für das im Gemeinsamen Wort reflektierte biblische Ethos wie beispielsweise bei der Umweltnachhaltigkeit schöpfungstheologisch. In einer Phase des ökumenischen Gesprächs, in der sich der Weg über die Auflösung kontroverstheologischer Fragen faktisch als nicht begehbar erweist, ist die Erarbeitung gemeinsamer sozialethischer Positionen für den weiteren Weg evangelischer und katholischer Christen zueinander ein hoffnungsvolles Zeichen. Die praktische Verantwortung aus dem gemeinsamen Glauben erhält so den ihr zustehenden Rang. Und kein Wort der Kirchen vorher - das wird von allen eingeräumt - hat fachlich wie politisch so viele Verantwortliche aus Theorie und Praxis ins Gespräch zu ziehen vermocht wie dieses Gemeinsame Wort und zwar in der Rezeptionsphase wie in der Konsultationsphase. Marianne Heimbach-Steins spricht in ihrer Zwischenbilanz zum Rezeptionsprozeß in den "Stimmen der Zeit" von neugewonnener "Dialogkompetenz". Als nicht am Geschehen Beteiligter möchte ich mit einer solchen Kennzeichnung etwas vorsichtiger sein. Es müssen ja auch erst einmal die alten und neu aufgetretenen Gegensätze und Widersprüche aufgearbeitet werden. Aber sicher war das Gemeinsame Wort ein höchst produktiver Beitrag dazu, daß die christlichen Kirchen (die Christen?) in der gesamtgesellschaftlichen Öffentlichkeit wieder um einiges ernster genommen werden. Mit diesem Talent gilt es zu wuchern. Zugewinn an Selbststand. Von mehreren Seiten wird argumentiert, angesichts des Dialogerfolgs, des ausgelösten Echos und der Erfahrungen, die man im Konsultationsprozeß gesammelt hat, müßten nun neue Bündnismöglichkeiten ausgelotet werden; nur mit starken Bündnispartnern lasse sich das als richtig Erkannte auch umsetzen, reformieren oder bewahren (vgl. Heimbach-Steins, a.a.O.; dazu auch Friedhelm Hengsbach in: Huhn, Segbers, Sohn, Gerechtigkeit ist unteilbar, S. 37). Der Gedanke hat Charme, aber ist er auch richtig? Das Gemeinsame Wort ist so ausgefallen, daß sich jede politische Richtung und auch die Tarifpartner sich mit ihm auseinandersetzen müssen, ohne daß es irgend jemand ganz für sich vereinnahmen könnte. Nur mit Selbstbestätigungs- und Ignorierungsstrategien ist dem Wort nicht beizukommen. Das gibt den Kirchen in ihren gesellschaftsethischen- wie gesellschaftspolitischen Forderungen allen politischen Richtungen gegenüber größere Unabhängigkeit. Diese sollten wir insbesondere auf katholischer Seite nicht durch neue Abhängigkeiten wieder aufs Spiel setzen. 2. Einsprüche und Weiterführungen Trotz des atmosphärischen Terraingewinns und des insgesamt freundlichen Meinungsklimas, Einsprüche gibt es zu allen Schichten und Facetten des Gemeinsamen Wortes. Man spürt geradezu das Bemühen, möglichst keinen Stein auf dem anderen zu lassen. Das gilt schon für den Unterbau, auf dem das angestrebte Konsensgerüst aufruht. Selbst der sozialtheologischen Grundierung des dritten Kapitels wird von Laien wie Fachtheologen nicht uneingeschränkt zugestimmt. Die Einwände kommen interessanterweise allerdings stärker von evangelischer als von katholischer Seite, obwohl man den Eindruck gewinnen könnte, nicht nur in manchen sozial- und gesellschaftspolitischen Optionen, sondern auch in der Grundlegung aus dem Glauben habe das Gemeinsame Wort mehr von einer evangelischen Denkschrift als von einem katholischen Hirtenwort. Martin Honecker zum Beispiel beanstandet zweierlei. Zum einen werde im Wort nicht klar, wie biblische Sicht und philosophische Begründung der Idee der Gerechtigkeit ineinandergehen. Und zum anderen fragt er sich, ob "bloße Rekapitulation der Heilsgeschichte" die Zeitgenossen heute wirklich anspreche, da eine Übersetzung in wirtschaftsethische Kategorien nicht stattfinde (Sozioökonomischer Supermarkt und kirchliche Angebote, in: Zeitschrift für Evangelische Ethik, Oktober-Dezember 1997, S. 268). Götz Planer-Friedrich dagegen findet es zwar gut, daß das Wort das Christliche nicht als Sonderethos vertrete, sondern das Allgemeinverbindliche herausstelle, kritisiert aber die allzu großzügige "dogmatische Vereinnahmung" des jüdischen Erbes und wundert sich, wie leichtfertig die Vision vom Reich Gottes verschenkt werde. Gerade sie enthalte doch Impulse nicht nur der Entlastung gegen Perfektionsmodelle der Gesellschaft, sondern auch für das Sich-nicht-zufrieden-geben mit der eigenen Gesellschaftsgestaltung (in: Huhn, Segbers, Sohn, a.a.O., S.41). Nicht minder scharf seziert wird das Subsidiaritätsverständnis des Gemeinsamen Wortes. Es zeigt sich recht bald, daß es dabei um sehr viel mehr geht als um einen Prinzipienstreit. Viele Stellungnahmen durchzieht der Verdacht, das mit dem griffigen Wort von der "Vorfahrt für Eigenverantwortung" sei am Ende so ernst doch nicht gemeint, und das Gemeinsame Wort komme vom betreuten Menschen und von der Versorgungsgesellschaft einfach nicht los. Manfred Spieker (vgl. Die Neue Ordnung, April 1997, S. 116) spricht gar von der Umkehrung des Subsidiaritätsprinzips in These 7 der "Hinführung", wenn dort festgestellt werde: Bei der Subsidiariät gehe es darum, die Einzelpersonen und die untergeordneten gesellschaftlichen Ebenen zu schützen und zu unterstützen, nicht jedoch ihnen wachsende Risiken zuzuschieben. Subsidiarität und Solidarität, Subsidiarität und Sozialstaat gehörten zusammen. Und Subsidiarität heiße zur Verantwortung befähigen, und nicht den einzelnen mit seiner sozialen Sicherung allein lassen. Für den Osnabrücker Sozialethiker ist klar, daß das Wort damit Johanno Strasser näher steht als Centesimus annus. Und denkt man etwa an die Grundentscheidung des Gemeinsamen Wortes zu Gunsten der bestehenden Sozialversicherung und gegen einen Systemwechsel, kann schon der Eindruck entstehen, das Wort wolle damit nicht bloß gegen schleichende Entsolidarisierung vorgehen, sondern den Wechsel vom Generationenvertrag zur Kapitaldeckung normativ unterbinden. Natürlich gibt es auch eine Menge interessengeleiteten Widerspruchs zu vielen Fragen praktischer Gesellschaftsgestaltung. Das Gemeinsame Wort findet in Wirtschaftskreisen spontane Zustimmung, wenn es den Wettbewerb als eine sozialmoralische Leitfunktion herausstellt, wenn es die kreativen Seiten wirtschaftlicher Selbständigkeit und des Unternehmertums in kräftigen Farben schildert, wenn es für die Senkung der Lohnnebenkosten eintritt und einräumt, daß angesichts der veränderten Wettbewerbsbedingungen die bisherigen sozialen Standards nicht mehr in allen Punkten zu halten sein werden. Auch findet noch Zustimmung, daß das Wort dazu auffordert, "die Diskussion über die Finanzierungsfragen des Sozialstaats nicht nur quantitativ als Spardebatte, sondern als gesellschaftspolitische Gestaltungsdebatte zu führen", aber schon weit weniger die Vermutung, der soziale Ausgleich sei angesichts der gegenwärtigen weltwirtschaftlichen Verschiebungen mehr gefährdet als die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Erst recht ist man mit der "Behauptung" des Papiers nicht einverstanden, der Sozialstaat und die sozialstaatlichen Leistungen seien nicht Ursache für die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit. Und Hans-Olaf Henkel ist sich sicher: Das bloße Bekenntnis der beiden Kirchen zur Sozialen Marktwirtschaft reiche nicht, denn sie entschieden sich für den Wohlfahrtsstaat (in: Bernhard Nacke, Das Sozialwort der Kirchen in der Diskussion, S. 129), während von anderer Seite eingewandt wird, das Wort komme der in Not geratenen Sozialen Marktwirtschaft "zu Hilfe", bleibe aber bei der Hilfeleistung doch allzu sehr marktwirtschaftlichen Mustern verhaftet. Ebenso sehen sich die Gewerkschaften in diesem Rahmen nicht hinreichend gewürdigt und hätten ein deutlicheres Wort der Stützung des Flächentarifvertrags erhofft. Und vollends zum Chor steigert sich der Widerspruch beim Begriffspaar Arm und Reich. Hier sind die Verfasser offenbar in ein Wespennest getreten. Dies gilt bereits für die Kritik an der ungleichen Vermögensverteilung. Es wird unterstellt: die Kirchen sprächen von nicht tolerierbaren sozialen Ungleichgewichten und meinten schlicht Umverteilung. Und die "Zumutung", dem geforderten Armutsbericht durch die Bundesregierung einen "Reichtumsbericht" an die Seite zu stellen, führt erst recht zu einem Aufschrei. Für Caritas und Diakonie war dies nach den eigenen Vorarbeiten in der Armutsforschung ein Hauptdesiderat, entsprechend hoch ist die Befriedigung, daß es als Zuspitzung der Grundoption des Wortes Schwache und Arme in den Text aufgenommen wurde. Um so eindrucksvoller der Chor der Widerredner: ärgerlich sei das oder das ärgerlichste am Papier überhaupt, sagen fast gleichlautend der bayrische Ministerpräsident Edmund Stoiber, CSU-Fraktionsvorsitzender Alois Glück, BDA-Präsident Dieter Hundt, BKU-Vorsitzender Werner Then. Und BDA-Hauptgeschaftsführer und CDU-MdB Reinhard Göhner meinte dazu, dann könne man gleich den "Tag des Sozialneids" ausrufen. Auch Bernhard Sutor muß an so etwas gedacht haben, als er im Rheinischen Merkur (18. 7. 97) kundtat, der nächste Wahlkampf werde wohl als "Neidkampagne" geführt werden. Mag er im Rückblick recht behalten. Einspruch gab es also von Anfang an genug. Aber Weiterführungen: vertiefender, ausweitender, zuspitzender Art? Oder gar neue Durchbrüche in der Rezeption? Vielleicht fehlt mir die Blickschärfe dafür, ich kann aber wenig davon entdecken. Es wird die Richtigkeit mancher Grundentscheidungen angezweifelt; selbst die schüchternen Hinweise auf neue Kooperations- und Gemeinschaftsformen als Ausdruck einer veränderten Sozialkultur werden mit einem gewissen Achselzucken kommentiert. Bei der Konkretisierung von Marktzielen und Marktwirkungen teilen sich sogar katholische Sozialethiker in Marktpolitiker und Sozialpolitiker. Aber es bleibt im wesentlichen bei Textkritik im Sinne von Inhaltskritik ohne konzeptionelle Weiterentwicklung. Das mag mit dem viel besprochenen "Kompromißcharakter" des Gemeinsamen Wortes zu tun haben, das oft Positionen nebeneinanderstellt, ohne sie zu harmonisieren oder Widersprüche aufzulösen. Oder ist es doch etwas anderes, das Zurückweichen bei zentralen gesellschaftspolitischen Reformthemen? Bei der Rentenversicherung wird zwar gesehen, daß die weitere Bindung an die Erwerbsarbeit ein riesiges Problem wird, aber die Treue zum bisherigen System wird energisch festgeschrieben. Bei der Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Erwerbsarbeit weichen sie auf eine Umdefinition des Arbeitsbegriffs aus. Beim Thema Globalisierung finden sie gesetzte Worte gegen Dämonisierung und Glorifizierung gleichermaßen, aber der gefährdete soziale Ausgleich wird dann doch in erster Linie von der nationalen Politik erwartet. Man hat den Eindruck: die Verfasser wagen sich weit vor auf der Rampe, aber um nicht springen zu müssen, halten sie sich ganz vorne gegenseitig fest. Insofern liegen die Gründe für die streitige und doch nicht sehr weiterführende Rezeption wohl am Text selbst. Aber vielleicht sagt dieser Umstand auch etwas aus über die Situation an den sozialethischen Lehrstühlen, wenn von dort der Vorwurf kommt, das Wort gieße hauptsächlich alten Wein in neue Schläuche, aber die neuen Weine auch von dort nicht geliefert werden. Doch sieht es so aus, als ob aus den Einsprüchen selbst neue konzeptionelle Debatten entstehen könnten. Der Kürze halber dafür nur drei Beispiele: die Armutsdefinition, Rede und Widerrede zur Familie, die vermeintliche Option für den Verteilungsstaat. Die Armutsdefinition, nach der arm ist, wer unterhalb der Hälfte des Durchschnittseinkommens liegt, ist, obwohl inzwischen gängig, auf fast soviel Widerstand gestoßen wie die Forderung nach einem regelmäßigen Reichtumsbericht, und zwar bei Wirtschaftlern wie Politikern gleichermaßen, aber auch bei Sozialethikern. Die weitere Diskussion könnte vielleicht helfen, zwischen absoluter und relativer Armut wieder deutlicher zu unterscheiden, ohne damit die relative Armut zu verharmlosen. Erfreulich immerhin: die gängigen Parolen des politischen Stammtischs, Sozialhilfeempfängern bei uns ginge es unvergleichlich besser als den Durchschnittsverdienern im Kongo oder in Bangladesch, wurden in der Debatte über das Gemeinsame Wort nicht mehr so sehr wiederholt. Armut läßt sich nur gesellschafts- und kulturspezifisch messen und nicht beliebig. Aber Armut hat nicht nur materielle, sondern auch kulturelle, partizipatorische Aspekte und solche der Abhängigkeit. - Absolut arm macht die Kumulation aller dieser Aspekte. Relativ arm ist, wer mit dem gesellschaftlichen Standard auch nicht annähernd mithalten kann. Ob ein Leben in Würde trotzdem möglich ist, hängt ebenso sehr von den Betroffenen selbst ab wie vom sozialen Umfeld. Auf jeden Fall wird das eine zentrale bürgergesellschaftliche und nicht nur karitative Aufgabe. Interessant ist die "Rezeption" der Ausführungen zur Familie. Das ausgearbeitere, wenn auch im Text verstreute Plädoyer für die vollere Chancengleichheit der Geschlechter in Familie und Erwerbsleben wird allgemein begrüßt. Aber damit endet die Zustimmung auch schon. Marianne Heimbach-Steins schreibt in ihrer bereits zitierten Zwischenbilanz, die Art und Weise, wie das Gemeinsame Wort von der Familie spricht, unterscheide sich deutlich von dem sonst speziell in der katholischen Kirche vertrauten Tenor. Die Situation der Familie werde in den Blick genommen "unter der Perspektive der tatsächlichen Leistungen, die Familien bzw. Erziehende in der und für die Gesellschaft erbringen". Dies sei gerade für katholische Ohren insofern "ungewohnt, als das normative Bild der auf die Ehe gegründeten Familie nicht eigens herausgestellt wird". Ganz anders sieht das Manfred Spieker. Er findet nicht nur die generalisierte Forderung nach Kindertagesstätten "erstaunlich", er kritisiert noch viel stärker die einseitige oder allein wirtschaftliche Sicht der Familie. Und das tun viele. Es ließen sich mindestens ein Dutzend Beiträge und Stellungnahmen zitieren, deren Autoren sich wundern, daß Familie und Kinderhaben vorwiegend oder ausschließlich unter dem Gesichtspunkte materieller Benachteiligung und nicht auch "ideeller" Vorteile gesehen wird. Rolf Schumacher vom Zentralkomitee der deutschen Katholiken meint, der Klage über die materielle Benachteiligung stehe immerhin "die Tatsache gegenüber, daß es noch zu keiner Zeit soviel an direkter staatlicher Hilfe für die Familien tatsächlich gegeben hat" (Nacke, a.a.O., S. 212). Vielleicht gelingt es in den Folgediskussionen, sowohl die etwas einschichtige materielle Sicht der Familie zu korrigieren, wie auch mehr Aufgeschlossenheit für Erziehungshilfen für strukturell wie funktional völlig veränderte Familie zu entwickeln, so daß auch Kindertagesstätten als etwas Sinnvolles akzeptiert werden können. Die vermeintliche Option für den Verteilungsstaat. Herbert Hax sieht im Gemeinsamen Wort ein "verteilungspolitisches Leitbild" am Werk, in seinen Augen eine verhängnisvolle "Grundentscheidung" (FAZ, 17. 5. 97). Ich weiß nicht, ob man das so sehen muß. Der Kern des Problems ist wohl eher, daß von ökonomischer Seite alles, was mit Teilen und Umverteilung zu tun hat, ob es Güter, Einkommen oder Arbeit betrifft, als Teil der Sozialstaatskritik vereinnahmt wird, und daß zum anderen das Gemeinsame Wort der Dynamik des Wettbewerbs ein statisches Konzept von Verteilungsgerechtigkeit zur Seite stellt, ohne daß die Integration beider Elemente in ein Gesamtkonzept recht gelingt. Deswegen 3. noch einige Rückfragen zum Teil an den Rezeptionsprozeß, zum Teil an das Gemeinsame Wort selbst. Erstens: Das Gemeinsame Wort will - wenn ich es richtig lese - den Problemen und Gefahren wehren, die sich aus dem kumulierten Umbruch aus Markwirtschaftssieg, Globalisierung und technologischer Revolution ergeben. Es will der Spaltung der Gesellschaft vorbeugen und darauf dringen, daß der Umbruch nicht zu Lasten der Schwächeren und Schwächsten geht. Es will auf der Grundlage eines aufgeklärten christlichen Ethos den sozialen Konsens festschreiben, mit dem der technologische Wandel und dessen wirtschaftliche und soziale Folgen bewältigt werden sollen. In seine Mitte rückt das Wort als akutestes Begleitproblem des Umbruchs die Massenarbeitslosigkeit mit ihren materiellen und immateriellen, individuellen und gesellschaftlichen Folgen. Kein anderes Thema nimmt soviel Raum ein. Die humane Balance zwischen Wettbewerb und sozialem Ausgleich soll gehalten, die Soziale Marktwirtschaft entsprechend erneuert und die Absicherung der Lebensrisiken solidarisch "armutsfest" gemacht werden. Die Frage ist für mich: Bekommt das Gemeinsame Wort damit auch diejenigen Elemente des gesellschaftlichen und lebensweltlichen Wandels hinreichend in den Blick, die sich im Spannungsverhältnis Wettbewerb - sozialer Ausgleich nicht ohne weiteres unterbringen lassen, die aber den Zwang zu sozialstaatlichen Reformen mitbedingen und diesen ein Stück weit auch Richtung geben? Werden z.B. auch die lebensweltlichen, subjektiven und familialen Gründe der Kinderarmut berücksichtigt? Oder - eine ganz andere Perspektive - z.B. die Tatsache, daß im Übergang von der industriellen Produktionsgesellschaft in die wissens- und kommunikationsgeleitete Dienstleistungsgesellschaft Erwerbsarbeit längst nicht mehr so sehr Lebensmittelpunkt sein muß wie für die bisherigen Generationen? Erlaubt das nur eine stärkere Diversifizierung von Lebensstilen oder auch von Lebens- und Einkommenslagen? Das Gemeinsame Wort nennt verschiedene Wege aus der Arbeitslosigkeit: Flexibilisierung, Teilzeitarbeit, Familienarbeit, beharrt aber auf der Erwerbsarbeit als Regel, der gegenüber alles andere nur zugelassene Ausnahme ist. Auch die Kritiker des Wortes durchbrechen diese Schranke nicht. Nur ganz einzeln ist zu hören, man sollte das Problem Arbeitslosigkeit im Blick auf die mittel- und langfristige Entwicklungen eher "entdramatisieren". Entdramatisieren nicht nur weil es neben der verbleibenden hohen Sockelarbeitslosigkeit eine gewaltige Dynamik der Zugänge und Abgänge gibt, sondern weil es Vollzeitbeschäftigung nach industriellem Muster nicht mehr geben wird (vgl. R. Schumacher, in: Nacke, S. 219). Die Arbeitswelt wird jedenfalls uneinheitlicher, vielgestaltiger, nicht die Arbeitszeit, sondern auch das Arbeitsvolumen betreffend. Eine Minderheit wird mehr und länger arbeiten müssen, der Durchschnitt weniger oder auch unregelmäßiger. Und vermutlich nimmt sogar der Anteil derer zu, die von den Vermögensverhältnissen her auf Erwerbsarbeit überhaupt nicht angewiesen sind. Ist es gerade angesichts einer solchen Entwicklung noch sinnvoll, Arbeit immer sinndichter zu anthropologisieren, als ob Arbeit, gar Erwerbsarbeit allein einem Menschenleben Sinn gäbe? Arbeit ist doch ein Medium sinnvollen Lebens neben anderen, aber nicht Lebenssinn. Also brauchen wir wohl erst einmal eine Umwertung des Leistungsethos, damit nicht Erwerbsarbeit allein darüber entscheidet, was jemand gilt. Die Frage wird künftig also weniger sein: Wieviele Arbeitsplätze für wieviele Leute, sondern wie auskömmlich kann jeder leben? Die noch größere Frage wird allerdings sein: Wie geht eine freiheitliche Gesellschaft damit um und welche Steuerungsmöglichkeiten hat sie dabei? Ein zweiter Fragenkomplex: Das Gemeinsame Wort ist sich ganz sicher: Reformen sind unausweichlich, aber ein Systemwechsel bei der Sozialversicherung kommt nicht in Betracht, steuerfinanzierte Fremdrenten ja und eine Kombinationen aus Beitragsleistung und Selbstvorsorge auch, aber nicht mehr. Desgleichen bei der Krankenversicherung. Nicht zuletzt deswegen wird dem Wort unterstellt, es sei wenig innovativ, und wird ihm der gleiche Strukturkonservatismus vorgeworfen, den das Papier selbst tadelt. Nikolaus Piper in der Zeit (28. 2. 97): Das Bewährte als Antwort auf die Krise des Bewährten sei die Botschaft des Wortes. Doch "aufbrüchigere" Botschaften kommen aus dem Rezeptionsprozeß auch nicht. Deswegen die Rückfrage: muß die normative Absage an einen Systemwechsel wirklich das letzte Wort sein? Eine andere Arbeitsgesellschaft braucht doch auch andere Formen der Absicherung der Lebensrisiken. Und vom demographischen Wandel und der Beschäftigungsstruktur einmal abgesehen: Entspricht die öffentlich-rechtliche Sozialversicherung noch der Forderung nach Vorrang für Eigenverantwortung oder kommen wir schlicht von der Versorgungsgesellschaft nicht los, die sich einer Zeit und einer Entwicklung verdankt, als die Arbeitnehmerschaft "bürgerlich" noch nicht mündig war? Läßt sich nicht auch für die Schwachen und Schwächsten auf dem Wege privater Vorsorge sorgen: über das Bürgergeld oder die Negativsteuer etwa? Natürlich würde damit das Steuersystem zum Dreh- und Angelpunkt operativer sozialer Gerechtigkeit. Zum Steuersystem äußert sich das Wort recht zurückhaltend. Aber ist nicht die Steuer das zentrale Instrument der Umverteilung des Marktergebnisses? Und hätten wir angesichts der Vererbungsmasse der nächsten Jahrzehnte nicht eine herausragende, vielleicht einmalige Chance, einen Systemwechsel ohne unzumutbare Belastung der jüngeren wie der älteren Generation auch herbeizuführen? Ein dritter Fragenkreis. Am Gemeinsamen Wort wurde mehrfach kritisiert, es vergesse die Politik, Parlamente und Parteien würden darin gar nicht angesprochen (vgl. u. a. Alois Glück, Fragen zum Kirchenwort, in: Die politische Meinung, August 97, S. 71), als ob nicht dort die demokratischen Entscheidungen fielen. Da taucht der alte Umstand wieder auf, daß der deutsche Katholizismus zwar sozial immer wieder Flagge zeigt, aber bei Staats- und Demokratieverständnis noch Nachholbedarf habe. Es kann sein, daß das so ist. Aber vielleicht geht es noch mehr um die Schwierigkeit, gesellschaftlichen Wandel aus sozialkirchlicher Tradition produktiv aufzuarbeiten und in die Diskussion über soziale Gerechtigkeit auch stärker kulturelle und lebensweltliche Elemente hineinzunehmen. Die kritisierte einseitig materielle Sicht der Situation der Familien mag damit zusammenhängen. Aber es entsteht ein bißchen auch der Eindruck, bei der Konzentration auf Ordnungen und Normen gerate mit dem gesellschaftlichen Prozeß auch die Person etwas aus dem Blick. Der sozialontologische Anker für die Regulative Subsidiarität und Solidarität ist die Personalität. Dies kommt im Wort selbst strukturell, als Leitgedanke, jedenfalls nicht gleich sichtbar zum Zuge. Sollte damit auch zusammenhängen, daß in dem Wort zwar viel von Kirche und kirchlichen Einrichtungen, aber vom Christen als Adressaten, Träger und Umsetzer der Botschaft wenig die Rede ist? Eine letzte Bemerkung: Kernziel des Gemeinsamen Wortes ist das Werben für einen sozialethischen Grundkonsens über das, was jetzt wirtschafts- und gesellschaftspolitisch zu tun ist. Im Rückblick auf den Konsultationsprozeß wehrt sich das Wort in Nr. 44 vehement gegen Einwände, vor dem Konsens stehe erst einmal der Konflikt. Polemik gegen Konsenskultur sei kurzsichtig, wird dort gesagt. Aber muß man in Zeiten des Umbruchs bei noch starkem Hang zu vergehenden Gesellschafts- und Lebensmustern nicht erst einmal Positionen aufbrechen, um zu einem zeitgerechten und nachhaltigen Konsens über neue soziale Ordnungen zu kommen, also den zweiten Schritt nicht vor dem ersten tun? Und käme man so nicht auch leichter über das Stockwerkdenken, hier verbindliche Norm, dort Diskussionsbeitrag, hinaus? Irgendwie muß der Normenkonsens ja in die Lösungsvorschläge einfließen, sonst wird die Norm bedeutunglos und die Praxis blind. Vielleicht habe ich in Unkenntnis der Einzelheiten der Entstehungsgeschichte des Gemeinsamen Wortes dieses damit mißverstanden. Ich habe aber den Eindruck, daß gerade in diesem Punkte - auch im Blick auf künftige Konsultationen und Papiere - noch Diskussionsbedarf besteht, und wollte deshalb wenigstens nachgefragt haben. ------------------------------------------------------------------------------------- Diskussion Dr. Thomas Sternberg stellt den Beitrag von Herrn Dr. Seeber zur Diskussion und bittet, zum Gehörten Nachfragen zu stellen oder auch Meinungen zu äußern. Dr. Herbert Bedford-Strohm bringt zunächst seinen Dank zum Ausdruck, daß es zu diesem ökumenischen Konsultationsprozeß und dem gemeinsamen Wort gekommen ist. In diesem Vorhaben habe sich ein Stück Ökumene ereignet, indem die Tugenden der evangelischen Denkschriften, die Expertenkultur, die dahinter steckt, und die tiefe Verwurzelung der katholischen Soziallehre in einer schönen Mischung zusammengekommen seien. Seine Nachfrage richtet sich auf den Teil des Referats, der sich mit der Stufigkeit des ethischen Urteils auseinandersetzt. Das Wort selbst weise in seinen verschiedenen Kapiteln der ethischen Grundlegung auf der einen Seite und der Anwendung auf der anderen Seite eine unterschiedliche Wertigkeit zu. Dieses Vorgehen sei seines Wissens direkt von dem Hirtenbrief der katholischen Bischöfe der USA übernommen. Die amerikanischen Bischöfe hätten allerdings darauf verwiesen, daß die Zweistufigkeit nicht dazu führen dürfe, die Anwendungsfragen deshalb jedoch völlig unverbindlich zu diskutieren. Vielmehr habe man ganz klar gemacht, daß man sich auch in der politischen Diskussion und in den Anwendungsfragen immer ganz explizit auf die ethische Grundlegung beziehen sollte, es also darum gehe, diese beiden Ebenen miteinander ins Gespräch zu bringen. Den Ausführungen von Herrn Dr. Seeber habe er demgegenüber einen etwas kritischen Unterton entnommen. Persönlich habe er die Zweistufigkeit für glücklich gehalten; es müsse stets darum gehen, zwischen beiden Bezügen immer genau diese Verbindung herzustellen. Es handele sich hierbei in gewisser Weise um ein Zukunftsmodell der Zivilgesellschaft, in den politischen Anwendungsfragen diejenigen, die sich ihnen widmen, auf der einen Seite und die Ethik auf der anderen wirklich miteinander ins Gespräch zu bringen. Auf die Bemerkungen zu Oskar Lafontaine und die Neidkampagne eingehend bemerkt er, daß Lafontaine nach seiner Wahrnehmung genau im Sinne des gemeinsamen Wortes die Gerechtigkeitslücke und die Problematik der Eigentums- und Reichtumsunterschiede zur Sprache gebracht habe. Leider habe sich Lafontaine aber nur auf die Bischöfe bezogen. Wenn dies jetzt als Teil einer Neidkampagne gesehen werde, sei zu fragen, inwiefern diese politische Verortung und die ethischen Grundlagen nicht miteinander in Einklang stünden. OKR Tilman Winkler findet die vorgetragene Zusammenstellung vor allem auch der kritischen Anfragen an das gemeinsame Wort hochinteressant und unterstreicht noch einmal, das gemeinsame Wort sei der Versuch der Kirchen, zu zeigen, wie Gesellschaft funktioniert und was die Gesellschaft zusammenhält. Es gehe darum, viele Komponenten in einer Zusammenschau zu sehen, das Ökonomische ebenso wie das Soziale, das Kulturelle, das Ökologische und das Ethische. Jetzt komme es darauf an, die geäußerte Kritik zu bewerten und daraus notwendige Folgerungen zu ziehen. Bedauerlich sei jedoch zu sehen, wie hilflos auch hochintelligente Menschen wie zum Beispiel Prof. Dr. Hax, aber auch andere, mit dem gemeinsamen Wort umgingen. Dr. David Seeber bittet um Verständnis, daß er sich weniger zu inhaltlichen Grundsatzfragen als zu methodischen Fragen äußern kann und will. Jedoch räumt er ein, daß es gerade auch den Katholiken gut täte, das im gelebten Glauben überkommene Erbe auch in sozialer Hinsicht in der Gesellschaft nachhaltig zu vertreten und wirksam zum Tragen zu bringen. Den Beitrag von Herrn Prof. Dr. Hax hält er in vielerlei Hinsicht nicht für unglücklich, auch wenn er ein Stück weit polemisiere. Jedenfalls bringe er eine ganze Reihe kritischer Punkte zur Sprache, die aus sozialethischer Sicht durchaus überlegenswert seien. Daß ein Vorsitzender des Sachverständigenrates zudem als Ökonom auch Interessenvertreter sei, dürfe nicht außer Betracht bleiben. Zur Konstruktion des Wortes in seiner Anlehnung an evangelische Denkschriften einerseits und katholische Soziallehre andererseits sowie hinsichtlich der Zweistufigkeit von normativer und praktischer Orientierung tue er sich in der Tat schwer. Die Zweistufigkeit erinnere ihn an ein zentrales dogmatisches katholisches Problem von Natur und Übernatur, das die ganze Glaubensgeschichte hindurch bestanden habe. An den evangelischen Denkschriften schätze er zwar den dahinter stehenden Expertenverstand. Bei der Lektüre evangelischer Denkschriften sei er dann aber jedesmal enttäuscht, daß die praktischen Handlungsempfehlungen im Grunde nicht über das hinausgingen, was ohnehin in der Gesellschaft geschehe oder erörtert werde, und zumeist hinter den ethischen und bibeltheologischen Anforderungen und Grundsätzen zurückblieben. Auch das gemeinsame Wort sei nicht frei davon, so sehr dem in den Kapiteln 3 und 4 entwickelten Normengefüge in aufklärungsphilosophisch-menschenrechtlicher und bibeltheologischer Hinsicht zuzustimmen sei. Deshalb hätte sich eine andere Vorgehensweise, die an den politischen und gesellschaftlichen Änderungsprozessen ansetzt, vielleicht fruchtbarer erweisen können. Ansätze insoweit enthalte zwar das Wort, es bleibe aber dann in diesen Ansätzen stecken. Dr. Thomas Sternberg gibt zu bedenken, daß das gemeinsame Wort neben den vielen Vorteilen seiner Entstehung eine darin grundgelegte Schwäche insoweit habe, daß es eben keinen einheitlichen Duktus haben könne. Wenn ein Papier auf eine so breite Grundlage mit Konsultationsprozeß, mit vielen Autoren und mit vielen verschiedenen Beiträgern gestellt werde, könnten ein einheitlicher Duktus und eine klare Linie nur schwerlich entstehen. Artur Biesalski äußert unter Hinweis auf die apostrophierten Aussagen des saarländischen Ministerpräsidenten Lafontaine die Hoffnung, daß sich in sozialpolitischer Hinsicht doch noch Änderungen in positiver Hinsicht ergeben mögen. Er vermißt im übrigen eine angemessene und ausreichende Rezeption des gemeinsamen Wortes innerhalb der Kirchen selbst, zumindest innerhalb der katholischen Kirche. Die Kirchen wollten mit ihrem Wort ja nicht allein öffentlich wirken; sie seien vielmehr selbst als Institution Teil der Gesellschaft. Das Ringen um Kapitel 6 des gemeinsamen Wortes zeige das zugrundeliegende Dilemma auf. In den meisten Bistümern sei die Rezeption bisher im wesentlichen als Freiwilligenveranstaltungen einzelner Einrichtungen, wie Akademien, Sozialinstituten und Verbänden, verlaufen. Es fehle an einer mittelfristig verbindlichen Pastoralplanung, die auch über das Jahr 2000 hinausweise. Prof. Dr. Wolfgang Ockenfels hält prinzipiell die Frage für klärungsbedürftig, ob und inwieweit es von seiten der Kirchen selbst eine Reaktion auf die bisherige Rezeption des gemeinsamen Wortes insbesondere in politischer Hinsicht gegeben habe. Seine konkreten Wirkungen, etwa im Blick auf das Bundestagswahlergebnis oder bestimmte politische Entscheidungen, seien empirisch schwer feststellbar. Die Frage sei jedoch, wie die Kirchen selbst Herr des weiteren Verfahrens sein könnten, wenn sie feststellen müßten, daß die Äußerungen des gemeinsamen Wortes grob mißverstanden oder manipulativ und selektiv im Sinne einer einseitigen parteipolitischen Propaganda mißbraucht werden. Die Kirchen müßten in diesem Falle dann doch ihrerseits intervenieren und zum Ausdruck bringen, was sie tatsächlich bezweckt hätten. So lasse sich das Wort gewiß nicht auf die Primitivebene von Arm und Reich reduzieren. Staatssekretär Dr. Andreas Birkmann hält eine Politisierung des Wortes der Kirchen, wie sie unter anderem von Ministerpräsident Lafontaine bei der erwähnten Fernsehdiskussion zum Ausdruck kam, ebenfalls für nicht sachgerecht. Gleiches gelte hinsichtlich der von ihm zur Sprache gebrachten Trennung der Gesellschaft in Arme und Reiche. Er erinnert in diesem Zusammenhang an die Diskussion auf dem Katholikentag über die Situation der Familie, als Lafontaine unzulässigerweise Familie mit dem Beisammensein Erwachsener mit Kindern gleichgesetzt habe. Eine solche Auffassung widerspreche dem Grundverständnis von Ehe und Familie, wie es dankenswerterweise in dem gemeinsamen Wort zum Ausdruck komme. Er stimmt Herrn Dr. Seeber im übrigen in der Bewertung zu, die Situation der Familie könne und dürfe nicht allein unter finanziellen und materiellen Aspekten beschrieben werden. Doch dürften auch diese Aspekte in einem Papier zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland nicht zu kurz kommen. Insofern sei er über die Aufnahme der Familie in das Papier mit dieser Bedeutung froh und dankbar. Dessen ungeachtet komme es darauf an, den Grundwert der Familie über die materiellen Aspekte hinaus im Verlauf der weiteren Diskussion zu verdeutlichen und herauszustellen. Frau Eva-Maria Welskop-Deffaa hält in den Ausführungen von Herrn Dr. Seeber besonders die Aussage für spannend, daß das gemeinsame Papier zwar für sich in Anspruch nehme, daß der Konsultationsprozeß den Grundkonsens verbreitert habe, die Rezeption des gemeinsamen Wortes demgegenüber jedoch alte Grenzen, alte Gräben wieder erkennbarer gemacht habe. Wenn dies tatsächlich zutreffe, sei die Rezeption des gemeinsamen Wortes tatsächlich ein außerordentlicher Erfolg gewesen, weil das Bemühen um Einheitlichkeit um jeden Preis den Kirchen nicht guttue. Wenn es demgegenüber dem gemeinsamen Wort gelungen sei, die Vielfalt der Meinungen wieder auf einer gemeinsamen Wertebasis erkennbar zu machen, so daß jeder nach seinem eigenen Profil glaubwürdig Christsein verkörpern könne, wäre das damit verfolgte Ziel erreicht. Sie vermöge es deshalb auch überhaupt nicht als eine Schwäche des gemeinsamen Wortes zu erkennen, daß der Duktus uneinheitlich sei. Für sie sei es gerade eine Riesenchance, wenn ihm anzumerken sei, daß sich verschiedene Menschen an dem Prozeß beteiligt hätten und nicht versucht worden sei, in einem Gewaltakt künstlich eine nicht vorhandene Einheit herstellen zu wollen. Dr. Thomas Sternberg schließt sich dieser Wertung der Pluralität des Textes ausdrücklich an. Seine diesbezügliche Aussage habe sich auf die Frage bezogen, inwieweit die normativen Aussagen der Kapitel 3 und 4 schlüssig ihren Niederschlag in den Kapiteln 2, 5 und 6 gefunden hätten. Dr. David Seeber unterstreicht in seiner Erwiderung, auch bei der Lektüre der verschiedenen Reaktionen habe er den geäußerten Widerspruch viel spannender gefunden als jedwede Zustimmung. Deshalb habe er auch an einigen Punkten aufzuzeigen versucht, daß aus dem Widerspruch selbst so etwas wie ein konstruktiver Rezeptionsprozeß entstehen und weitergeführt werden könne. Was die innerkirchliche Rezeption angehe, habe ein evangelischer Gesprächspartner ihm gegenüber zwar dieser Tage gemeint, auf katholischer Seite liefe vieles leichter und einfacher, weil die Verbände initiativ würden, während auf evangelischer Seite das, was geschehe, im wesentlichen vom persönlichen Engagement einzelner oder von Bildungseinrichtungen und -institutionen abhänge. Ob und inwieweit sich aus der heutigen Stellung der katholischen Verbände jedoch tatsächlich ein erkenn- und verwertbarer Vorteil ergebe, sei allerdings fraglich. Zu der Frage, ob der Konsens habe verstärkt werden können oder nicht, sei ihm aufgefallen, daß es zum Beispiel in der Einschätzung von Sozialer Marktwirtschaft etwa durch den Vorsitzenden des BKU sehr engagierte und auch weiterführende Gedanken gebe. Eine Unterscheidung zu Stellungnahmen von Wirtschaftsverbänden außerhalb der Kirchen sei dabei indessen kaum wahrnehmbar. Ähnlich sei es auf der verbandlichen Arbeitnehmer- beziehungsweise gewerkschaftlichen Seite. Für die Fähigkeit zum innerkirchlichen Meinungsaustausch ergäben sich daraus trotz der gesamtgesellschaftlich herrschenden Pluralität dennoch wichtige weiterführende Ansätze. Was die innerkirchliche Rezeption des gemeinsamen Wortes angehe, sei eine Analyse angesichts fehlender empirischer Grundlagen schwierig. Er habe jedoch den Eindruck gewonnen, daß sie insgesamt schwächer sei als die Beteiligung im Konsultationsprozeß, die bis in die Gemeindeebene hineingereicht habe. Dies sei alles in allem jedoch verständlich, da ein solches Wort bei aller Interessengebundenheit eher politisch, verbandlich oder auch parteipolitisch als auf der gemeindlichen Ebene aufgenommen und umgesetzt werde. Wie die Rezeption insgesamt gezeigt habe, wäre es deshalb auch nicht sinnvoll, den vorausgegangenen Konsultationsprozeß aufgreifen beziehungsweise fortsetzen zu wollen. Dies hindere jedoch nicht daran, aufgetretene Widersprüche aufzugreifen und zu einer neuen Stufe kirchlichen, innerkirchlichen oder kirchlich- gesamtgesellschaftlichen Gesprächs zu gelangen. Dabei müßten und könnten selbstverständlich andere inhaltliche Elemente mit unter Umständen auch anderen methodischen Ansätzen aufgegriffen werden. Jedenfalls wäre es bedauerlich und dem Gesamtvorhaben nicht angemessen, wenn die Diskussion nicht weitergeführt würde. Zu dem Vorhalt, ob und inwieweit die Kirchen für ihren eigenen Bereich Folgerungen aus dem Wort gezogen haben, bemerkt er, daß er persönlich mit dem diesbezüglichen Kapitel 6 einige Schwierigkeiten habe. Natürlich sei die Kirche auch Wirtschaftsunternehmen und als Arbeitgeberin für ihre Pfarrer, Angestellten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den verschiedenen karitativen Einrichtungen verantwortlich. Selbstverständlich müßten die Kirchen darüber auch Rechenschaft abgeben. Nur müsse man auch sehen, daß die plurale Gesellschaft vielfach dazu neige, Kirche in allem, was sie sei, für sich zu vereinnahmen. Keineswegs dürften dabei jedoch der Glaubensauftrag und die Verkündigung der Kirche verdeckt, vernachlässigt, oder gar in Frage gestellt werden. Die Kirche müsse selbstverständlich zwar als Wirtschaftsunternehmen nach den sozialen Regeln handeln, die sie für andere aufstelle. Andererseits müsse beim Umgang mit Personal der Glaubensvollzug und die Glaubenszielsetzung im Vordergrund stehen. Ehe etwa Pfarrerstellen gestrichen würden, weil sie angeblich nicht mehr finanziert werden könnten, müsse darüber nachgedacht werden, ob und inwieweit finanziell andere Prioritäten gesetzt werden könnten, damit die Seelsorge, zu der die Kirche verpflichtet sei, nicht darunter leide. Dr. Thomas Sternberg bemerkt zusammenfassend, das letztgenannte Anliegen versuche die Ziffer 256 des gemeinsamen Wortes zum Ausdruck zu bringen, auch wenn es alles in allem schwierig sei, die Weltgestalt der Einrichtung Kirche in ihrem geistlichen Auftrag begrifflich zu umschreiben. Er sehe in der Frage nach den personalen Elementen der Kirche als Grundlage für ihr seelsorgerliches, wirtschaftliches und soziales Handeln gleichzeitig einen wichtigen Ansatzpunkt für die weitere kritische Rezeption des gemeinsamen Wortes. In diesem Sinne dankt er abschließend Herrn Dr. Seeber noch einmal sehr herzlich für seine sehr guten und fundierten Ausführungen und für seine Bereitschaft, sich der Diskussion zu stellen. ------------------------------------------------------------------------------------- Gesellschaftspolitische Gegenwartsdiagnosen Prof. Dr. Franz-Xaver Kaufmann führt in die zweite Vortrags- und Arbeitseinheit ein. Er stellt die beiden Referenten, Herrn Prof. Dr. Carl Christian von Weizsäcker, und Herrn Prof. Dr. Michael Zöller vor und dankt ihnen für die Bereitschaft, an der wissenschaftlichen Studientagung der Kommission VI der Deutschen Bischofskonferenz mitzuwirken. Er teilt im übrigen mit, daß Herr Prof. Dr. Zöller unmittelbar im Anschluß an seinen Vortrag und eine anschließende kurze Diskussionsrunde wieder die Veranstaltung verlassen müsse, um rechtzeitig einen weiteren Anschlußtermin zu erreichen. Prof. Dr. Carl Christian von Weizsäcker: Krise des Sozialstaates 1. Das gemeinsame Wort dient der Verteidigung des Status Quo In diesem Vortrag kann ich nicht auf alle Details des ja recht umfangreichen gemeinsamen Worts eingehen. Das gemeinsame Wort ist zustandegekommen als Ergebnis eines lang dauernden Diskussionsprozesses und es überrascht nicht, daß es sehr stark ein Wort des "sowohl als auch" ist. Ähnlich wie bei Parteiprogrammen oder gewerkschaftlichen Grundsatzprogrammen wird ein breites Spektrum von Gesichtspunkten und Interessen in einen Text integriert, dessen Ziel es natürlich sein soll, eine möglichst breite Zustimmung zu erfahren. Bei aller Mahnung zum Erfordernis der Veränderung ist das gemeinsame Wort letztlich eine konservative Stellungnahme. Am klarsten kommt dies in der These 4 der einleitenden 10 Thesen heraus, die als Hinführung bezeichnet werden. Diese These 4 lautet: "In der sozialen Sicherung spricht nichts für einen Systemwechsel, Reformen aber sind unerläßlich". Dieser Konservatismus kann nicht überraschen. Die beiden großen Kirchen sind verankert in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten Deutschlands und diese Schichten sind im Diskussionsprozeß alle auch zu Wort gekommen. Es ist nicht zu erwarten, daß der Status Quo grundsätzlich in Frage gestellt wird. Die beiden Hauptbegriffe des gemeinsamen Worts sind der der Sozialen Marktwirtschaft als positiver Begriff und der der Arbeitslosigkeit als negativer Begriff. Damit befindet sich das gemeinsame Wort wohl in Übereinstimmung mit zahlreichen anderen Verlautbarungen in der heutigen Zeit. Was aber ist Soziale Marktwirtschaft? Der Konservatismus des gemeinsamen Worts spiegelt sich auch darin wider, daß unser gegenwärtiges sozialstaatliches Institutionensystem mehr oder weniger eindeutig identifiziert wird mit dem Begriff der Sozialen Marktwirtschaft. Es wird in dem gemeinsamen Papier nicht der Frage nachgegangen, ob nicht auch ganz andere Institutionen verträglich wären mit dem Ziel einer Sozialen Marktwirtschaft, ob nicht ganz andere Institutionen die eigentliche Zielsetzung der Sozialen Marktwirtschaft besser erreichen könnten als unsere gegenwärtigen. In diesem Vortrag möchte ich Ihnen in stark verkürzter Form darlegen, weshalb ich der Ansicht bin, daß wir radikale Reformen brauchen, daß wir einen großen Teil der heutigen Institutionen grundsätzlich in Frage stellen müssen. Und ich möchte an die Kirchen appellieren, in dem fortgehenden Diskussionsprozeß den Horizont zu erweitern und diese Gesichtspunkte nicht auszublenden wie im gemeinsamen Wort geschehen, sondern mit einzubeziehen. Ehe ich aber darauf komme, noch ein Wort zu der Wirkung des gemeinsamen Worts, insbesondere im politischen Bereich. In dem gerade abgelaufenen Wahlkampf zum neuen Bundestag ist das gemeinsame Wort der Kirchen ganz eindeutig auf seiten der SPD verwendet worden, um den Status Quo der Sozialpolitik gegenüber den Reform- und Veränderungsmaßnahmen, die von der bisherigen Regierung durchgeführt worden sind, zu verteidigen. Obwohl in dem gemeinsamen Wort an verschiedenen Stellen zu lesen ist, daß man um Einschränkungen sozialstaatlicher Leistungen nicht herumkommt, hat sich der konservative Grundtenor des Wortes dahingehend ausgewirkt, daß man auf seiten der SPD dieses gemeinsame Wort als Argumentationshilfe im Kampf gegen solche Einschränkungen benutzt hat. 2. Der heutige Sozialstaat ist die Ursache hoher Arbeitslosigkeit Im Zentrum der Sorgen um unser Sozialsystem steht die hohe Arbeitslosigkeit. Das gemeinsame Wort enthält keine einheitliche Ursachenanalyse des Phänomens der Arbeitslosigkeit. Die Diskussion über die Ursachen der Arbeitslosigkeit ist in unserer Gesellschaft kontrovers und das spiegelt sich in dem gemeinsamen Wort der Kirchen wider. Entsprechend sind auch die Empfehlungen in dem gemeinsamen Wort, wie die Arbeitslosigkeit bekämpft werden kann, heterogen und nicht von einer einheitlichen Konzeption bestimmt. Es wird sowohl eine gewisse Lohnzurückhaltung empfohlen, um die Kosten der Arbeit nicht zu steigern, als auch eine aktive Arbeitsmarktpolitik des Staates in den verschiedensten Formen. Vollkommen ignoriert wird die Frage, ob unsere sozialstaatlichen Institutionen nicht selbst die Ursache der hohen Arbeitslosigkeit sind. Würde man diese Frage bejahen, dann könnte man nicht gleichzeitig zu Recht darauf hinweisen, daß die hohe Arbeitslosigkeit das zentrale Moment für die Schwierigkeiten der Finanzierung des heutigen Sozialstaates sind und diesen Sozialstaat in seinen gegenwärtigen Institutionen verteidigen. Ich bin der Meinung, daß unsere gegenwärtigen sozialstaatlichen Institutionen die Hauptursache für unsere Beschäftigungsprobleme darstellen. Daraus folgt für mich, daß wir unsern Sozialstaat radikal umbauen müssen. Ich kann in diesem Vortrag aus zeitlichen Gründen nicht so sehr in Details gehen, um diese Diagnose zu begründen. Aber die wirtschaftliche Realität gibt mir ein empirisches Argument hoher Plausibilität in die Hand: die Vereinigten Staaten von Amerika. Es ist vielleicht nicht zufällig, daß das "Beschäftigungswunder" in den USA in dem gemeinsamen Wort der Kirchen praktisch keine Rolle spielt. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit diesem Phänomen und den daraus zu ziehenden Lehren hätte möglicherweise den Versuch eines gemeinsamen Wortes zum Scheitern gebracht. Möglicherweise wäre es dann nicht möglich gewesen, den institutionellen Konservatismus des gemeinsamen Wortes durchzuhalten, der seinerseits wahrscheinlich Voraussetzung dafür ist, daß überhaupt ein so breiter Konsens innerhalb der beiden Kirchen erzielt werden konnte. Es ist schon einige Jahre so, daß in den Vereinigten Staaten von Amerika jeder Mann und jede Frau im Alter zwischen 18 und 65 keine Schwierigkeit hat, einen Arbeitsplatz zu finden, der ihn oder sie ernährt, sofern drei Vorbedingungen erfüllt sind: 1. Gesundheit, 2. eine normale Schulbildung und 3. keine kriminelle Vergangenheit. Es gibt natürlich auch in den USA viele Menschen, bei denen diese drei Bedingungen nicht erfüllt sind. Es gibt kranke Menschen, die deswegen nicht so leistungsfähig sind, daß sie ohne weiteres Arbeit finden. Es gibt Menschen, die aufgrund ihres Wohnorts und ihrer familiären Benachteiligung keine vernünftige Schulbildung genossen haben. Und es gibt Menschen - in den USA sehr viel zahlreicher als bei uns -, die schon einmal kriminell geworden sind und bestraft wurden. Aus Gründen, die ich jetzt im einzelnen nicht darlegen will, sind diese drei Voraussetzungen bei der weißen Bevölkerung in einem wesentlich höheren Prozentsatz verwirklicht als bei der schwarzen Bevölkerung. Der durchschnittliche Gesundheitsstand, der durchschnittliche Bildungsstand und die durchschnittliche Kriminalitätsrate der weißen Bevölkerung in den USA entsprechen ungefähr denen Deutschlands. Aber die echte soziale Integration der Schwarz-Amerikaner ist bisher mißlungen. Das Arbeitsvolumen pro Kopf der Bevölkerung, ausgedrückt in geleisteten Arbeitsstunden pro Jahr, umgerechnet auf die Gesamtbevölkerung ist größenordnungsmäßig um ein Viertel höher als in Deutschland. Es ist nicht nur so, daß sehr viel mehr Personen im Alter zwischen 18 und 65 Jahren in den USA einer bezahlten Tätigkeit nachgehen als in Deutschland; die durchschnittliche Arbeitszeit, die sie absolvieren, ist ebenfalls größer. Das amerikanische Beispiel widerlegt sowohl die These, die Arbeitslosigkeit beruhe auf der Niedriglohn-Konkurrenz der Schwellenländer als auch die These, die Arbeitslosigkeit sei die Folge der Rationalisierung im Produktionsprozeß. Denn die USA sind der sogenannten Niedriglohnkonkurrenz in noch größerem Ausmaß ausgesetzt als die europäischen Länder. Die USA importieren ungleich mehr Waren aus den asiatischen Schwellenländern und sie haben mit einem Entwicklungsland mit sehr niedrigen Löhnen, nämlich Mexiko, ein Freihandelsgebiet errichtet, was zu einer massiven Erhöhung der Importe aus Mexiko geführt hat. Wichtige Teile zum Beispiel der amerikanischen Autozulieferindustrie sind über die Grenze nach Mexiko abgewandert. Auch der technische Fortschritt, auch der Computer und sein Rationalisierungspotential können nicht die Ursache unserer Beschäftigungsprobleme hier in Deutschland sein. Denn in den USA wird genauso massiv mit Hilfe des Computers rationalisiert wie bei uns. Pro Arbeitsplatz gibt es in den USA wesentlich mehr Computer als bei uns. Was allerdings anders ist, ist der Sozialstaat. Er ist in den USA wesentlich weniger stark ausgebaut als bei uns, und so besteht in den USA ein ganz anderer Druck auf den einzelnen, Arbeit zu finden, um zu überleben. Die Folge davon ist, daß auch relativ niedrig qualifizierte Personen in den USA Tätigkeiten erfüllen, die bei uns - sofern sie überhaupt ausgefüllt werden - von Ausländern durchgeführt werden, heutzutage vor allem Polen und Personen aus anderen östlichen Nachbarstaaten. Die Statistiken weisen aus, daß die sogenannte Lohnspreizung in den USA in den vergangenen 30 Jahren stark gestiegen ist. Bei uns in Deutschland ist der gegenteilige Trend zu beobachten gewesen. Betrachten wir unseren Arbeitsmarkt näher, gerade auch im Vergleich mit den USA, so stellen wir fest, daß er die Bezeichnung "Markt" nur noch sehr eingeschränkt verdient. Unsere sozialstaatlichen Errungenschaften haben - gerade beim sogenannten Arbeitsmarkt - die Marktkräfte so weit eingeengt, daß wir hier gar nicht mehr von Marktwirtschaft sprechen können. In diesem Sinne ist auf dem Sektor Arbeit unsere Soziale Marktwirtschaft so "sozial" geworden, daß sie keine Marktwirtschaft mehr ist. Wenn das gemeinsame Wort an der Leitvorstellung einer Sozialen Marktwirtschaft festhält und es an verschiedenen Stellen auch immer betont, daß dazu beides gehört, sowohl das Soziale als auch das Marktmäßige, dann entsprechen unsere realen Verhältnisse im Bereich der Arbeit nicht mehr dieser Leitvorstellung. Weshalb sind wir denn für eine Marktwirtschaft? Deswegen, weil wir erkannt haben, daß die Koordinationskräfte des Marktes weitaus größer sind als die aller anderen Institutionen. Und so brauchen wir, um das Beschäftigungsproblem zu lösen, einen wirkungsmächtigen Mechanismus, um die Koordination zwischen Arbeitsangebot (zwecks Erwerb eines Lebensunterhalts) und Arbeitsbedarf zu erreichen. Das Beschäftigungsproblem kann nur gelöst werden, wenn diese Koordination gelingt - und deshalb brauchen wir einen funktionsfähigen Arbeitsmarkt. Unser Arbeitsmarkt ist aber nicht mehr voll funktionsfähig. Die Wirtschaftslehre hat im Verlauf der letzten Jahrhunderte und auch noch der letzten Jahrzehnte als Wissenschaft klar dargelegt, daß Märkte als Wettbewerbsmärkte am besten funktionieren. Auf dem Arbeitsmarkt werden aber die Arbeitsbedingungen sehr weitgehend von den beiden Kartellen der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber festgelegt. Es wird der Wettbewerb hier bewußt ausgeschaltet. Kartellbildung ist auf normalen Güter- und Dienstleistungsmärkten gemäß unserem Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen verboten. Wenn es keine Kartelle gibt und wenn auch andere Bedingungen der Funktionsfähigkeit des Marktes erfüllt sind, dann paßt sich der Preis auf dem Markt so an, daß zwischen Angebot und Nachfrage ein Ausgleich erzielt wird. Die Tarife, die flächendeckend zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern ausgehandelt werden, sind nicht derartige Gleichgewichtspreise. Wie das amerikanische Beispiel zeigt, wären auf einem wettbewerblichen Arbeitsmarkt die Lohnunterschiede zwischen geeignet qualifizierten und anderen Arbeitnehmern weitaus größer als sie es in Deutschland sind. So entsteht bei uns ein massives Überangebot an gering qualifizierter Arbeit, die bei den heute gültigen Lohnkosten nicht nachgefragt wird. Diese Fehlsteuerung auf dem Arbeitsmarkt wird abgestützt durch das Arbeitsrecht und durch unsere Institutionen der Sozialversicherung und des Sozialstaates. Durch die Rechtsprechung der Arbeitsgerichte, insbesondere des Bundesarbeitsgerichts haben wir ein extrem "arbeitnehmerfreundliches" Arbeitsrecht erhalten. Der Kündigungsschutz ist massiv ausgedehnt worden. Den Kirchen sollte der Mißstand nicht gleichgültig sein, der heute in unserem Lande herrscht: Es ist leichter eine Ehe zu scheiden als ein Arbeitsverhältnis zu beenden, sofern der Wunsch für diese Beendigung von seiten des Arbeitgebers ausgeht. Das Arbeitsrecht als zwingendes Recht beschränkt die Vertragsfreiheit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Die Idee dabei war der Schutz des Schwächeren, des Arbeitnehmers. Traditionell bei unzureichender regionaler Koordinationsmöglichkeit von Arbeitsangebot und Arbeitsbedarf mag einiges dafür gesprochen haben, daß es so etwas wie eine strukturelle Unterlegenheit des Arbeitnehmers gegeben hat. Der Arbeitnehmer mag häufig seinem jeweiligen Arbeitgeber ohne Alternative ausgeliefert gewesen sein. Heute kann dies so nicht mehr gesagt werden. Die moderne Transport- und Kommunikationsinfrastruktur macht es für den typischen Arbeitnehmer möglich, einen anderen Arbeitgeber zu finden, wenn der bisherige ihn schlecht behandelt. Das ist nur dann nicht der Fall, wenn der Gesamtarbeitsmarkt nicht genügend Beschäftigungsmöglichkeiten bietet. Wenn aber das Arbeitsrecht selbst die Ursache der hohen Arbeitslosigkeit ist, dann schützt es den Arbeitnehmer vor nichts anderem als vor seinen eigenen negativen Konsequenzen. Das Arbeitsrecht ist sozusagen der Mißstand, für dessen Beseitigung es sich hält. Erst durch das Arbeitsrecht selbst entsteht die Asymmetrie zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, welche den Arbeitnehmerschutz des Arbeitsrechts legitimiert. Auch die Mitbestimmung, so wie sie in Deutschland verwirklicht worden ist, wirkt sich negativ auf die Funktionsfähigkeit des Arbeitsmarktes aus. Bei den Verhandlungen über die zwischen den Kartellen ausgehandelten Löhnen sitzen auf seiten der Arbeitgeber Vertreter von Unternehmen, die von einem Aufsichtsrat ernannt werden, welcher fast zu 50% aus Arbeitnehmervertretern und insbesondere Gewerkschaftsvertretern besteht. Kein für Personalfragen und damit Lohnpolitik zuständiges Vorstandsmitglied eines großen deutschen Unternehmens kann es sich leisten, gegen die Macht der Gewerkschaft auf Konfrontationskurs zu gehen. Lassen Sie mich das noch etwas grundsätzlicher angehen. Ich möchte die These aufstellen: Die Ausschaltung der Marktkräfte im Interesse der sozial Schwächeren auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland ist überhaupt nicht sozial. Ludwig Erhard, auf den sich alle berufen, die von Sozialer Marktwirtschaft sprechen, hat einmal gesagt: "Wenn ich von sozialer Marktwirtschaft spreche, dann meine ich damit, daß die Marktwirtschaft als solche sozial ist. Nicht, daß sie erst sozial gemacht werden muß." Wenden wir diesen Ausspruch an auf die Verhältnisse des deutschen Arbeitsmarktes. Alle Märkte und so auch die Arbeitsmärkte tendieren jeweils zu einem Gleichgewicht der Kräfte zwischen der Angebotsseite und der Nachfrageseite. Auf dem Arbeitsmarkt gehört dazu ein gewisses gleichgewichtiges Maß der Arbeitslosigkeit. Wird dieses gleichgewichtige Maß der Arbeitslosigkeit unterschritten, besteht wegen der besseren Beschäftigungschancen ein Kräfteübergewicht der Arbeitnehmerseite. Dies führt zu einem inflatorischen Lohnauftrieb. Die Löhne steigen rasch an, die gestiegenen Lohnkosten können von den Unternehmen auf die Preise überwälzt werden, es kommt zu Preissteigerungen, zur Inflation. Diese Inflation wird von der Zentralbank im Interesse der Preisstabilität dadurch bekämpft, daß die Zentralbank die Liquiditätsversorgung der Volkswirtschaft verknappt. Es kommt zu einer Stabilisierungsrezession. Die Konjunkturverschlechterung führt dazu, daß die Arbeitslosigkeit steigt und schließlich auf ihr gleichgewichtiges Niveau kommt. Ist umgekehrt die tatsächliche Arbeitslosigkeit höher als das Gleichgewichtsniveau, so gibt es eine Kräfteübergewicht der Arbeitgeber. Die Lohnsteigerungen hinken hinter dem Produktivitätszuwachs hinterher. Die Gewinne steigen, es besteht kein allgemeiner Preisauftrieb, die Zentralbank kann die Volkswirtschaft großzügiger mit Liquidität versorgen und so verbessert sich die Konjunktur. Diese Konjunkturverbesserung als Folge der geringen Lohnsteigerung und der Reaktion der Zentralbank darauf führt nun zu mehr Beschäftigung und führt damit die Arbeitslosenrate zurück auf ihr Gleichgewichtsniveau. Die interessante Frage ist nun, wo dieses Gleichgewichtsniveau der Beschäftigung liegt. Es ist offensichtlich, daß das gleichgewichtige Beschäftigungsniveau in den Vereinigten Staaten wesentlich höher liegt als in Deutschland. Der Grund für diesen Unterschied liegt in der ungleich stärkeren institutionellen Stellung der Arbeitnehmer in Deutschland als in Amerika. Wäre bei uns das Beschäftigungsniveau so hoch wie es in den Vereinigten Staaten tatsächlich ist, so gäbe es ein massives Kräfteübergewicht der Arbeitnehmer. Dies würde sich in zweistelligen Lohnsteigerungsraten auswirken. Und es würde der Prozeß ablaufen, den ich oben beschrieben habe, nämlich eine massive Rezession zwecks Stabilisierung des Preisniveaus mit entsprechend steigender Arbeitslosigkeit. Daß dies in den Vereinigten Staaten trotz hohen Beschäftigungsniveaus nicht geschieht, liegt daran, daß die institutionelle Stellung der Arbeitnehmer schlechter ist als in Deutschland. Die starke institutionelle Stellung der Arbeitnehmer bei uns bedeutet ein hohes Gleichgewichtsniveau der Arbeitslosigkeit. Erst bei dieser hohen Arbeitslosigkeit ist das Kräftegleichgewicht zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern wieder hergestellt. Die hohe Arbeitslosigkeit ist erforderlich, um die starke institutionelle Stellung der Arbeitnehmer zu kompensieren. Der überzogene Arbeitnehmerschutz des deutschen Arbeitsrechts, die massive sozialstaatliche Absicherung der Verhandlungsmacht der Gewerkschaften in Tarifverhandlungen - sie sind es, die die hohe Arbeitslosigkeit bewirken und es ist sehr zweifelhaft, ob diese im Interesse des Schutzes des Schwächeren gedachten institutionellen Vorkehrungen in unserer Gesellschaft wirklich sozial sind. Wir können dies auch so ausdrücken: Wir haben offenbar zu wenig Arbeitgeber. Um mehr Arbeitgeber zu bekommen, brauchen wir ein arbeitgeberfreundliches und nicht ein arbeitnehmerfreundliches Klima. Dann wären mehr Personen bereit, selbständig zu werden und Arbeitsplätze zu schaffen. Dann wären die Großunternehmen bereit, versuchsweise mehr Personen einzustellen, wenn die Konjunktur anzieht, da sie leichteres Spiel hätten, diese auch wieder zu entlassen, wenn die Konjunktur zurückgeht. Dann würden ausländische Unternehmen wieder mehr in Deutschland investieren und hier Arbeitsplätze schaffen. Ein wirkliches Verständnis davon, was Marktwirtschaft ist, fehlt in dem gemeinsamen Wort. Es wird nicht genügend beachtet, daß es in der Marktwirtschaft Grenzen dessen gibt, was man landläufig das "Soziale" nennt. Dort, wo vor lauter Schutz des Schwächeren die Marktmechanismen selbst massiv außer Kraft gesetzt werden, kann man von Sozialer Marktwirtschaft nicht mehr sprechen, denn soziale Marktwirtschaft ist eine bestimmte Form von Marktwirtschaft. Und dort handelt man auch nicht wirklich im Interesse der Schwachen. Denn es sind gerade die Schwachen, die unter der hohen Arbeitslosigkeit leiden, welche ihrerseits Folge der Beseitigung der Marktwirtschaft im Bereich der Arbeit ist. 3. Nur konsequente Anwendung des Subsidiaritätsprinzips kann den Sozialstaat stabilisieren Ich befasse mich nun mit dem Begriff der Subsidiarität. In bezug auf diesen Begriff kritisiere ich das gemeinsame Papier der Kirchen ebenso wie in bezug auf den Begriff der Marktwirtschaft. Diese beiden Begriffe scheinen mir gemäß dem Gesamtduktus des Papiers vor allem Lippenbekenntnisse zu sein. Sie werden nur formelhaft verwendet und der eigentliche Sinn der Phänomene, die hinter diesen Begriffen stehen, wird in der Gesamtanalyse ignoriert. Am Beispiel des Beschäftigungsproblems habe ich dies versucht, in bezug auf den Begriff der Marktwirtschaft darzulegen. Nun aber zum Begriff der Subsidiarität. Unser ausgebauter Wohlfahrtsstaat oder Sozialstaat ist in eine Finanzkrise geraten. Woher kommt diese Finanzkrise? Ich glaube, sie kommt daher, daß die Ideologie dieses Sozialstaates, der in großen Teilen auch das gemeinsame Papier verpflichtet ist, das Prinzip der Subsidiarität ignoriert. Diese Ideologie des Sozialstaates hat sich in reinster Form in den 70er Jahren manifestiert, als die Wachstumsraten, die man in der jüngeren Vergangenheit erlebt hatte, noch höher waren und als man sich auf dieser Basis der vollen Kassen anschickte, das Gesamtgebäude von Ludwig Erhard - in den 50er und 60er Jahren als Soziale Marktwirtschaft aufgebaut - massiv zu verändern. Diese Ideologie manifestierte sich in der Haltung, nach der jede Erweiterung des Spektrums sozialer Leistungen als ein Fortschritt deklariert wurde. Jeder weitere damit verbundene Entzug des individuellen Einkommens und jede weitere Umwandlung dieses individuellen Einkommens in ein Kollektiveinkommen einer Sozialkasse wurde als Sieg des Fortschritts gefeiert. Dieser Gedankenwelt entspricht die Umkehrung des Subsidiaritätsprinzip, entspricht das, was ich nennen möchte auf den Kopf gestellte Subsidiaritätsprinzip: Alles, was der Staat leisten kann, soll vom Staat geleistet werden. Private Leistungen sollen dann einspringen, wenn der Staat überfordert ist. Soviel Staat wie möglich, soviel dezentrale Lösungen wie unbedingt nötig. Dieses auf den Kopf gestellte Subsidiaritätsprinzip wird von seinen Anhängern gerechtfertigt im Namen der Gerechtigkeit. Es ist ungerecht, daß der Reiche eine bessere medizinische Behandlung erfährt als der Arme. Daher wird die Finanzierung des Gesundheitssystems kollektiviert. Es ist ungerecht, daß der Reiche Studiengebühren aufbringen kann, der Arme aber nicht. Daher werden die Universitäten und sonstigen höheren Schulen vom Staat finanziert und nicht von den Studenten. Und deshalb werden die Patienten von Kunden des Gesundheitssystems zu seinen Untertanen. Und die Studenten werden von zahlenden Kunden zu Untertanen des Universitätssystems. Die soziale Kompetenz des frei auswählenden Kunden verkümmert im Gesundheitssystem und im Hochschulsystem und wird ersetzt durch die reglementierten schlangestehenden Untertanen eines die Knappheit bürokratisch verwaltenden Herrschaftssystems von Experten und ihren Aufsehern. Dies hat massive Rückwirkungen auf den Charakter des Menschen. Der Mensch wird immer weniger charakterlich in der Lage sein, sich selbst zu helfen. Indem der Wohlfahrtsstaat wuchs und sich immer weiter verästelte, begann die Bevölkerung ihr Verhalten auf dieses Phänomen einzustellen. Es gibt viele dieser Geschichten über die illegale Ausnutzung des Sozialstaats: Beispiel Schwarzarbeit bei gleichzeitiger Inanspruchnahme der Arbeitslosenversicherung. Die Schätzungen über das Wachstum der Schattenwirtschaft sind naturgemäß unpräzise. Aber niemand bestreitet im Ernst das dynamische Wachstum dieses Teils unserer Volkswirtschaft. Indessen glaube ich, die Ausnutzung des Wohlfahrtsstaates, die vor allem für seinen zu erwartenden Finanzkollaps verantwortlich ist, ist die vollkommen legale Form. Erlauben Sie mir, dies anhand des Problems der Altersrenten klarzumachen. Der Wohlfahrtsstaat erlaubt es einem, auf Kinder zu verzichten. Die traditionelle Form der Altersvorsorge ist die durch das Aufziehen von Kindern in einer Familie und durch Erziehung dieser Kinder zur Dankbarkeit gegenüber den Eltern. Dieses Verfahren wird bis heute in der Dritten Welt praktiziert und führt dort zu dem großen Bevölkerungsdruck, von dem wir alle wissen und den wir bedauern. In Deutschland haben wir zunehmend das umgekehrte Problem. Zuviele Alte, zu wenige Junge wegen zu geringer Geburtenzahlen. Der Wohlfahrtsstaat mit seinem System der großzügigen Altersrente entlastet den Menschen von der Last, die Kinder aufziehen zu müssen. Eine weitere Folge dieser demographischen Konsequenzen des Wohlfahrtsstaats ist die Erosion der Netzwerke der Verwandtschaft. Wenn man im Durchschnitt zwei Geschwister hat, hat man im Durchschnitt 12 Vettern und Cousinen ersten Grades und im Durchschnitt 36 Vettern und Cousinen zweiten Grades, insgesamt also rund 50 Verwandte in der gleichen Generation. Dazu kommt eine Fülle von Tanten und Onkeln, später dann Schwägern und Schwägerinnen, angeheirateten Vettern und Cousinen, Neffen und Nichten. Wenn man im Durchschnitt - wie heute in Deutschland - ein halbes Geschwister hat, so hat man im Durchschnitt zwei Vettern und Cousinen ersten Grades und vielleicht fünf Vettern und Cousinen zweiten Grades. Insgesamt also ungefähr 7,5 Verwandte in der gleichen Generation. Entsprechendes gilt für die anderen Verwandten. Natürlich kann ein derart kleines Netzwerk an Verwandten ungleich weniger soziale Funktionen der Risikoabsicherung, der gegenseitigen Hilfe übernehmen als die traditionell großen Verwandtschaftsnetze. Eine andere Form der Ausbeutung des Wohlfahrtsstaats ist der Trend zum immer früheren Eintritt in den Rentenstatus. Die Höhe der Rente ist dafür ganz wesentlich verantwortlich. Niemand würde sich nach der Frühverrentung drängen oder in die Frühverrentung gedrängt werden können, wenn er nur eine im Vergleich zu seinem Arbeitseinkommen schmale Rente beziehen würde. So haben wir das Paradox einer steigenden Lebenserwartung der Bevölkerung und eines sinkenden Alters der Beendigung der Berufstätigkeit. Das Rentenproblem, die Frage, ob die Renten noch sicher sind, ob sie überhaupt noch bezahlt werden können, sie beruhen auf demographischen Entwicklungen wie geringe Geburtenzahlen und eine steigende Zahl von durchschnittlichen Rentnerjahren pro Rentner. Aber diese demographischen Entwicklungen sind nicht gottgegeben, sie sind selbst Folge des hypertrophen Sozialstaates. Auch hier kann das amerikanische Beispiel als Gegenbeispiel angeführt werden. In den USA bewirkt die gute Beschäftigungslage und bewirken die weniger großzügigen Altersrenten, daß mit steigender Lebenserwartung das Renteneintrittsalter ebenfalls steigt. Auf diese Weise ist die durchschnittliche Dauer des Rentnerdaseins wesentlich geringer als in Deutschland mit der Folge, daß die Beiträge im Rahmen eines Umlageverfahrens entsprechend geringer ausfallen können. Der Sozialstaat wird begründet mit dem Begriff der Solidarität und dieser spielt ja in dem gemeinsamen Wort der Kirchen auch die zentrale Rolle. Aber diese sozialstaatliche Form der Solidarität hat eine andere Form der Solidarität, die vor ihr existierte, etwa in der Familie, in der Kirche, wenn nicht zerstört, so doch stark reduziert. Der moderne Sozialstaat hat uns weit egoistischer gemacht als unsere Vorfahren es früher gewesen sind. Es ist von einer gewissen Bedeutung, die unterschiedlichen Wirkungen der privaten Hilfe etwa innerhalb der Familie und der staatlichen Hilfe im Rahmen des Wohlfahrtsstaats zu verstehen. In der Solidarität im Kleinen, etwa zwischen Geschwistern besteht ein direkter, ein Face-to-Face-Kontakt zwischen Helfer und Unterstütztem. In der Solidarität im großen besteht der Face-to-Face-Kontakt zwischen dem Bürokraten und dem, der die Hilfe erfährt. Der Bürokrat hilft nicht mit seinem eigenen Geld, sondern mit dem eines Beitrags- oder Steuerzahlers. Der "Helfer", der die Hilfe bezahlt, also der Steuerzahler, ist in keinem unmittelbaren Kontakt mit dem Unterstützten. Man wird erwarten, daß die Wirkungen dieser zwei Formen von Hilfe ganz verschieden sind. Die Hilfe im Kleinen wird verbunden sein mit einer umfassenden Überwachung des Unterstützten durch den Helfer. Die Hilfe funktioniert ganz automatisch als Hilfe zur Selbsthilfe, denn der Helfer hat ein Eigeninteresse daran, daß die Hilfe bald nicht mehr nötig sein wird. Die Hilfe ist verbunden mit einem Prozeß der sozialen Kontrolle und der Erziehung zur Eigenständigkeit. Sie konstituiert ein soziales Netz der Verhaltenssteuerung in Richtung auf produktive Tätigkeit der Mitglieder der Gesellschaft. Demgegenüber hat die bürokratische Hilfe genau den gegenteiligen Effekt. Die Bürokratie ist letztlich an einer Beendigung der Hilfsbedürftigkeit des "Klienten" gar nicht interessiert. Die Jobs in der Bürokratie bleiben genau dann bestehen, und zwar für ihre jetzigen Inhaber, wenn "der Klient" als Hilfsbedürftiger erhalten bleibt. Das Recht auf Unterstützung, das der Sozialstaat konstituiert, ist ein Anreiz zur Perpetuierung der Hilfsbedürftigkeit. Ist man der Hilfsbereitschaft des Verwandten ausgeliefert, so schafft dies den Anreiz, dieser Hilfsbedürftigkeit möglichst bald zu entrinnen. Der Sozialstaat läßt die privaten Netze der Hilfe zur Selbsthilfe verkümmern. Er schafft damit die Bedingungen eines Lebens ohne zureichende moralische Erziehung, ohne Kontrolle des Verhaltens im Interesse der Volkswirtschaft. Damit trägt er zwar zur individuellen Freiheit bei, aber einer Freiheit auf Kosten anderer, einer Freiheit, die zur Ausbeutung des Wohlfahrtsstaats und damit zu seinem finanziellen Kollaps führt. Der bibelfeste Zuhörer wird sich erinnert fühlen an das, was der Apostel Paulus bekanntlich in seinem zweiten Brief an die Thessalonicher dieser urchristlichen Gemeinde schrieb: "Denn Ihr wisset wie Ihr uns sollt nachfolgen. Denn wir sind nicht unordentlich unter Euch gewesen, haben auch nicht umsonst das Brot genommen von jemand. Sondern mit Arbeit und Müh Tag und Nacht haben wir gewirkt, daß wir nicht jemand unter Euch beschwerlich werden... Und da wir bei Euch waren, geboten wir Euch solches, daß so jemand nicht will arbeiten, der soll auch nicht essen. Denn wir hören, daß etliche unter Euch wandeln unordentlich und arbeiten nichts, sondern treiben Vorwitz. Solchen aber gebieten wir und ermahnen sie durch unsern Herrn Jesus Christus, daß sie mit stillem Wesen arbeiten und ihr eigen Brot essen." (2. Thessalonicher, Kap. 3, Verse 7-8 und 10-12) Im Interesse einer finanziellen Stabilisierung des Sozialstaats hat die Regierungskoalition in den vergangenen Jahren eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, die die sozialstaatlichen Leistungen einschränken. Da sind zu nennen die Kostendämpfungsprogramme im Gesundheitsbereich, die allmähliche Absenkung des Rentenniveaus von 70% auf 63% des Nettoarbeitseinkommens, die Lockerung des Kündigungsschutzes für Kleinunternehmen, die Absenkung der gesetzlichen Lohnfortzahlungspflicht im Krankheitsfall von 100% auf 80%. Von der Opposition wurden diese Maßnahmen als sozial ungerecht bezeichnet und man hat sich nicht zuletzt auch auf das gemeinsame Wort der Kirchen berufen in dem Kampf gegen diese Maßnahmen. Für den Fall eines Wahlsiegs hat man im Wahlkampf versprochen, all diese Dinge rückgängig zu machen. Keine der Maßnahmen, die von der Regierungskoalition beschlossen worden sind, verletzten meines Erachtens den Grundgedanken eines Sozialstaats, der auch auf dem Subsidiaritätsprinzip beruht. Im Gegenteil, all diese Maßnahmen waren aus meiner Sicht noch zu kleine Schritte in die Richtung auf einen Sozialstaat, der das Subsidiaritätsprinzip ernst nimmt. Für den durchschnittlichen Arbeitnehmerhaushalt im ausgehenden 20. Jahrhundert ist Eigenvorsorge für die Fälle der Erwerbsunfähigkeit durch Krankheit oder Alter zumutbar. Wir haben heute dank der Unabhängigkeit der Bundesbank und der Europäischen Zentralbank ein System der Geldverfassung, das die Ersparnisse vor dem Risiko des Kaufkraftschwundes schützt. Es ist ohne weiteres im Rahmen des Subsidiaritätsprinzips richtig, von dem einzelnen durchschnittlichen Haushalt zu verlangen, daß er eine Eigenvorsorge betreibt. Wenn er dies aber tut, dann braucht das Rentenniveau nicht bei 70% des letzten Lohnes zu liegen, dann braucht im Krankheitsfall nicht der volle Lohn ausgeglichen zu werden. Ein finanziell und moralisch stabiler Sozialstaat bedarf des Subsidiaritätsprinzips. Ohne eine konsequente Anwendung dieses Prinzips ist er, wie die Erfahrung zeigt, nicht stabilisierbar. Gegen die Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips kämpfen massiv Verbandsinteressen. Diese Interessen dominieren die öffentliche Diskussion. Es geht hier um die Stabilisierung des Einflusses und der Macht von Kollektiven. Kollektive aber, genauso wie der Staat, handeln kurzfristig. Das ist ihnen inhärent. Wenn sie demokratisch aufgebaut sind, müssen ihre führenden Funktionäre sich regelmäßig der Wiederwahl stellen. Die Wiederwahl hängt davon ab, daß die jeweilige Wählerschaft konkrete Erfolge innerhalb einer kurzen Zeit erkennen kann. Deshalb können Erfolge, die nur langfristig sichtbar werden, nicht gut bestehen gegenüber kurzfristigen Erfolgen im Wettkampf der Kandidaten um die Macht in den Verbänden und dem Staat. Diese Kurzfristorientierung der Kollektive kontrastiert mit dem langfristigen Denken des Individuums für sich und seine Familie. Die große Mehrheit der Menschen, die im aktiven Berufsleben stehen, kann mehrere Jahrzehnte weiteren Lebens erwarten und disponiert entsprechend. Die meisten disponieren gleich mit für ihre Kinder und Enkel. Eine Gesellschaft, die zuviele Entscheidungen dem Staat überläßt, vernachlässigt die Zukunft zugunsten der Gegenwart. Nur eine Gesellschaft, die dem langfristig denkendem Individuum hinreichend großen Handlungsspielraum überläßt im Rahmen eines marktwirtschaftlichen Systems, ist hinreichend zukunftsorientiert. Der Gedanke der Subsidiarität, der Gedanke einer Maximierung der Verantwortung des Individuums für sein eigenes Schicksal, der Verantwortung der Familie für das Schicksal ihrer Mitglieder ist konstitutiv für die Überlebensfähigkeit einer Gesellschaft. Subsidiarität steht insofern auch nicht in einem Gegensatz zur Solidarität. Das gemeinsame Wort der beiden Kirchen erweckt den Eindruck eines Gegensatzes zwischen Subsidiarität und Solidarität. Subsidiarität wird anerkannt, aber es wird davor gewarnt, dieses Prinzip auf Kosten der Solidarität überzubetonen. Umgekehrt wird allerdings nicht davor gewarnt, Solidarität auf Kosten der Subsidiarität überzubetonen. Mit Recht wird an einzelnen Stellen des gemeinsamen Worts auch darauf hingewiesen, daß es ja nicht nur die Solidarität des Sozialstaates gibt. Daneben gibt es die Solidarität der kleineren Einheiten. Mit Recht wird in dem gemeinsamen Papier die Bedeutung der Familie betont, aber in der heute typischen sozialstaatlichen Denkweise führt dies zu der Forderung einer weiteren Subventionierung durch den Staat, in diesem Fall einer weiteren Subventionierung der Familie. Der abstrakt bleibenden Forderung auch nach Einschränkung sozialer Leistungen in dem gemeinsamen Wort steht die sehr viel konkretere Forderung nach Ausdehnung des Sozialstaates im Interesse der Familie entgegen. Ich bin für eine Stärkung der Familie als dem am intensivsten erlebten sozialem Verbund im kleinen, als dem Organ für die Erziehung des Menschen zur Solidarität innerhalb einer konkret erlebten Gemeinschaft. Aber diese Stärkung der Familie kann schon aus rein finanziellen Gründen nicht darin bestehen, daß die staatliche Familienförderung finanziell angehoben wird. Nein, die Stärkung der Familie muß dadurch erfolgen, daß die Menschen weniger Leistungen vom Staat erhalten. Das führt zu einer Rückbesinnung der Solidaritätsfunktionen der Familie, führt zu einem konkret erfahrbaren Bewußtsein davon, daß man in aller Regel als Individuum auf Unterstützung anderer angewiesen ist und daß man in seinem eigenen Verhalten dafür Sorge trägt, diese Unterstützung - wenn es dann darauf ankommt - auch wirklich zu erhalten. Abschließend möchte ich betonen, daß ich der These 6 der Hinführung des gemeinsamen Wortes zustimme: "Der Sozialstaat dient dem sozialen Ausgleich. Darum belastet er die Stärkeren zugunsten der Schwächeren." Ich befürworte diesen sozialen Ausgleich. Aber ich glaube, daß der Sozialstaat, so wie er in den vergangenen Jahrzehnten in Deutschland und in den meisten kontinentaleuropäischen Ländern gewachsen ist, nicht die richtige Form hat. Es führt zu Verhaltensweisen, die notwendigerweise seinen finanziellen Kollaps verursachen. Ich kann an dieser Stelle eine Gegenkonzeption gegen das heute gewachsene System des Sozialstaates nicht darstellen. In ersten Ansätzen habe ich dies an anderer Stelle versucht. Und ich hoffe, daß der Diskussionsprozeß innerhalb der Kirchen und in der Gesellschaft überhaupt, der durch das gemeinsame Wort der Kirchen ganz wesentlich angestoßen worden ist, fortgesetzt wird. Und ich hoffe, daß schließlich die Kirchen sich in einer Fortsetzung des gemeinsamen Wortes als weniger Status Quo-orientiert erweisen. Prof. Dr. Franz-Xaver Kaufmann dankt Herrn Prof. Dr. von Weizsäcker für sein Referat, wobei er ausdrücklich die Klarheit und "Holzschnittartigkeit" der herausgearbeiteten Thesen hervorhebt. Es sei notwendig und wichtig, sich gerade mit den Grundstrukturen einer solchen Argumentation auseinanderzusetzen. Ehe er Herrn Prof. Dr. Zöller das Wort erteilt, weist er auf dessen wissenschaftliche Arbeiten zu Fragen der Religionssoziologie und dabei speziell über den Katholizismus in der amerikanischen Kultur hin. Zu dem Vortrag von Herrn Prof. Dr. von Weizsäcker bemerkt er im übrigen, daß Amerika für uns nicht einfach als Vorbild, sondern eher als Gegenbild dienen könne, an dem man sich selbstverständlich zu spiegeln habe. ------------------------------------------------------------------------------------- Prof. Dr. Michael Zöller: Was kann die christliche Sozialethik zur politischen Willensbildung beitragen? - Kritische Anfragen an das gemeinsame Wort Meine Herren Bischöfe, lieber Herr Kaufmann, meine Damen und Herren. Ich kann dem Kollegen von Weizsäcker in allem, was er gesagt hat, zustimmen und kann mich auch seiner Vorrede anschließen, daß es aus zeitökonomischen Gründen sinnvoll ist, holzschnittartig zu argumentieren. Auch ich will mich selbst um einige Abkürzungen bemühen, die die Schärfe meiner Kritik eher noch deutlicher machen. Deshalb nur eine kurze Vorbemerkung: Wenn man mit dem eigenen Beitrag sich in einer Tagung wirklich deplaziert fühlt, und dazu muß ich mich heute bekennen, dann hilft die klassische Captatio nicht weiter. Ich bin getröstet, aber auch nur in einem ironischen Sinne, durch die schon angedeutete Bereitschaft, daß man bestimmten Leuten gerne helfen wolle. Aber trotz dieser durchschimmernden platonischen Fürsorge möchte ich bei meiner Kritik bleiben, in der ich mich nach dem Referat von Herrn von Weizsäcker nicht mehr ganz so einsam fühle. Eine weitere Nebenbemerkung noch: ich würde mich selbst auch in der Position des klassischen Liberalismus stehend betrachten und fühle mich da, wie einige andere Katholiken auch, sehr wohl. Einer dieser Katholiken war Friedrich von Hayek, der 1949 die internationale Organisation der Ökonomen und Sozialwissenschaften ins Leben gerufen hat und er hat vorgeschlagen, diese Gesellschaft zu nennen "The Lord Acton and Tocqueville society", was den Ökonomen Frank Knight aus Chicago zu dem Protest veranlaßt hat, "Two catholic noblemen is too much for me". Und seither heißt diese Gesellschaft einfach nach ihrem Tagungsort "The Montpellerin Society" nach einem etwas heruntergekommenen, schönen, alten Berghotel in der französischen Schweiz. Wenn Sie mich nun fragen, warum ich überhaupt hier stehe, nachdem ich sowohl im Detail wie auch dem ganzen Unternehmen gegenüber des gemeinsamen Wortes wenig Positives zu äußern gedenke, dann kann ich zunächst einmal nur sagen, schuld daran ist Herr Kaufmann. Ich fühle mich Herrn Kaufmann verpflichtet aus einem Grunde, den er schon angesprochen hat. Er hat praktisch im Alleingang über eine lange Durststrecke hinweg im deutschsprachigen Raum die Religionssoziologie am Leben erhalten und damit eine ganz wichtige Interpretationsaufgabe moderner Gesellschaften geleistet, die nicht nur für die an Religion Interessierten wichtig ist, sondern auch für diejenigen, die wie Max Weber von sich gesagt hat, religiös unmusikalisch sind. Damit aber genug der Vorreden. Es bleiben mir wenig mehr als 25 Minuten und die will ich folgendermaßen nutzen: Ich will erstens kurz den Auftrag wiederholen, den Herr Kaufmann definiert hat und sagen, was ich davon für durchführbar halte in der kurzen Zeit. Zweitens will ich wenige allgemeine Überlegungen zu den Handlungsmöglichkeiten der Kirchen skizzieren, darauf kommt es mir noch sehr viel mehr an als auf meine ordoliberale Kritik. Vor diesem Hintergrund meiner Überlegung will ich sodann drittens zu den Öffentlichkeitschancen von Religion in modernen Gesellschaften Stellung nehmen, wobei die Kritik an dem gemeinsamen Wort ganz unsystematisch an einigen, willkürlich herausgegriffenen Beispielen verdeutlicht werden soll. Viertens will ich schließlich noch einmal auf die zwei ohnehin sehr groben und holzschnittartigen Überlegungen zu den Handlungsmöglichkeiten, zu den Äußerungsformen zurückkommen, die den Kirchen in modernen entstrukturierten Gesellschaften, also in Gesellschaften ohne religiöse und andere soziale Milieus überhaupt noch bleiben. Erstens also zu dem Auftrag, den man mir zugedacht hat: ich sollte vor allem einige politikwissenschaftliche Gesichtspunkte beisteuern und eventuell auch das Beispiel der amerikanischen Hirtenbriefe der 80er Jahre berücksichtigen. Beim genaueren Nachdenken fand ich aber, daß das Problem weniger auf der Seite der Politik liegt, sondern eher auf der Seite der Kirchen. Denn den politischen Systemen, jedenfalls denjenigen des westlichen Typs liberaler Demokratie sind öffentlichkeitswirksame, auch politische Äußerungen der Kirchen und anderer Religionsgemeinschaften kein Problem, solange diese Religionsgemeinschaften nicht fundamentalistisch die Legitimität des Systems in Frage stellen, was sie in eben diesen Gesellschaften nicht zu tun pflegen. Und andererseits setzen solche modernen Demokratien auf die Unterstützung durch jedwede Art von Religion gewisse zivilreligiöse Hoffnungen, wobei es aber um die indirekten kulturellen Wirkungen von Religion geht, während deren konkrete Gestalt und ihre Äußerungen unerheblich sind. Es geht dabei mehr um Religion als solche. Die Systemperspektive scheint nicht sehr viel herzugeben, interessanter als diese Systemperspektive ist einerseits die Frage, was kirchliche Äußerungen für die Politik leisten und andererseits die entgegengesetzte Frage, was welche Art von Stellungnahmen für die Öffentlichkeitswirksamkeit der Kirchen auf lange Sicht bedeutet. Den Vergleich mit Amerika werde ich, obwohl das sonst immer im Vordergrund meiner Arbeit steht, bestenfalls streifen können, denn sonst müßte ich zunächst noch weiter ausholen und einen Ausflug in die amerikanische Religionsgeschichte unternehmen, auch einige religionsstatistische Daten anführen, die höchst interessant sind, die aber ihre Zeit brauchen. Deshalb nun zweitens eine ganz kurze allgemeine Überlegung: Wie können kirchliche Stellungnahmen zur Politik überhaupt beschaffen sein? Ich sehe vor allem zwei Wege: nämlich erstens Äußerungen, die ihre Autorität aus der Berufung auf das objektiv Gültige, jedenfalls auf außerhalb des Meinungsstreits liegende Prinzipien, beispielsweise aus Naturrechtssätzen, ableiten. Zweitens umgekehrt Äußerungen, die sich damit rechtfertigen, daß sie die gesellschaftliche Diskussion, also eben den Meinungsstreit, den der Typus 1 zu vermeiden sucht, gerade in die Kirche hineinholen, ihn dort fortführen und ihm dadurch sozusagen eine andere Qualität verleihen, die dann wieder in die gesellschaftliche Diskussion ausstrahlt. Die Probleme einer Argumentation des Typus 1, also vor allem einer Berufung auf Naturrecht, sind bekannt. Sie liegen hauptsächlich in dem notwendigerweise sehr allgemeinen Charakter naturrechtlicher Postulate und in der Schwierigkeit, unter verschiedenen naturrechtlichen Postulaten eine Hierarchie festzulegen. Das birgt die Versuchung in sich, zeitgebundene Anschauungen als Konsequenz einer vermeintlich objektiven Wesensnatur auszugeben. Oder, wenn ich es etwas salopper sage, die eigenen Vorurteile mit dem Willen Gottes zu verwechseln. So kann man etwa die Mitbestimmung unter Berufung auf den sozialethischen Rang des Eigentums ablehnen, oder man kann sie umgekehrt als Überordnung der Person über die Sache für ebenso geboten erklären. Es ist der gleiche Typus naturrechtlicher Argumentation und ich komme jeweils zu dem gewünschten Ergebnis, indem ich das richtige naturrechtliche Prinzip in meinem Sinne wähle. Eben weil das so ist, erschien es einfacher, die gesellschaftliche Diskussion aufzunehmen und sie mit Hilfe eines vermeintlich unbestreitbaren sozialmoralischen Gebots zu kanalisieren. In Betracht kommt immer jeweils nur eines, sonst hätte man differenzieren müssen, was wiederum nur die Eindeutigkeit solcher Empfehlungen in Frage gestellt hätte. Also nimmt man die gesellschaftliche Diskussion auf und strukturiert, ordnet sie unter der Obergültigkeit eines einzigen, vermeintlich völlig unbestreitbaren, sozialmoralischen Arguments wie entweder der sozialen Gerechtigkeit oder des Friedens oder des Gewaltverzichts. Diesen Weg geht das gemeinsame Wort ebenso wie die amerikanischen Hirtenbriefe der 80er Jahre das getan haben. Dabei zeigt sich aber erstens, daß natürlich aus der Anrufung von Prinzipien noch nichts Eindeutiges folgt. Sozial Gemeintes kann unsoziale Folgen haben und Friedensabsichten können die Welt unsicherer machen und damit gewaltsamer. Zweitens aber wird deutlich, daß nicht nur der Teufel im Detail steckt, sondern daß in jedem Experten auch ein Interessent steckt. Herr Seeber hat das allerdings vorhin säuberlich auseinanderdividiert: Wenn Herr Hax widerspricht, ist er ein Interessent, wenn er zustimmt, ist er ein Experte. Ich breche die Diskussion der beiden Typen hier ab und ich stelle auch zunächst einmal die Frage zurück, ob ein Mittelweg denkbar wäre, der die jeweiligen Schwächen der beiden Vorgehensweisen vermeidet. Um nun meine Kritik an dem gemeinsamen Wort durch einige Beispiele zu erläutern. Ich sage von vorneherein, was schon im Anschluß an den Beitrag von Herrn von Weizsäcker gesagt wurde: es ist holzschnittartig. "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" lautet der Titel des Wortes. Warum eigentlich nicht "In Selbstverantwortung und Solidarität", um nur irgendein beliebiges weiteres Beispiel zu nennen? Dann das Vorwort, wo es heißt, die Kirchen sehen es dabei nicht als ihre Aufgabe an, detaillierte politische und ökonomische Empfehlungen zu geben. Das aber tun sie unentwegt, und sie haben sich nach der öffentlichen Reaktion auch dazu ganz besonders beglückwünscht. Als nächstes die Ziffer 12, in der gesagt wird, der individuelle Eigennutz sei ein entscheidendes Strukturelement der Marktwirtschaft, er verkomme aber zum zerstörerischen Egoismus. Die offenkundigste Folge seien Bestechung, Steuerhinterziehung und Mißbrauch von Subventionen und Sozialleistungen. Und es sei daher eine kulturelle Aufgabe, dem Eigennutz eine gemeinwohlverträgliche Gestalt zu geben. Hier geht nun alles durcheinander. Ich erwähne das nicht aus Lust, oder weil ich gerade so schön am kritisieren bin, sondern um auf einen gewichtigen Punkt hinzuleiten. Erstens werden hier Probleme genannt, die mit der Marktwirtschaft nun wirklich gar nichts zu tun haben, oder die gerade erst durch deren Außerkraftsetzung möglich geworden sind. Zweitens wird nicht gesehen, daß Marktwirtschaft ja gerade der Versuch - im übrigen der bisher einzig gelungene - ist, dem Eigennutz eine gemeinwohlverträgliche Gestalt zu geben. Aber dieses Mißverständnis zieht sich durch das gesamte Papier. Und drittens entspricht diesem Mißverständnis, daß Individualismus durchgehend negativ gesehen wird und daß sowohl das Substantiv als auch das Adjektiv ausschließlich in negativen, in pejorativen Verwendungen vorkommt, während sozialstaatliche Veranstaltungen grundsätzlich positiv belegt sind. Dazu gehört auch, jedenfalls in meinen Augen, die Ziffer 14: Der Hinweis auf die Verhältnisse in den USA verkenne die unterschiedliche soziokulturelle Tradition und werfe Fragen der sozialen Gerechtigkeit auf, heißt es da. Das ist alles, was das Papier zu dem wichtigsten konkurrierenden Modell zu sagen weiß. Aber ich fürchte, daß man ohnehin an vergleichenden Erkenntnissen nicht sehr interessiert war und daß der Vergleich hier eher durch eine Tabuisierungsformel abgewehrt wird. Darauf deutet auch der verunglückte Genitiv hin, daß Hinweise auf die USA Fragen der sozialen Gerechtigkeit aufwerfen sollen. Damit soll eben eine Diskussion beendet werden, bevor sie überhaupt begonnen wird. Das ist, wie ich glaube, das wichtigste Frageverbot in dem ganzen Text. Diese Tendenz wird besonders deutlich an der Art und Weise, wie das Subsidiaritätsprinzip zwar zunächst treffend beschrieben wird, dann aber durch die Verbindung mit Solidarität und Sozialstaat deutlich in seinem Charakter und seiner Funktion verändert wird. Zunächst wird es in Ziffer 27 richtig als Vorfahrt für Eigenverantwortung bezeichnet. Dann aber liest man, es gehe darum, die Einzelpersonen und die untergeordneten gesellschaftlichen Ebenen zu schützen und zu unterstützen, nicht ihnen Risiken zuzuschieben, Subsidiarität und Sozialstaat gehörten insofern zusammen. Das stellt nun für mich die Dinge deshalb auf den Kopf, weil Sozialstaat und Subsidiarität nur dann und nur soweit zusammenpassen, wie der Sozialstaat so organisiert ist, daß er Eigenverantwortung möglich macht. Diese Frage aber soll im Zuge der generellen stark antiindividualistischen Tendenz des Textes nicht diskutiert werden. Ich spitze das Argument von eben noch etwas zu, indem ich sage, von der Person und davon, daß die kollektiven Veranstaltungen ein Mittel und kein Selbstzweck sind, ist in dem Text viel zu wenig, vielleicht kann man sagen, überhaupt nicht die Rede. Und das zeigt sich an diesen Stellen, die in der Diskussion schon genannt worden sind. Ich überspringe einiges an weiteren Einzelheiten, man kann es in einem Hauptargument zusammenfassen, das auch Herr von Weizsäcker benannt hat: das gemeinsame Wort ist eine strukturkonservative Entscheidung zugunsten der bestehenden Sozialformen. Es beruht, und das ist ein Punkt, der mir wichtig ist, auf einer unterbrochenen, vor allem katholischen sozialethischen Diskussion, die das Problem von Personalität und Individualität in ihrem Verhältnis zu den anderen sozialstrukturellen Forderungen der Sozialethik nie weitergeführt hat. Deshalb kann auch in diesem Papier das Subsidiaritätsprinzip nicht mehr als das erscheinen, was es ursprünglich war, nämlich eine Beweislastverteilungsregel zugunsten des Individuums und kein Denkmalschutz zugunsten bestehender Organisationsformen. Herr Seeber hat schon die entsprechende Kritik von Herrn Spieker und anderen erwähnt, die hier nur Heiterkeit ausgelöst hat. Aber mit Ausnahme der Bezugnahme auf Johanno Strasser würde ich mich in diesem Falle, was ich sonst nicht immer tue, Herrn Spieker voll und ganz anschließen. Das Papier ist allzu sehr dazu übergegangen, nur dem Sozialstaat eine eigene moralische Qualität und einen eigenen moralischen Wert zuzusprechen. Ganz abgesehen davon, daß bei einer Soziallastquote von 45% in der Bundesrepublik noch eine ganze Reihe von zusätzlichen, den Sozialstaat ausweitenden und das Beschäftigungssystem verstaatlichenden Vorschlägen gemacht wird. Dazu hat Herr von Weizsäcker das Nötige gesagt. Ich muß mich deshalb nicht als Laienökonom betätigen. Ich will nur meinen eigenen Punkt noch einmal unterstreichen: Die christliche Botschaft richtet sich an den einzelnen. Und sie befreit ihn sowohl vom Mythos wie vom zivilreligiösen Kollektivzwang des Heidentums wie im übrigen auch vom Neid der Götter, der ein großes antikes Thema war, der aber unter modernisierten Bedingungen wiederhergestellt zu werden scheint. Denn auch die christlichen Soziallehren fallen für meine Begriffe allzu oft wieder in das korporatistische Vorurteil zugunsten bestehender sozialer Organisationsformen zurück. Weshalb ich besonders gerne einen amerikanischen Geistlichen zitiere, der im Blick auf die vergleichbare Auseinandersetzung in der amerikanischen Kirche den schönen Satz formuliert hat: "Corporations have no soul to save and no bottom to pick." Soviel zu dem Wort, und nun möchte ich wie angekündigt noch einmal zu den zwei Reden, den zwei Typen von Stellungnahmen zurückkehren. Typ 2, die umfassende, um Sachgerechtigkeit, also auch um Fachkompetenz bemühte Äußerung unter dem Leitstern je eines vermeintlich universalen sozialmoralischen Prinzips, hier der sozialen Gerechtigkeit. Dieser Typus 2 scheitert, weil beide Ansprüche nicht einzulösen sind. Den Konsens, den auch gesamtgesellschaftliche Experten- und Interessentenkonkurrenz nicht erzeugt, kann auch eine kirchlich veranstaltete Diskussion nicht erbringen. Und die Berufung auf ein einziges moralisches Prinzip greift deshalb zu kurz, weil sozialethisches Argumentieren darin besteht, die Hierarchie mehrerer Prinzipien oder jedenfalls ihr Spannungsverhältnis darzustellen, um sie dann als Kriterien zur Beurteilung von gegebenen Verhältnissen und Strukturen zu verwenden. In diesem Sinne ist der Grundgedanke jeder Metaphysik und jedes Naturrechts, nämlich ein außerhalb der Gegebenheiten bestehendes Argument zur Beurteilung der Gegebenheiten abzugeben, unverzichtbar und das bleibt neben der Kritik an naturrechtlichen Sätzen natürlich bestehen; dies ist indessen nur möglich, wenn man die Postulate einer christlichen Sozialethik hierarchisiert. Dazu würde ich neigen unter Betonung des Vorrangs der Individualität. Wenn man nicht bereit ist zu hierarchisieren, müßte man zumindest die Konkurrenz verschiedener, keineswegs harmonisierbarer Forderungen anerkennen. Ich versuche meine Kritik in vier Thesen zusammenzufassen: 1. These Der Anspruch, alle Zeitprobleme abzuhandeln, kann offenbar von Gremien noch weniger eingelöst werden als von einzelnen Autoren, vor allem aber ist auf diese Weise ein spezifisch christlicher Charakter der Überlegungen kaum noch zu erkennen. Es werden dann Meinungen referiert (die einen sagen dieses, die anderen antworten jenes), zu deren vergleichender Bewertung keine Kriterien angeboten werden (können). Wenn aber zum Beispiel das Zweite Vatikanum zu Recht betonte, es gebe stets einen großen Bereich von Gegenständen, über die Christen legitimerweise verschiedener Meinung sein könnten, so ist dies als Mahnung zu verstehen, sich um das Herausarbeiten jener Kernaussagen zu bemühen, über die die Christen einig sein sollten. Um die Bandbreite wirtschaftspolitischer und sozialpolitischer Diskussionen zu dokumentieren, brauchen wir die Kirchen oder kirchliche Gremien nicht, denn wie das gemeinsame Wort für mich deutlich zeigt, führt das Lesen von Zeitungen in dieser Hinsicht weiter. Und Herr Seeber hat ja eine lange Liste von wünschbaren weiteren Themen vorhin nennen können und jeder von uns könnte, glaube ich, solche Themen anschließen. Denken Sie an das Thema Arbeit und Lebenssinn, das er angesprochen hat und vieles weitere mehr. 2. These: Strukturkonservative Verteidigung des bestehenden Wohlfahrtssystems. Trotz des Bemühens um Ausgewogenheit schimmert schon in der Diktion vieler Abschnitte eine starke Neigung durch, die dann an bestimmten Stellen zur eindeutigen Festlegung wird. Das gemeinsame Wort deutet zwar an einigen Stellen an, daß Alternativen zum bestehenden Wohlfahrtssystem denkbar oder vielleicht sogar wünschbar wären, entscheidet sich aber, wo immer es konkret wird, für die Verteidigung des Bestehenden. An solchen Stellen, besonders ab Ziffer 178 herrscht dann auch die Sprache von Funktionären vor: etwas müsse so geregelt werden, sei so zu gestalten... Eine Diskussion über andere Instrumente aber findet gar nicht statt. Eine wichtige Diskussion dieser Art hat auch wieder Herr Seeber angemahnt, zum Beispiel die Alternative der Steuerpolitik. Ich sage immer gerne, die Steuer ist auch das Steuer, aber das ist eines der Themen, die hier nicht zur Diskussion stehen. All das führt auch zu der Frage, was die sozialen Großunternehmen Caritas und Innere Mission für die geistige und politische Unabhängigkeit der Kirchen bedeuten. These 3: Sozialethik wird auf Solidarität reduziert und Subsidiarität entsprechend umgedeutet. Ein solches Vorurteil zugunsten des status quo wird verständlicher, wenn auch nicht überzeugender, wenn man den Abschnitt "Grundlegende ethische Perspektiven", also die Ziffern 103 bis 125 liest. Dort wird die Sozialethik auf das Prinzip der Solidarität reduziert und das Prinzip der Subsidiarität wird ausgerechnet dazu benutzt, gegen eine Beschränkung staatlicher Zuständigkeit zu argumentieren. These 4: Was könnte eine christliche Sozialethik leisten? Weder die Sachkompetenz der Kirchen und der Theologie noch die gesellschaftliche Situation (Auflösung der Milieus und der Parteibindung, Interessen- und Meinungspluralismus auch innerhalb der Kirchen) sprechen für ein politisches Mandat oder für eine kirchliche Öffentlichkeitsstrategie, die durch umfassende Stellungnahmen die gesellschaftliche Relevanz der Kirchen zu demonstrieren sucht. Die Kirchen müssen die Grenzen und den zunehmend indirekten Charakter ihrer Einflußnahme zur Kenntnis nehmen (Tocquevilles "Herrschaft über die Herzen") und wenn sie sich zu gesellschaftspolitischen Äußerungen entschließen, dann sollten sie beachten, wie leicht dieses Instrument stumpf wird. Sie sollten sich nur äußern, wenn sie etwas spezifisch Christliches beizutragen haben. Dazu reicht das Postulat der Solidarität nicht aus, denn ebenso wie das Prinzip der Subsidiarität macht es erst Sinn, wenn zuvor die Zentralität der Person und ihrer Selbstverantwortung herausgestellt wird. Diese indirekte kulturelle Herrschaft setzt natürlich eine christliche Alphabetisierung voraus. Dazu will ich wenigstens anmerken, daß mir ein viel größeres Manko ausbleibender kirchlicher Aktivitäten das viel zu geringe Gewicht des Bildungswesens ist. Wenn ich Länder, in denen es ein privates kirchliches Bildungswesen gibt, mit der Situation in Deutschland vergleiche, dann sehe ich auch da wieder, welche starke, welche gefährliche Hypothek für die Kirchen ihre Gewöhnung an die deutschen Formen der Staatsnähe ist. In diesem Sinne finde ich auch völlig die Erinnerung an den Communio-Begriff in den einleitenden Worten von Bischof Homeyer in Ordnung. Auch die Tradition des Communio-Begriffes muß allerdings unter die Tradition christlicher Personalitätsvorstellung gestellt werden. Das Wort der Kirchen wird die politische Diskussion nicht lange beeinflussen. Auch glaube ich, daß man sich täuscht, wenn man die im wesentlichen binnenkirchliche Diskussion als einen großen Öffentlichkeitserfolg betrachtet. Mir geht es nicht darum, etwas mieszumachen, sondern mir geht es um den Versuch, auf strukturelle Gegebenheiten hinzuweisen. Wenn es heißt, daß der Konsultationsprozeß zum Dialog der Kirche mit der Gesellschaft auf allen Ebenen geführt hat, kann ich das nicht nachvollziehen; ich habe wenig davon bemerkt, aber vielleicht bewege ich mich auf der falschen Ebene. Vielmehr kommt es darauf an, die eigenen Prinzipien klarer zu formulieren und zur Kenntnis zu nehmen, daß auf dem Wege über die individuelle Meinungsbildung Christen solche Prinzipien anzuwenden verpflichtet sind, daß es aber geradezu unmöglich ist, christliche Stellungnahmen im Detail abzugeben und damit ist, glaube ich, meine Kritik hinlänglich formuliert. Vielen Dank. Diskussion Prof. Dr. Franz Xaver Kaufmann dankt Herrn Prof. Dr. Zöller für sein Referat, wobei er darauf hinweist, es habe durchaus im Sinne der Regie der Tagung gelegen, an den Anfang zwei Referate zu stellen, die provozieren sollten. Es gehe nicht darum, ob die einen oder anderen Äußerungen des Wortes haltbar seien, sondern um den Gesamtduktus seiner Argumentation und um die Frage, wie sich die Kirche in der Gesellschaft artikulieren solle. In diesem Sinne bittet er um Diskussionsbeiträge und Fragen. OKR Tilman Winkler äußert sich über beide Referate enttäuscht, weil sie sich mit dem gemeinsamen Wort nicht nur kritisch, sondern vor allem polemisch auseinandergesetzt hätten. Dies mache ihn ratlos, weil auf dieser Grundlage ein Dialog mit dem Austausch von Argumenten nicht geführt werden könne. Anlaß für das gemeinsame Wort seien die große Ratlosigkeit und die bedrückende Stimmung angesichts der bestehenden Rekord-Arbeitslosigkeit gewesen. Mit dem gemeinsamen Wort und dem ihm vorausgegangenen Konsultationsprozeß habe man den Versuch unternommen, mit den betroffenen Menschen ins Gespräch zu kommen und in einen Meinungs- und Erfahrungsaustausch einzutreten über die Zunahme der Armut, über die Lebensprobleme, die Menschen in verschiedenen Lebenslagen haben, über ihre Hoffnungen und Enttäuschungen. In dem dialogisch angelegten Wort sollten nicht einfach nur Theologen, sondern die betroffenen Menschen und solche Christenmenschen zu Wort kommen, die als Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler oder als Politiker über einschlägige Erfahrungen verfügen. Daß es auf der Grundlage der gehörten Referate schwer falle, diesen wünschenswerten Dialog weiter voranzubringen, mache ihn ratlos. Herr Winkler hält Herrn Prof. Dr. Weizsäcker im übrigen entgegen, die Arbeitslosigkeit in den USA sei nach deutschen Maßstäben nicht niedriger, sondern etwa so hoch wie in Deutschland. Zu dem geäußerten Grundgedanken, die Marktwirtschaft (pur) sei bereits als solche sozial, sei zu fragen, wie auf dieser Grundlage die Probleme gelöst werden könnten, mit denen wir es zu tun hätten und wie Umbrüche abgefedert werden könnten, wie sie zum Beispiel in Bitterfeld und Rheinhausen zutage getreten seien. Zu fragen sei auch, welchen Preis die USA für ihr Modell bezahlten und ob nicht ein Zusammenhang zwischen dem sozialen Sicherungssystem und der hohen Gewaltkriminalität sowie dem privaten Waffensystem bestehe. Herr Prof. von Weizsäcker habe in seinem Vortrag die schwarze Bevölkerung der USA ausgeklammert, aber gerade dort fange das Problem der Benachteiligung an. Auch das Problem der working poor sei nicht thematisiert worden, das in diesem Zusammenhang vor allem interessiere. Auch Frau Dr. Elke Mack äußert sich enttäuscht über die beiden Referate, die das Sozialwort gründlich mißverstanden hätten und ihm in keiner Weise gerecht geworden seien. Zwar sei zuzustimmen, daß in Deutschland auf dem Arbeitsmarkt falsche Anreize gesetzt worden seien. Der Vergleich mit den USA halte aber schon deshalb nicht stand, weil die deutsche Gesellschaft keine amerikanischen Verhältnisse möchte. Sie weist in diesem Zusammenhang auf die ungleichen Ausgangschancen für viele Menschen in der Bevölkerung, die unterschiedlichen Bildungsmöglichkeiten, die begrenzte Gesundheitsvorsorge oder die begrenzte Sozialhilfe hin. Die Frage sei, ob wir dies alles in Kauf nehmen wollten. Das Sozialwort bekenne sich demgegenüber zu dem bestehenden Sozialstaat, setze ihn aber keineswegs absolut, sondern dränge auf seine Deregulierung und seinen Umbau. Abschließend stellt sie die Frage, ob nicht ein Mittelweg denkbar sei, bei dem die reine Lehre der Ökonomie nicht um jeden Preis vertreten werde, sondern die Beibehaltung der sozialen Errungenschaften vertreten werde, die auch die katholische Soziallehre für wichtig hält. Prof. Dr. Michael Schramm schließt sich den Ausführungen von Frau Dr. Mack an und gibt Herrn Prof. Dr. Weizsäcker zu bedenken, er habe zwar die Sozialstaatskosten in Deutschland dargestellt, jedoch nicht die Defizite des Nicht-Sozialstaates in den USA. Wenn sich dort Reiche waffenbewehrt verbunkern müßten, müßte dies mit in Rechnung gestellt werden. Die Frage sei, ob solche Kostenvergleiche aufgetan werden könnten. Zu Herrn Prof. Dr. Zöller bemerkt er, er habe sich nicht hinreichend dem Dilemma gewidmet, in dem die Kirchen stünden, wenn sie sich zu sozialen Fragen äußerten. Der Glaubensauftrag der Kirchen besage, daß sie an solchen Fragen nicht vorübergehen können. Schon Bischof Ketteler habe im vorigen Jahrhundert unterstrichen, daß die soziale Frage das Depositum fidei berühre. Die Kirchen dürften in einer Gesellschaft, die sehr stark durch Institutionen bestimmt sei, die institutionelle Frage nicht ausklammern und sich einfach nur auf den Einzelnen beziehen. Dabei sei das Problem, daß die Theologie nicht unbedingt sachkomeptent sei, zu sehen und zu bedenken. Prof. Dr. Theodor Herr sieht sich durch die beiden Referate in seiner Auffassung grundsätzlich bestätigt. Was den Marktmechanismus und seine auch sozialen und sozialpolitischen Wirkungen angeht, räumt er ein, daß er nicht überall funktioniere. Zu denken sei insoweit insbesondere an die Länder der Dritten Welt. Unter Hinweis auf die Ausführungen von Herrn Prof. Dr. Zöller unterstreicht er, daß in dem gemeinsamen Wort nicht hinreichend die Problematik aufgearbeitet sei, die sich daraus ergebe, mit welcher Autorität beziehungsweise Legitimation sich hier die Kirchen beziehungsweise die Bischöfe äußerten. Die Bischöfe hätten in wirtschaftlichen Fragen keine eigene Sachkompetenz. Ohnehin werde im Grunde nicht unterschieden, ob sich mit dem Wort nun die Kirchen oder die Bischöfe äußerten. Der Rückverweis darauf, in dem Wort hätten sich die Konsultationsergebnisse niedergeschlagen, ziehe nicht, weil der Inhalt des Wortes ja nicht aus einem demokratischen Meinungsbildungsprozeß aller Kirchenmitglieder hervorgegangen sei. Man könne, zumal es hierbei um Sachfragen gehe, unterschiedlicher Meinung sein. Prof. Dr. Carl Christian von Weizsäcker nimmt zu den bisherigen Diskussionsbeiträgen Stellung, wobei er zunächst auf die Vorbehalte zu dem Vergleich mit den USA eingeht. Auch er sei kein Anhänger des amerikanischen Modells. Was er kritisiere, sei, daß das gemeinsame Wort die dortigen Verhältnisse einfach ignoriere und eine kritische Auseinandersetzung mit ihnen ausschließe, indem schlicht gesagt werde, man wolle dieses Modell nicht. Er habe in seinem Vortrag demgegenüber versucht, aus dem angestellten Vergleich mit den amerikanischen Verhältnissen die Ursachen für unsere eigenen Probleme herauszuarbeiten und daraus bestimmte Schlußfolgerungen abzuleiten. Damit sei keineswegs die Absicht verbunden, etwa das amerikanische Modell kopieren zu wollen. Wenn wir freilich den Sozialstaat erhalten und die amerikanischen Verhältnisse vermeiden wollten, müsse darüber nachgedacht werden, wie die Kosten des Sozialstaates reduziert werden könnten. Dies setze allerdings zunächst die Prüfung und Feststellung voraus, woher die Kosten rühren und worauf die Kostensteigerungen zurückzuführen sind. Daß es insoweit einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem geringen Beschäftigungsniveau beziehungsweise der hohen Arbeitslosigkeit gebe, sei unstreitig. Er halte das gemeinsame Wort bei der Frage nach den Ursachen für die hohe Arbeitslosigkeit insoweit für defizitär, als es die Beispiele etwa der amerikanischen, niederländischen oder auch dänischen Entwicklungen nicht einbeziehe. Wäre dies der Fall, müsse man im Blick auf die Status-quo-Orientierung des gemeinsamen Wortes zu anderen Beurteilungen und Ergebnissen kommen. Zu dem Vorhalt von Herrn OKR Winkler, die Arbeitslosigkeit in den USA sei bei geeigneter Messung kaum niedriger als die in Deutschland, bemerkt Herr Prof. Dr. von Weizsäcker, er habe nicht die Arbeitslosigkeit, sondern das Arbeitsvolumen zum Maßstab genommen. Wenn man bei uns behaupte, wir hätten deshalb so viel Arbeitslosigkeit, weil nicht genügend Arbeit da sei, sei dies aufgrund des amerikanischen Beispiels widerlegt. Dort sei das Arbeitsvolumen pro Kopf der Bevölkerung um ein Viertel bis ein Drittel höher. Dies sei nicht zuletzt deshalb von Bedeutung und müsse erklärt werden, weil alle Ansätze über eine Umverteilung der ach so knappen Arbeit, die auch in dem gemeinsamen Wort eine große Rolle spielten, verfehlt seien. Weder lösten sie die Finanzierungsprobleme des Sozialstaates noch gingen sie die eigentliche Wurzel an, das mangelnde Beschäftigungsvolumen auszuweiten. Unter diesem Aspekt sei auch verständlich, daß er nicht über die Benachteiligungen der schwarzen Bevölkerung in den USA habe reden können. Daß dies ein Mißstand sei und daß deshalb auch die im Vergleich zu uns gemessene Arbeitslosigkeit in den USA gar nicht so niedrig sei, sei vollkommen richtig. Zu den sozialen Wirkungen des marktwirtschaftlichen Prinzips bemerkt er, gemeint sei damit im Grunde, daß der Wettbewerb ein "enormer Egalisierer" sei, der Wettbewerb die Menschen gleich mache. Jede Alternative zum Wettbewerb bedeute immer auch, daß nicht die Leistung, sondern andere Kriterien der Maßstab seien. Die Politisierung der Wirtschaft habe zumeist größere Ungerechtigkeit zur Folge als ihre Entpolitisierung auf der Grundlage des Wettbewerbs. Ausgehend von der aristotelischen Unterscheidung zwischen der iustitia commutativa und der iustitia distributativa werde in der Wettbewerbswirtschaft die kommutative Gerechtigkeit hergestellt. Im Vergleich zu allen anderen Systemen einschließlich der sozialistischen Planwirtschaft sei dies ein enormer Gerechtigkeitsfortschritt. Die sozialistischen Systeme, die den Markt abschafften, schafften eine neue Form von Privilegienwirtschaft; letztlich seien sie daran auch zugrundegegangen. Dieser Aspekt der Gerechtigkeit, daß man nach Leistung und nicht nach politischer Auffassung oder guten Beziehungen bezahlt werde, komme in dem Papier nicht vor. Daß die Marktwirtschaft demgegenüber nicht das Problem der ungleichen Verteilung löse, sei klar und von ihm nicht bestritten. Allerdings bestreite er und habe bei der Lektüre des Papiers jedenfalls nicht feststellen können, daß es ein Plädoyer für Deregulierung enthalte. Wenn dies dennoch der Fall sein sollte, um so besser. Was die von Herrn Prof. Dr. Schramm aufgeworfene Frage zur Kostenrelation von Sozialstaaten beziehungsweise Nicht-Sozialstaaten angeht, räumt Herr Prof. Dr. von Weizsäcker ein, daß es sich im Blick auf die in den USA herrschende Kriminalität und ihre Ursachen um ein sehr komplexes Thema handele, bei dem auch die sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse eine Rolle spielten. Doch könne man nicht ohne weiteres davon ausgehen, die Kriminalität in den USA ließe sich durch die Einführung des Sozialstaates deutscher Prägung in einem größeren Umfange reduzieren. Insoweit seien weitere unterschiedliche Aspekte und Traditionen zu bedenken und zu berücksichtigen. Unbestreitbar gebe es freilich die erwähnten Kostenzusammenhänge; deshalb sei er auch für den Sozialstaat und seine Bewahrung. Nur wenn man so weitermache wie bisher, gebe es bald keinen Sozialstaat mehr. Dann verließen noch mehr Leistungsträger wegen der weiteren Belastungen und immer höheren Abgabenquoten Deutschland. Herr Bundesminister Dr. Blüm habe bei seinem Rentenreformkonzept im Gegensatz zu Herrn Dressler von der SPD diesen Zusammenhang erkannt. De facto habe das Kirchenpapier jedoch Herrn Dressler gegen Herrn Blüm unterstützt, ohne dies vielleicht zu wollen. Zu der von Herrn Winkler aufgezeigten Genese des Papiers bemerkt er, daß diese Aspekte zwar interessant seien. Da das Papier indessen zeitgleich mit den Maßnahmen der Regierungskoalition zur Begrenzung sozialstaatlicher Leistungen erschienen sei, sei es letztlich als eine Gegenäußerung zu der damaligen Regierungspolitik verstanden worden. Seine wichtigste politische Wirkung habe darin bestanden, daß es als Begründung für die Rücknahme der sozialstaatlichen Einschränkungen in Anspruch genommen worden sei, auch wenn dies sicher letztlich nicht bezweckt gewesen sei. Prof. Dr. Franz-Xaver Kaufmann wirft in diesem Zusammenhang die Frage auf, ob den Kirchen in der deutschen Gesellschaft im Unterschied zu der amerikanischen eine Art relativer Interessenunabhängigkeit zuerkannt werde, die es ihr ermögliche, zur Wirtschafts- und Sozialpolitik einen Kommunikationsprozeß in Gang zu setzen, der ansonsten nicht denkbar und möglich gewesen wäre. Prof. Dr. Michael Zöller bittet nochmals um Verständnis für die von ihm geäußerte Kritik. Er sei in den fraglichen Themen zu engagiert und kämpfe seit langem gegen bestimmte Entwicklungstendenzen wie Antiliberalismus, Antiindividualismus, Antiamerikanismus, so daß es ihm schwerfalle, seine kritischen Vorbehalte gegen das Papier etwas zu zügeln, wie es sich vielleicht nahegelegt hätte. Was das in Deutschland vorherrschende USA-Bild und den Niederschlag angeht, den es in dem Kirchenpapier gefunden habe, bedauert er, daß im wesentlichen ein fernsehvermitteltes Bild vorherrsche und ein enormer Mangel an Informationen zu beklagen sei. So werde nicht zur Kenntnis genommen, daß es auch in den USA seit zehn Jahren eine heftige innenpolitische Diskussion über Wohlfahrtsreformen und die Absenkung der Sozialquote gehe, die dort immerhin bei ca. 35 % liege. Bevor man aus der Benachteiligung der Schwarzen ein Systemargument ableite, müsse man zumindest fragen, warum sich andere Einwanderergruppen sehr wohl integrierten. Ehe man einen negativen Satz über die USA in das gemeinsame Wort aufnahm, hätte man zunächst zumindest kritisch prüfen sollen, welche Instrumente übertragbar seien und welche nicht. Man hätte dann in bestimmten Fragen immer noch zu anderen Wertentscheidungen kommen können. Zu den von Herrn Prof. Dr. Schramm und von Herrn Prof. Dr. Kaufmann aufgeworfenen Fragen nach der sozialen Kompetenz der Kirche räumt er ein, daß die Kirchen in Deutschland traditionell über ein enormes sozialpolitisches goodwill verfügten, welches aber in der öffentlichen Wahrnehmung nicht unproblematisch sei, weil die öffentliche Legitimation von Kirche und Religion in Deutschland fast nur noch über das Soziale laufe. Die Kirchen täten viel dazu, dies noch zu verstärken. Er halte dies für religionspolitisch kontraproduktiv. Andererseits sei selbstverständlich die katholische Soziallehre ein großes Kapital. Wenn man allerdings die christliche Sozialethik fortführen wolle, müsse man zunächst mit der Analyse geänderter gesellschaftlicher Bedingungen beginnen, wie es zum Beispiel auch Quadragesimo Anno getan habe. Hinsichtlich des Subsidiaritätsprinzips stellten sich insbesondere die Fragen, wie sich die gesellschaftlichen Strukturen verändert hätten und welche auf längere Sicht überhaupt noch realistisch seien, welche Zusatz- und Nebenkosten der Sozialstaat erzeuge, inwieweit sich der Sozialstaat bisher nicht auch als Herrschaftsinstrument erwiesen habe, das erhebliche Elemente der Selbstbestimmung beseitigt hat usw. Wenn das gemeinsame Wort an vielen Stellen eine einerseits-andererseits-Argumentation verwende, sei zu fragen, warum es nicht an diesen zentralen Fragestellungen ansetze. Auch könne er nicht nachvollziehen, was die Aussage in dem Wort von der unverrechenbaren Einheit menschlicher Lebenshoffnungen als Gegenpol zu ökonomischem beziehungsweise materiellem Denken bedeuten solle, ob und inwieweit damit der Inhalt christlicher Sozialethik zum Ausdruck gebracht werden solle. Er vermöge in dieser Formulierung jedenfalls keinen Sinn zu erkennen. Auf Herrn Prof. Dr. Schramm eingehend, betont er, sozialethisches Argumentieren müsse zunächst davon ausgehen, die erkenntnistheoretische Leistungsfähigkeit der Sozialethik als solcher klarzumachen. Zwar könnten allgemeine Prinzipien in Erinnerung gerufen werden, die ihre historische Bedeutung hätten, um sie dann auf der Grundlage einer zutreffenden Analyse auf die gesellschaftliche Situation hin anzuwenden. Im Ergebnis könnten die einzelnen lediglich an ihre jeweilige Verantwortung erinnert werden, während die Sachdiskussion den Fachleuten überlassen bleiben müßte. Es gebe aus christlich-sozialethischer Sicht keine konkrete Antwort, wie wir zu mehr Arbeitsplätzen kämen. Wenn das gemeinsame Wort als zentrale Lösungsmöglichkeit empfehle, den Markt außer Kraft zu setzen, und damit das einzige vorhandene wirksame Instrument in Frage stellt, sei dies mehr als fragwürdig. Man könne den Markt nicht als ein technisch-ökonomistisches, die kulturellen und sozialen Zusammenhänge vernachlässigendes Denksystem bezeichnen und dem lediglich die inhaltsleere Formel gegenüberstellen, die Christen setzten dagegen die unverrechenbare Einheit menschlicher Lebenshoffnungen; dies sei ein kolossaler Satz von Heideggerscher Dimension und absoluter Inhaltslosigkeit. Henny Engels zeigt sich zutiefst verärgert über die teils polemische Einseitigkeit, die die beiden Referate beherrscht habe. Sie stellt die Frage, wer in den Augen des Herrn Prof. Dr. von Weizsäcker eigentlich ein Leistungsträger sei, ein Professor, der 90 % seiner Möglichkeiten ausschöpfe oder ein behinderter Hausmeister, der 120 % seiner Möglichkeiten einsetzen müßte, um seine Aufgaben zu erledigen. Bei dem Sozialwort sei es im Grunde um diese Fragestellungen und darum gegangen, die Lebenswirklichkeiten aus der Sicht der Betroffenen aufzugreifen. Deshalb könne sie auch Herrn Prof. Dr. Zöller nicht folgen. Nach ihren Kenntnissen richte sich die jüdisch-christliche Heilsbotschaft immer an das Volk Gottes und nicht an die einzelnen unterwegs. Davon gehe auch das II. Vatikanum aus. Deshalb handele die Kirche einschließlich ihrer Verbände als Volk mit einem Weltauftrag. Vielleicht wäre es tatsächlich besser gewesen, dies auch deutlicher dadurch zum Ausdruck zu bringen, daß das Papier nicht in der Verantwortlichkeit der Bischöfe veröffentlicht worden wäre. Sie widerspricht im übrigen nachdrücklich der Auffassung, die Kirchen seien im Grunde nur noch über ihr soziales Handeln identifizierbar. Ein rein und allein geglaubter Glaube und ein nicht auch "gehandelter" Glaube sei nach Prof. Dr. Metz kein Glaube. Hans Ludwig erinnert an die Auseinandersetzungen vor über 115 Jahren über die beiden sich widersprechenden sozialethischen Richtungen, ob die menschliche Arbeit vertraglich wie jede andere Ware auf dem Markt behandelt werden könne. Seinerzeit sei es zu einer Art historischem Kompromiß gekommen, der auch in Rerum Novarum seinen Niederschlag gefunden habe. Er sehe sich in der heutigen Situation an die damalige Diskussion und Auseinandersetzungen zurückerinnert. Zu seinen Aufgaben in der Bildungsarbeit gehöre es, die Soziale Marktwirtschaft in ihrer ökonomischen und zugleich sozialpolitischen Relevanz einschließlich ihrer ordnungspolitischen Bedeutung zu vermitteln. So unbestreitbar Wettbewerb und Gewinn Voraussetzung und Grundlage des notwendigen sozialen Ausgleichs seien, so wenig schafften sie per se diesen sozialen Ausgleich. So halte er es für notwendig, auch über die explodierenden Gewinne und die gestiegene Gewinnquote in unserer Volkswirtschaft zu reden, die vielleicht ebenso eine Ursache der Massenarbeitslosigkeit sein könne, wie das Kostenargument. Er habe sich im Grunde von der These 10 des gemeinsamen Wortes leiten lassen, daß es sich hierbei um kein letztes Wort handele. Er halte einen weiteren Dialog für wünschenswert, was eigentlich Aufgabe, Sinn und Ziel einer Gesellschaft sei. Wirtschaft lasse sich nicht allein auf marktvermittelte Warenproduktion reduzieren. Dabei komme bereits der Dienstleistungssektor zu kurz. Überhaupt nicht zu Buche schlüge die unbezahlte Haushaltsarbeit, die mit 77 Milliarden Stunden bei weitem die bezahlte Erwerbsarbeit mit 47 Milliarden Stunden übertreffe. Die Nationalökonomie müsse verstärkt darüber nachdenken, ob zur Lösung der Beschäftigungsprobleme nicht auch diese Aspekte in die Überlegungen einbezogen werden müßten. Über die in der bisherigen Diskussion erwähnten Vergleichsländer hinaus gibt er zu bedenken, sich unter anderem auch an dem Schweizer Modell zu orientieren, wo es mit der Bindung der Löhne an die Preisentwicklung zu einer Art Stabilitätspakt gekommen sei und ein dritter Wirtschaftssektor mit zusätzlichen Beschäftigungseffekten habe in Gang gesetzt werden können. Auch das bayerische Modell könne ein weiterführender Ansatz sein, durch das über die Verkaufserlöse öffentlicher Beteiligungen beschäftigungswirksame Projekte finanziert worden seien. Prof. Dr. Albert Roth versteht nicht, daß man bei allem Verständnis für die geäußerte inhaltliche Kritik, der er sich weitgehend anschließen könne, nicht bereit sei, anzuerkennen, daß die Kirchen nach ihrem Auftrag nicht zuletzt auch die Herrschaft über die Herzen gewinnen müßten. Die Frage der Arbeitslosigkeit und der sonstigen Widrigkeiten des Lebens seien für die betroffenen Menschen nicht zuletzt auch von emotionaler Bedeutung. Mit dem gemeinsamen Wort hätten die Kirchen den Versuch unternommen, insoweit ihren Informations- und Beratungspflichten nachzukommen. Wer sonst, wenn nicht die Kirchen, könne einer solchen gesellschaftlichen Aufgabe gerecht werden. Herbert Bedford-Strohm hält es angesichts der vorgetragenen empirischen Einseitigkeiten im Grunde für wünschenswert, ein Streitgespräch zu führen, da in der für die Diskussion zur Verfügung stehenden kurzen Zeit eine hinreichende Klärung nicht erreichbar sei. Er geht noch einmal auf die von Herrn Winkler aufgeworfenen Fragen ein und unterstreicht, das gemeinsame Wort sei aus einer tiefen Anteilnahme heraus gewachsen an dem, was viele Menschen in unserem Land an Belastungen zu tragen hätten und wofür die grundlegende Option für die Armen, Schwachen und Benachteiligten stehe. Er fragt, ob man bei den ökonomischen Analysen und den vorgetragenen Bezugsgrößen jeweils auch die betroffenen Menschen vor Augen habe, um die es gehe, und die vor allem Diakonie und Caritas bei ihrer täglichen Arbeit im Blick hätten. Symptomatisch für ihn sei, daß zwar die Situation in den USA zum Vergleich herangezogen worden sei, nicht jedoch zum Beispiel diejenige in Dänemark, wo eine höhere Arbeitsplatzflexibilität mit einem starken sozialen Sicherungsniveau einhergehe. Prof. Dr. Michael Zöller geht in seiner abschließenden Stellungnahme auf die aufgeworfene Frage der jüdisch-christlichen Tradition des Volk-Gottes-Begriffes und den Vorhalt ein, er rede einer Privatisierung der Kirchen das Wort. Beide Fragestellungen hingen für ihn auf das engste zusammen, wobei er angesichts der Kürze der Zeit sich wieder nur sehr plakativ äußern könne. Der vielbenutzte Begriff von der gemeinsamen, jüdisch-christlichen Tradition könne seiner Ansicht nach gerade nicht auf das neutestamentliche Volk Gottes übertragen werden, das dadurch entstehe, daß einzelne auf einen Anruf reagierten, nicht jedoch in das Volk hineingeboren würden. Die Idee des auserwählten Volkes habe demgegenüber eine völlig andere Bedeutung. Der moderne, westliche Individualismus sei eindeutig ein Produkt des Christentums. Er halte es für einen kulturpolitischen Selbstmord, wenn die christlichen Kirchen und Verbände sich selbst oft als Gegner dessen etablierten, was ihrer eigenen Tradition entsprungen sei. So habe es bis in das 19. Jahrhundert hinein keinen christlichen Antiindividualismus gegeben, bis weniger die Christen als die christlichen Kirchen und dabei insbesondere der deutsche Katholizismus aus leicht erklärbaren Gründen dieser Entwicklung entgegengetreten seien. Seine Absicht sei es keineswegs, die kulturelle Bedeutung der Kirchen zu relativieren. Deshalb wolle er sie gerade nicht zu einer Privatsache werden lassen. Jedoch müsse es zu denken geben, daß die Kirche in den westlichen Gesellschaften dort stark sei, wo sie rechtlich schwach sei, daß dort ein lebhaftes Christentum bestehe, wo es staatsfern, freiwillig organisiert sei und der Katholizismus in sogenannten katholischen Ländern darniederliege. Für ihn bestehe insoweit ein untrennbarer Zusammenhang zwischen dem westeuropäischen Staatsdenken und dem Festhalten an dem öffentlich-rechtlich privilegierten Status der Kirche. Zu fragen sei, warum wir in Europa den Begriff der Volkskirche und in Amerika der bevölkerten Kirche hätten. Er sei der festen Überzeugung, daß die kulturelle Wirkung des Christentums nur noch über die Formung der Individuen verlaufe, so wie er es mit der plakativen Abkürzung der Tocqueville-Formel habe zum Ausdruck bringen wollen. Prof. Dr. Carl Christian von Weizsäcker geht abschließend ebenfalls noch auf einige wenige Fragestellungen ein. Er schließt sich zunächst voll inhaltlich der Aussage von Frau Engels an, daß es unterschiedliche Ausgangslagen und Leistungsbefähigungen gebe. Er unterstütze deshalb auch grundsätzlich das gemeinsame Wort, wenn es einen sozialstaatlichen Ausgleich zwischen Reichen und Armen postuliere. Was er ebenso wie Herr Prof. Dr. Zöller in seinem Referat zum Ausdruck habe bringen wollen, sei, daß es sich bei dem die Marktwirtschaft beherrschenden Leistungsprinzip um eine ethische Kategorie handele, ohne das die Marktwirtschaft im Grunde nicht funktioniere. Das Leistungsprinzip sei eine enorme Innovation und besage, daß der, der mehr leiste, auch mehr erhalten solle, und der, der weniger leiste, weniger. Maßgebend dabei solle eben gerade nicht ein ererbter Adelstitel, das richtige Parteibuch, die richtige Hautfarbe oder die richtige Religion sein. In der Tendenz stelle dies der Wettbewerb im Markt sicher. Diese aristotelische justitia commutativa sei die Voraussetzung dafür, daß eine Gesellschaft im modernen Sinne fruchtbar funktionieren könne. Seines Erachtens handele es sich dabei deshalb um ein zentrales moralisches Prinzip. Auf die von Herrn Bedford-Strohm aufgeworfene Frage eingehend, bestätigt er, selbstverständlich seien auch ihm soziale Notlagen bekannt. Er stelle deshalb auch keineswegs die Notwendigkeit einer sozialstaatlichen Ausgleichsfunktion in Frage. Bei seinen Ausführungen sei es ihm jedoch darum gegangen, empirischen Einseitigkeiten des gemeinsamen Wortes ebenfalls eine Reihe empirischer Einseitigkeiten entgegenzusetzen, um dadurch die Korrekturbedürftigkeit des Papiers herauszuarbeiten. Auch er halte im übrigen die von Herrn Ludwig aufgeworfene Frage, ob der Arbeitsmarkt in gleicher Weise wie der Gütermarkt in rechtlicher und vertraglicher Hinsicht behandelt werden könne, für ein wichtiges sozialethisches Problem. Auch aus seiner Sicht als Ökonom komme er zu dem Ergebnis, daß es dabei gravierende Unterschiede auch unabhängig jedweder moralischen Bewertung gebe. Diese Unterschiede könnten es mittels eines sozialethischen Ansatzes durchaus rechtfertigen, auf den Arbeitsmärkten wirtschaftspolitisch anders vorzugehen als auf den Gütermittelmärkten. Solche Differenzierungen dürften freilich nicht aus ideologischen Gründen übertrieben werden mit der Folge, daß die Marktgesetze auf dem Arbeitsmarkt völlig außer Kraft gesetzt würden. Allen Märkten gemeinsam sei der Wettbewerb, der ein hervorragendes Instrument der Koordination nach beiden Marktseiten sei. Auch für den Arbeitsmarkt gebe es im Grunde kein besseres Verfahren, die Arbeitsuchenden und diejenigen, die Arbeitsplätze anbieten, zusammenzuführen, auch wenn es nicht hunderprozentig funktioniere. Was die Situation in Deutschland angehe, gebe es den Unterschied von 30 % pro Kopf der Bevölkerung zu den USA. Dieser Unterschied, der aufgrund der allgemeinen Markttheorie erklärbar sei, dürfe aber nicht so verabsolutiert werden, daß daraus wirtschaftspolitisch falsche Schlußfolgerungen gezogen würden mit der Forderung, den Arbeitsmarkt überhaupt aus dem Wettbewerb herauszunehmen. Dies sei eine verkehrte Konsequenz, die in dem gemeinsamen Wort nicht hinreichend abgehandelt worden sei. Von daher halte auch er es für wünschenswert und notwendig, den Diskussionsprozeß fortzusetzen. Prof. Dr. Franz-Xaver Kaufmann dankt abschließend den Referenten und Diskussionsteilnehmern für ihre Beteiligung an der Diskussion und die dabei zur Sprache gebrachten weiterführenden Beiträge und Anregungen. ------------------------------------------------------------------------------------- Kirche im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft Prof. Dr. Wolfgang Ockenfels, der diese Arbeitseinheit moderiert, begrüßt als Referenten die Herren Professor Dr. Helmut Dubiel und Dr. Michael Ebertz und stellt sie im einzelnen vor. Zu den Themenschwerpunkten des heutigen Veranstaltungstages bemerkt er, während es im ersten Teil der Tagung in erster Linie um die mehr oder weniger umstrittenen Inhalte des Kirchenworts gegangen sei, stehe nunmehr im Vordergrund, in welche gesellschaftliche Situation hinein die Kirchen sprächen, welche Befindlichkeiten die Gesellschaft habe, welche Wertanforderungen sie im einzelnen an die Kirche stelle und wie sich das Verhältnis Kirche, Staat und Gesellschaft im einzelnen darstelle. Zum Prozedere bittet er die Herren Referenten, jeweils eine halbe Stunde zu referieren, um dann jedes Referat in einer weiteren halben Stunde zu diskutieren. Prof. Dr. Helmut Dubiel: Der utopische Realismus der Demokratie Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen und danke für die Einladung. Ich habe mir lange Zeit überlegt, was ich hier sagen könnte, habe mich dann aber konsequent entschlossen, mich gar nicht erst zu zwingen, aus einer kirchenimmanenten Perspektive gesellschaftspolitische Gegenwartsdiagnosen zu stellen, sondern aus der immanenten Perspektive eines sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnostikers. Das Panorama, das ich zeichne, hat vielleicht durch das Ergebnis der Wahl am vergangenen Wochenende, in dem sich eine Sozialdemokratisierung der EU abzeichnet, eine neue Aktualität gewonnen. Es handelt sich zunächst vordergründig um die Verschiebung der Begriffe Rechts und Links. Seit fast zwei Jahrhunderten gilt, ähnlich den Längen- und Breitengeraden in der realen Geographie, die Rechts-Links-Achse als verläßliches Orientierungsprinzip im politischen Raum. Gemäß diesem Prinzip waren diejenigen "links", die ohne Respekt vor Gott und Thron und Tradition für eine Welt kämpften, die menschlichen Zwecken unterworfen war. "Rechts" waren diejenigen, welche die Lebensformen, Denkweise und Vorrechte der überkommenen Gesellschaftsordnung vor dem Sturm revolutionärer Änderung bewahren wollten. Wer sich heute noch mit diesem Kompaß zurechtfinden will, wird sich hoffnungslos verirren. Der Konservatismus hat sich vollkommen auf die Seite jenes globalen Kapitalismus geschlagen, der die Welt längst rascher und nachhaltiger verändert hat als alle anderen sozialen Revolutionen der Geschichte. Der alter Konservatismus des 19. Jahrhunderts reagiert nur noch auf die globale Revolution des Kapitals. Angesichts des neoliberalen Frontalangriffs beschränkt sie sich auf die Verteidigung jenes sozialstaatlichen Systems, das viele ihrer Vertreter bis in die 70er Jahre hinein als reformistisches Blendwerk zur Verhinderung des wahren Sozialismus gegeißelt haben. Wer kann das alles noch verstehen? In der Epoche der Aufklärung, der diese politische Geographie letztlich entstammt, hat man noch gehofft, daß die technische Verfügung über die Natur einem irdischen Paradies den Weg ebnet, in dem die Launen einer unbegriffenen Natur und die Krisen einer unbegriffenen Gesellschaft für immer der Vergangenheit angehören. Die Menschheit des 20. Jahrhunderts machte die bestürzende Erfahrung der "Dialektik" der Aufklärung. Dürre Ortsnamen wie Auschwitz, Hiroshima und Tschernobyl bezeichnen Katastrophen, deren Ausmaß die Vorstellungskraft aller früheren Generationen überstieg. Ihre Gemeinsamkeiten haben diese Katastrophen darin, daß sie dem explosiven Wachstum menschlichen Kontrollwissens entspringen. Die zentralen globalen Probleme, die die Menschheit an der Schwelle zum 21. Jahrhundert bedrohen - die ökonomische Polarisierung der Weltgesellschaft, welche nicht mehr entlang der Grenzen der Ersten und Dritten Welt verläuft, sondern mitten durch alle nationalen Volkswirtschaften hindurch; die ökologischen Risiken, die jeden Gedanken an eine globale Industrialisierung verbieten, die Krisen der liberalen Demokratie im Augenblick ihres historischen Triumphes, sowie die Gefahr neuartiger Kriege und Bürgerkriege - sind allesamt Produkte menschlichen Handelns. Die ärgste Not droht uns mithin von einer Welt, die bis in ihre natürlichen Grundlagen hinein Menschenwerk ist. Die jetzt auf dem Höhepunkt ihres Einflusses angekommene Generation von Politikern und Sozialwissenschaftlern war freilich in einer Zeit sozialisiert worden, in der diese epochale Erfahrung der Dialektik der Aufklärung noch einmal in den Hintergrund trat. Diese Generation war geblendet von der scheinbaren Lösung der ordnungspolitischen Dilemmata, die der Kapitalismus im Rahmen demokratischer Systeme zwangsläufig produziert. Gelungen schien in den ersten Jahrzehnten der Nachkriegszeit auf eine historisch einzigartige Weise die konfliktarme Balancierung der drei konkurrierenden Zielgrößen moderner Marktgesellschaften, nämlich eine Wohlfahrtsproduktion auf kapitalistischer Grundlage, eine soziale Integration in die Gesellschaft über die Beteiligung an dem System der Erwerbsarbeit und schließlich die ungeteilte Gewährung der Rechtsgarantien und Teilhabechancen der liberalen Demokratie. Freilich wird bis heute gern vergessen, daß diese gelungene Balance nur um den Preis einer Externalisierung ökologischer Probleme erkauft war sowie einer Auslagerung sozialer Not auf die Peripherie der industrialisierten Welt. Aber unabhängig von der historischen Realitätstüchtigkeit dieses Rückblicks auf die Nachkriegszeit bleibt dieses Vierteljahrhundert doch prägend als eine Zeit, in welcher der Dreiklang von Wirtschaftswachstum, sozialer Sicherheit und politischer Demokratie sich als normativer Erwartungshorizont in vielen Köpfen etablierte. Vor dem Hintergrund dieses Erwartungshorizonts zeigt sich in aller Schärfe die Schlüsselproblematik unserer gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung, in welcher die Austarierung dieser konkurrierenden Zielgrößen von kapitalistischer Akkumulation, sozialer Integration und demokratischer Legitimation immer weniger gelingen will. Das Bewußtsein vieler politischer und wissenschaftlicher Eliten ist heute bestimmt von einem neoliberalen Weltbild, welches Probleme sozialer Integration und demokratischer Legitimation nur noch in Begriffen von Kosten-Nutzen-Kalkülen erfaßt. Wer sich den Prämissen dieses Weltbildes unterwirft, sieht sich angesichts der Zwänge eines globalen Kapitalismus mit "perversen Alternativen" (Dahrendorf) konfrontiert. Um ihre Wettbewerbsfähigkeit auf den wachsenden Weltmärkten zu erhalten, sehen sich die Regierungen vieler Staaten zu Maßnahmen genötigt, die entweder auf die Zerstörung gesellschaftlicher Solidarität hinauslaufen oder auf die Einschränkung der Demokratie. Die Abschaffung der institutionalisierten Solidarität wird häufig als die "angelsächsische" Lösung bezeichnet, während die Abschaffung der Demokratie in Anspielung auf die Tiger-Staaten und Rotchina als die "asiatische" Lösung bezeichnet wird. Im politischen Diskurs ist die Stimme derer schwach geworden, die die Integrität sozialer Strukturen und die Versprechen moderner Demokratie verteidigen wollen gegen die warenförmige Zurichtung der Weltgesellschaft. Angesichts einer kapitalistischen Modernisierung, die nicht nur die fossilen Ressourcen der Natur aufzehrt, sondern auch die moralischen Bestände, aus denen sich kollektive Solidaritäten speisten, angesichts einer Parteiendemokratie, die noch auf dem Niveau des Nationalstaates operiert und angesichts einer demokratischen Öffentlichkeit, die selbst immer mehr dem Regime des Marktes unterworfen wird, schwanken gerade viele Anhänger der Linken zwischen einem dogmatischen Beharren auf alt gewordenen Wahrheiten sowie einem letztlich neoliberal orientierten "Modernitäts"-Gerede. Die Frage, wie eine nicht nur Marktimperativen unterworfene, sondern eine demokratische Modernisierung unserer Gesellschaften aussehen könnte, die Vision eines transnationalen Bürgerstatus und einer Demokratie jenseits des Nationalstaates sowie die Perspektiven einer Wirtschaftsverfassung und eines politischen Systems, welches demokratische Einstellungen und soziale Solidaritäten regenieren könnte, sind gegenwärtig die zentralen intellektuellen Herausforderungen für eine Politik, die gegenüber dem neoliberalen Monopolanspruch auf Modernität nicht nur in einem stummen Abwehrreflex verharren möchte. Eine radikaldemokratisch neu orientierte Linke würde darauf setzen, daß einzig die Waffe der Aufklärung, die der Moderne die Wunden schoß, sie auch wieder heilen könnte. Sie setzt darauf, daß die Aufklärung am Ende des 20. Jahrhunderts nicht zu einer vollständigen Zerstörung aller Emanzipationschancen geführt hat. Sie sieht die Weltgesellschaft vielmehr in einer undurchsichtigen historischen Gesamtlage, in der sich Kräfte der Barbarei und monströser zivilisatorischer Gefährdungen auf paradoxe Weise überlagern mit Chancen demokratischer Emanzipation. Das Adjektiv "demokratisch" ist hier nicht auf das vertraute Modell der liberalen Demokratie bezogen, das gerade im Augenblick seines historischen Sieges in eine tiefe Akzeptanzkrise geraten ist. Der Begriff "demokratisch" bezieht sich hier vielmehr auf Entwicklungen hin zu einer gesellschaftlichen Demokratie und einer demokratisierten Lebenswelt, welche mit den etablierten Formen politischer Repräsentation durchaus in Spannung geraten kann. In der Literatur werden häufig vier Trends zu mehr gesellschaftlicher Demokratie genannt. Wir werden sehen, daß alle diese Trends ambivalent beurteilt werden können. Häufig genannt werden erstens die gestiegenen Chancen einer emotionalen Demokratie zwischen Partnern und im Verhältnis von Eltern und Kindern. Der Abbau traditionaler Autorität muß ja keineswegs zwangsläufig zu sozialmoralischen Krisen führen. Dieser Abbau könnte auch die Kunst der Konfliktaustragung zwischen prinzipiell Gleichberechtigten befördern. Die Bindungen, die sich in solchen ausgehandelten Partnerschaften ergeben, könnten eine größere Kraft haben als solche, denen man sich aus Angst vor Autorität unterwirft. Der innere Zusammenhang zwischen der emotionalen Demokratie und dem politischen System der Demokratie wird oft verkannt. Denn die Grundqualifikationen des modernen Staatsbürgers wie Toleranz und Konfliktfähigkeit müssen zunächst in Erziehungsprozessen erworben werden. - Freilich weisen nicht wenige Sozialwissenschaftler darauf hin, daß die radikale Enttraditionalisierung der Erziehung für die Demokratie auch desaströse Folgen haben könnte. Von den "Studien über Autorität und Familie", über Hannah Arendts Kulturkritik bis hin zu Wilhelm Heitmeyers Studien über die anomischen Effekte von Individualisierungsprozessen reicht eine Kette von Befunden, die uns die Sinne schärfen für die Ambivalenzen der modernen Erziehungskultur. Die von der medialen Konsumkultur bewirkte Aufhebung der Grenze zwischen Erwachsenenwelt und Kinderwelt führt nach Ansicht mancher Kulturkritiker auch in der Erziehung zu einem "neuen Mittelalter". Damit wird der Kern einer guten (demokratischen) Erziehung beschädigt, die - laut Hannah Arendt - eben darin besteht, daß die Erwachsenen gegenüber den "Neuankömmlingen", den Kindern die Verantwortung für die Integrität dieser Welt übernehmen. Mit Blick auf die Erziehung besteht das eigentliche Problem der ökologischen und sozialen Krisen darin, daß den Kindern überhaupt nicht die Chance eröffnet wird, sich die Gesellschaft, in die sie hineingeboren wurden, gemäß ihrer Prinzipien einzurichten. Ihnen wird damit auch die Chance genommen, die Tugenden und Kompetenzen auszubilden, ohne die jede Demokratie verkümmert. - Niemand vermag gegenwärtig mit Gewißheit zu sagen, wie sich diese mikropolitischen Veränderungen in der Lebenswelt auf das demokratische System auswirken. Der zweite demokratiefreundliche Trend könnte sich aus fundamentalen Veränderungen in modernen Unternehmen ergeben. Mit dem Siegeszug der Mikroelektronik haben sich in allen avancierten Produktionsbereichen Formen der dezentralen Kontrolle an die Stelle hierarchischer Kontrollen gesetzt. Bei diesen neuen Partizipationsformen handelt es sich also nicht um Mitwirkungsrechte, die dem Kapital abgetrotzt werden, sondern um ein Führungsinstrument, das vom Management selbst planvoll eingesetzt wird. Partizipation ist für das Management interessant nicht nur als ein Mittel der Einbindung und Motivierung der Beschäftigten, sondern auch als eine Form der Koordination komplexer Betriebsvorgänge, die gegenüber anderen Organisationsformen deutliche Kostenvorteile aufweist. Dieser strategische Kontext verbietet es eigentlich auch, diese neuen Partizipationsformen "demokratisch" zu nennen. Bei wirklich demokratischen Beteiligungsformen dürfte es nicht ausgeschlossen sein, daß der Rahmen, in dem sie praktiziert werden, selbst zur Disposition steht. Aber gleichwohl bleibt da aus der Perspektive des Managements ein Dilemma. Die strategische Nutzung von Partizipationsbereitschaft sabotiert sich selbst in dem Maße, wo sie in verkündeter Absicht betrieben wird. Erfolgreich ist diese strategische Nutzung von Motivation nur, wenn ihr ein paradoxer Selbstwertcharakter eignet. Somit wäre in der Tat nicht ausgeschlossen, daß die neue Form der Partizipation eine Dialektik der Demokratisierung eröffnet, welche die Betriebsleitung nicht so einfach wieder abschalten kann wie etwa ein Fließband. Ein dritter Demokratisierungsschub könnte sich durch die Konjunktur von Selbsthilfebewegungen ergeben. Zwar wird allenthalben der Niedergang traditioneller Formen der Solidarität beklagt. Aber dabei wird übersehen, daß dieser Verlust an kirchlichem und gemeindebezogenem Engagement aufgewogen wird durch die große Zahl der Menschen, die sich in Selbsthilfegruppen zusammenschließen. Neoliberalen Marktfetischisten, die in diesen Initiativen einzig die Chance einer finanziellen Entlastung des Staates sehen, entgeht das Wesentliche. Diese "nachtraditionalen" Bewegungen sind Laboratorien der Demokratie. - Ob Selbsthilfegruppen aber tatsächlich den Verlust traditionaler Formen der sozialen Solidarität kompensieren können, ist eine Frage, auf die es noch keine abschließende Antwort gibt. Die verfügbaren Daten ergeben kein eindeutiges Bild: Tatsächlich scheint das Ausmaß der Erosion traditionaler sozialer Hilfsbereitschaft dramatisch zu sein. Daneben gibt es ein quantitativ beeindruckendes Engagement in ökologischen, frauenpolitischen und menschenrechtlichen Vereinigungen. Freilich ist dieses Engagement eher Ausdruck einer abstrakten Fernstenliebe. Mitgliedschaft beschränkt sich vielfach auf das Ausfüllen eines Jahresschecks und das Tragen von Buttons. Bemerkenswert ist allerdings die geradezu explosive Entwicklung von Selbsthilfegruppen, in denen sich Menschen mit einem gemeinsamen Stigma zusammenschließen wie zum Beispiel die "Anonymen Alkoholiker". Gerade der Zuwachs dieser Gruppen könnte darauf hindeuten, daß wir es hier nicht mit einer neuen Quelle sozialer Solidarität zu tun haben, sondern mit einer eigentümlichen Vergemeinschaftung des Partikularen. Zu diesen Selbsthilfeformen gibt es viertens ein transnationales Pendant, welches oft mit der Entwicklung der Demokratie jenseits des Nationalstaates in Zusammenhang gebracht wird. In allen Regionen der Welt, gerade auch in denen, die man früher "Dritte Welt" nannte, bilden sich sogenannte "advocacy groups" oder "NGOs" (Nicht-Regierungsorganisationen). Orientiert am Modell von Greenpeace und Amnesty International organisieren sich auf transnationaler Ebene menschenrechtliche und ökologische Interessen. Als kleine bewegliche Davids, die sich des Resonanzbodens einer elektronischen Weltöffentlichkeit zu bedienen wissen, treten sie den Goliaths multinationaler Konzerne entgegen. Diese Gruppierungen werden von vielen Politikwissenschaftlern als Pioniere einer globalen Demokratie angesehen. In einer manchmal befremdlichen Euphorie werden sie als Akteure einer sich herausbildenden globalen Zivilgesellschaft gefeiert. Das ist schon in dem Sinne verwirrend, weil es ja auf transnationaler Ebene den "Staat" nicht mehr gibt, gegen den sich - nach klassischer Vorstellung - die zivile Gesellschaft richtet. Auf dem transnationalen Handlungsfeld, auf dem diese Gruppierungen agieren, stehen sie in der Regel einzelnen multinationalen Konzernen gegenüber, sowie den politischen Repräsentanten der einzelnen Nationalstaaten sowie den Vertretern internationaler Organisationen. Den Konzernen sind sie an strategischer Intelligenz und Ressourcen hoffnungslos unterlegen. Sie sind unmittelbar abhängig von dem Rechtsstaatsniveau und dem demokratischen Klima des Einzelstaates, auf dem sie gerade operieren und ihr völkerrechtlicher Status in internationalen Vertretungskörperschaften ist undeutlich. Ihre eigentliche Machtressource ist der Resonanzboden einer medial hergestellten Weltöffentlichkeit, über deren marktabhängige Aufmerksamkeitsrhythmen sie aber nicht verfügen. Gleichwohl bleiben etwa der Kampf gegen die Versenkung der Brent-Spar-Plattform, oder der Kampf der mexikanischen Zapatisten gegen die neoliberale Weltwirtschaft oder die vielfältigen Aktivitäten im Sog der Umweltkonferenz von Rio eindrucksvolle Exempel einer "globalen Politik von unten", für die eine staatsorientierte Politikwissenschaft noch keine angemessenen Kategorien bereithält. Schon an der Ambivalenz der genannten Entwicklungen läßt sich rasch erkennen, daß eine radikaldemokratische Neuorientierung der Linken noch nicht unmittelbar politikfähig und allenfalls mittelfristig programmfähig ist. Daher sind die folgenden Punkte auch nicht als Leitfaden eines neuen Programms zu lesen, sondern als Prinzipien, welche die Aktivbürger, die Berufspolitiker und die Sozialwissenschaft veranlassen sollen, ihrerseits weiterzudenken. Gefordert wird: die Erfindung von Praktiken und Institutionen demokratischer Konflikthegung, die demokratische Neugründung des Sozialstaates, die Entwicklung neuer Formen gesellschaftlicher Solidarität sowie die Demokratisierung der liberalen Demokratie. Angesichts einer internationalen Ordnung, die sich nach dem Ende der Welt von Jalta wieder im Naturzustand befindet, angesichts der Auflösung nationalstaatlicher Ordnungen in der früheren Zweiten und Dritten Welt und angesichts neuartiger Spannungen zwischen Ethnien, Geschlechtern und Generationen bedarf es eines neuen Projektes der Hegung von internationalen und intranationalen Konflikten. Weder der konservative Zynismus, der Gewalt für unvermeidlich hält, noch die pazifistischen Illusionen der liberalen Tradition geben uns Hinweise für die Entschärfung der neuen Gewaltphänomene, die in einer enttraditionalisierten und wirtschaftlich entgrenzten Weltgesellschaft auftreten. In einer Welt, in der totale Konfrontationen nicht mehr durch geographische Separierung und durch Sezession gelöst werden können und in der traditionale Formen der Konfliktregulierung allmählich verschwinden, gibt es zu demokratischen Praktiken der Konflikthegung letztlich keine Alternative. Das Konzept der Hegung von Konflikten beruht auf der nachtotalitären Prämisse, daß Konflikte zur gesellschaftlichen Wirklichkeit gehören. Allein schon die Vorstellung einer gesellschaftlichen Ordnung, in der die Möglichkeit von Konflikten strukturell abgeschafft sei, trägt den Keim des Totalitarismus in sich. Der Begriff der "Hegung" bezieht sich auf Praktiken zur Eindämmung physischer Gewalt, auf Verfahren der Mediation zwischen unversöhnlichen Konfliktakteuren, auf die Erfindung rechtsförmiger Regelungen zur präventiven Rationalisierung von Konflikten und schließlich auch auf die Einrichtung transnationaler, mit exekutiven Befugnissen ausgestatteter Schiedsinstanzen. Überhaupt ist "Demokratie" der Inbegriff von Institutionen, die dafür Sorge tragen sollen, daß normale Formen strategischer Gegnerschaft nicht umschlagen in unversöhnliche Feindschaft. Gerade an dieser Problematik wird deutlich, daß die Chancen einer kosmopolitischen Demokratie und die barbarischen Aussichten auf einen Bürgerkrieg im Weltmaßstab nur um Haaresbreite voneinander entfernt sind. Plädiert wird weiterhin für eine fundamentale Reform des Sozialstaates in radikaldemokratischem Geist. Das überkommenen Modell des Sozialstaates beruhte auf den historischen Grundlagen eines Klassenkompromisses, eines Gleichklangs von Produktivität und Arbeitsplatzzuwachs, einer relativen Abgeschlossenheit der nationalen Ökonomie und auf einem traditionalen Arrangement der Geschlechter - kurzum auf Grundlagen, die sich heute weitgehend aufgelöst haben. Jenes Modell beruhte auf der Voraussetzung einer lebenslangen, kontinuierlichen und vollen Erwerbstätigkeit. Diese Voraussetzung wird in wenigen Jahren nur noch für eine Minderheit der Bevölkerung zutreffen. Eine neue, auf demokratische Prinzipien begründete Sozial- und Arbeitsmarktpolitik sollte sich nicht mehr auf das "negative" Programm einer nachträglichen, bürokratischen Verwaltung individueller Lebensrisiken beschränken. Ihr Ansatzpunkt wäre die einer Neuverteilung der knapper werdenden gesamtgesellschaftlichen Erwerbsarbeitszeit. Nur ein garantiertes Mindesteinkommen könnte verhindern, daß diese Neuverteilung, die sich ohnehin vor unseren Augen vollzieht, weiterhin die Form eines fast systematischen "Ausschlusses" von Jugendlichen, Alten, Minderqualifizierten und Migranten vollzieht. Im Unterschied zur Sozialhilfe wäre das garantierte Mindesteinkommen an keine Voraussetzung wie Krankheit, altersbedingte Erwerbsunfähigkeit etc. gebunden. Diese nicht mehr aus individuellen Versicherungsleistungen, sondern aus dem allgemeinen Steueraufkommen finanzierte Grundsicherung wäre ein Bürgerrecht. Die eher schwierigen Implikationen dieser radikalen sozialpolitischen Reform liegen offenbar weniger in seiner Finanzierung als vielmehr in der kulturellen Auflösung eines in Jahrhunderten gewachsenen Zusammenhangs, nämlich des Zusammenhangs von Einkommen, Erwerbsarbeit und Identitätsbildung. Die modellprägende Figur des "Bürgers" (Michael Walzer) im herkömmlichen Wohlfahrtsstaat war der Arbeitsplatzbesitzer. Die Qualität seiner Leistungen bemaß sich an individueller Hilfe im bürokratisch geprüften Notfall. Die modellprägende Figur des "Bürgers" im neuen Wohlfahrtsstaat würde der demokratische Bürger selbst. Die Qualität seiner Leistungen bemißt sich am Prinzip von "empowerment", das heißt an der Ermächtigung zur Wahrnehmung seiner demokratischen Rechte. Die von den Fesseln alter Traditionen befreite Gesellschaft muß ein neues Gleichgewicht finden zwischen individueller Autonomie und solidarischer Verantwortung. Gegen die schizoide Politik der Neoliberalen, die zum einen die Gesellschaft atomisieren und sie zum anderen durch die autoritäre Verpflichtung auf traditionale Werte wieder zusammenfügen wollen, wird plädiert für eine Politik, die nach-traditionale Solidarbereitschaften erzeugt. "Gewohnheiten des Herzens" nannte Tocqueville jenen eigentümlichen moralischen Kitt, der dafür Sorge tragen soll, daß das Prinzip des legitimen Eigennutzes, auf dem liberale Gesellschaften aufgebaut sind, nicht umschlägt in destruktive Selbstsucht. Im Umweltverhalten, in den Konflikten zwischen den Geschlechtern und Generationen sowie in Konflikten zwischen Mehrheitsgesellschaft und Minderheiten wachsen die politischen Problembereiche stark an, die - weil sie weder durch Preisbildung noch durch staatlichen Rechtszwang zureichend gesteuert werden können - immer stärker auf die einsichtsvolle individuelle Gemeinschaftsverpflichtung des Bürgers und der Bürgerin setzen müssen. Eine zentrale Aufgabe zukünftiger Politik wird darin bestehen, die institutionellen und rechtlichen Regelungen in der Sozial-, der Gesundheits-, der Umweltpolitik daraufhin zu befragen, ob sie verantwortungsethisches und solidarisches Handeln von Bürgern ermutigen oder entmutigen. Während totalitäre Gesellschaften ihre Bürger gemeinschaftlich überfordern und deshalb die Erfüllungslücke durch Dauermobilisierung und Terror kompensieren müssen, neigen die Institutionen in liberalen Gesellschaften dazu, ihre Bürger moralisch zu unterfordern. Der Bürgersinn in nachtraditionalen Gesellschaften ist ein äußerst versehbares Gut, dessen Bestand in immer stärkerem Ausmaß von institutionellen Ermutigungseffekten abhängt. Könnte es nicht sein, daß die verbreitete Klage der Politiker über den schwindenden Bürgersinn falsch ist und das eigentliche Problem einer demokratischen Bürgergesellschaft darin besteht, daß die längst vorhandenen Solidaritätsbereitschaften der Bürger durch die vorhandenen Institutionen nicht erschlossen werden? Die Forderung einer "Demokratisierung der Demokratisierung" reagiert auf zwei säkulare Entwicklungen, die sich oberhalb und unterhalb der nationalstaatlichen Ebene vollziehen. In Auflösung begriffen ist zum einen die klassische Verklammerung von Staat, Nation und Demokratie. Diese Figur, in der Demokratie einzig im Rahmen des Nationalstaates gedacht wurde, beruht auf der Fiktion einer Kongruenz von Entscheidungsmächtigkeit und Entscheidungsbetroffenheit. Diese Fiktion wird als solche durchsichtig, wenn immer mehr Staaten in der Form von Schadstoffströmen oder Weltmarktentwicklungen von den Konsequenzen politischer Entscheidungen betroffen sind, auf die sie überhaupt keinen Einfluß mehr haben. Es sind solche Erosionserscheinungen der nationalstaatlich eingefriedeten Demokratie, welche die utopische Vision einer "kosmopolitischen Demokratie" (David Held) nähren. Damit ist nicht das Modell eines zentralistischen demokratischen Weltstaates gemeint, sondern ein nach Ebenen gestuftes föderales Modell, in der der Nationalstaat nur noch eine unter anderen globalen, regionalen und lokalen Ebenen repräsentiert, welche jeweils für sich demokratische Körperschaften ausbilden und deren Entscheidungsbefugnisse nach dem Subsidiaritätsprinzip verteilt werden. - In Auflösung begriffen ist zum anderen die klassische liberale Trennung zwischen einer "politischen" und einer "unpolitischen" Sphäre. Durch die Entwicklung des Wohlfahrts- und Interventionsstaates sowie durch die Kämpfe sozialer Bewegungen, besonders der Frauenbewegung, hat eine interne Entgrenzung der nationalstaatlichen Demokratie stattgefunden, in der prinzipiell alle Lebensprobleme von der Abtreibung bis zum Kindesmißbrauch zum politischen Streitthema werden können. Dieser internen Entgrenzung der Demokratie ist das klassische liberale Medium der Repräsentation von Interessen nicht mehr angemessen. Ihr entspricht eine politische Praxis, in der strittige Fragen zum Gegenstand einer öffentlichen "dialogischen Aushandlung" werden. Eine solche Reform ist keine abstrakte Utopie. Sie wäre zunächst die Institutionalisierung einer Praxis, die in der Mikropolitik "nach-traditionaler" Partnerschaften und Familien bereits angelegt ist. Die alte Frage des Verhältnisses von Kapitalismus und Demokratie muß völlig neu gestellt werden, wenn nicht mehr der souveräne, kulturell homogene Nationalstaat von Rahmen abgibt, in dem der globale Kapitalismus wohlfahrtsstaatlich und demokratisch zivilisiert wird. Darum wäre der Schlußstein eines radikaldemokratischen Reformprojekts die politische Neuerfindung der Kongruenz von Entscheidungsbefugnissen und Entscheidungsbetroffenen auf transstaatlicher Ebene. Zwei Pfade zeichnen sich gegenwärtig ab. Angesichts genuin globaler Probleme wie Migration, angesichts der weltweiten Deregulierung der Märkte, der Konflikte um knappe Ressourcen etc. hat sich neuer politischer Handlungstypus herausgebildet, der als "global governance" bezeichnet wird. Damit sind Netzwerke sehr verschiedener Akteure gemeint wie Vertreter multinationaler Konzerne, Repräsentanten internationaler Behörden und nationale Regierungsvertreter sowie Delegierte von "Nicht-Regierungsorganisationen", die in ihren konfliktreichen Verhandlungen die Frühform einer globalen Zivilgesellschaft repräsentieren. - Ein weiterer Weg bestünde darin, daß die großen transnationalen Wirtschaftsräume wie NAPHTA, MERCOSUR und ASEAN allmählich auch eine politische Autorität und demokratische Binnenlegitimität herausbilden, in deren Namen die destruktiven Tendenzen des globalen Kapitalismus politisch korrigiert werden können. Darum ist auch die Europäische Union trotz aller nötigen Kritik an ihrer primär wirtschaftlichen Ausrichtung der einzige transnationale Staatenbund, an den sich gegenwärtig Forderungen nach demokratischer Zurechenbarkeit und wohlfahrtsstaatlichen Reichtumsausgleich überhaupt adressieren lassen. Diskussion Prof. Dr. Wolfgang Ockenfels stellt den Beitrag von Herrn Prof. Dr. Dubiel zur Diskussion, wobei er zunächst selbst nach Sinn und Bedeutung des von Herrn Prof. Dr. Dubiel verwendeten Begriffes Neoliberalismus im Vergleich und Verhältnis zu Ordoliberalismus und Sozialer Marktwirtschaft fragt, ob und inwieweit der Begriff Neoliberalismus von der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft abzukoppeln sei. Prof. Dr. Helmut Dubiel bestätigt, daß etwa Ludwig Erhardt bei seinen marktwirtschaftlichen Vorstellungen von einer Integration der Sozialverpflichtung ausgegangen sei. Diesem Modell eines rheinischen Kapitalismus stünden aber die angelsächsischen Strategien eines Neoliberalismus Thatcherscher und Reaganscher Prägung gegenüber, die selbst Erhardt noch als sozialistisch orientiert verstehen würden. Er selbst verstehe den Begriff Neoliberalismus gerade auch in seinem diffamatorischen Kern in der uneingeschränkten Übertragung marktrationaler, allein nach Kosten-Nutzen-Relationen geleiteter Gesichtspunkte auf die Gesellschaftsbereiche, auf die das absolut nicht passe, wie zum Beispiel Fürsorge, Erziehung, Liebesbeziehungen, Armee, Loyalität der Polizei, oder auch kirchliches Wirken. Prof. Dr. Karl Gabriel fragt, ob und wieweit es angesichts der beschriebenen Ambivalenzen gelingt, traditionelle Bestände, Bewegungen und Ressourcen mit den beschriebenen Trends produktiv zu verknüpfen, und dabei Traditionalität und radikalisierte Modernisierung miteinander in Einklang zu bringen. Konkret stelle sich dabei die Frage danach, welche Chancen und Möglichkeiten insoweit Institutionen wie zum Beispiel den Kirchen zukomme. Prof. Dr. Helmut Dubiel gibt demgegenüber zunächst zu bedenken, liberale Gesellschaften neigten häufig dazu, Institutionen so zu organisieren und einzusetzen, daß sie die latente Solidarität und Hilfsbereitschaft in der Bevölkerung eher unterbänden als zum Tragen brächten. Am Beispiel des Wahlaktes versucht er dabei deutlich zu machen, daß institutionelle Arrangements von außen her eher egoistische Motive beförderten, zumal dann, wenn eine vorausgehende inhaltliche Auseinandersetzung mit den Vertretern der verschiedenen Richtungen unterbleibe. Persönlich wendet er sich strikt gegen eine Diagnose, die davon ausgeht, die gesellschaftliche Solidarität zerfalle. Sie verlagere sich und speise sich aus neuen Quellen. Es käme deshalb darauf an, Institutionen so zu organisieren, daß sie latente Solidarpotentiale aufgreiften und beförderten. Dies sei aber eine Frage jenseits von traditional beziehungsweise nachtraditional. Als ein weiteres Beispiel für die mögliche Fehlleitung von Solidarpotentialen weist er auf das Angebot Essen auf Rädern hin: diese sicher sehr sinnvolle Einrichtung könne dazu führen, daß ältere Leute, denen man eigentlich helfen wollte, sich nicht mehr außer Haus bewegten, nicht mehr unter die Leute gingen und ihre Fähigkeit allmählich einbüßten, noch die einen oder anderen Lebensbesorgungen selbständig zu verrichten. Er halte es deshalb insgesamt für wichtig, viele kleine, zum Teil sehr banale Formen von Institutionen und Solidargemeinschaften freizusetzen, die im Grunde alle latent vorhanden seien. Prof. Dr. Franz-Xaver Kaufmann äußert sich grundsätzlich zum Verhältnis Neoliberalismus und Ordoliberalismus und führt den Neoliberalismus neuester Prägung, der von vielen als etwas Aggressives empfunden werde, vor allem auf die mit der Internationalisierung und Globalisierung der Finanzmärkte eingetretenen Entwicklung zurück. Mit der Deregulierung der Finanzmärkte sei ein ungeheurer Machtgewinn des Kapitals, nicht des Kapitalismus verbunden. Die weltweiten anonymen Einsatzmöglichkeiten entzögen das Kapital zunehmend der Kontrolle eines bestimmten Staates und führten obendrein in den einzelnen Nationalstaaten zu zusätzlichen Machtverschiebungen, wie zum Beispiel in den Tarifbeziehungen, aber auch in vielen anderen Bereichen. Um dieser Entwicklung Herr zu werden, reiche Betroffenheitsrhetorik nicht aus. Vielmehr komme es darauf an, neue transnationale Formen der Kontrolle und des Recht-Macht-Verhältnisses zu entwickeln. Seines Erachtens gehe die Richtung dabei eher in Formen von special agencies, wie sie es auf der Ebene der UN, aber auch zum Beispiel mit der WTO bereits gebe. Dabei komme es darauf an, die Kapitalströme in einen neuen Zusammenhang von Wohlfahrtsproduktion und Umverteilung von Wohlfahrt zugunsten solcher zu bringen, die nicht zu den Gewinnern der neuen Dynamik gehörten. Prof. Dr. Theodor Herr greift die von Herrn Prof. Dr. Dubiel dargestellten Trends zu mehr und neuen Formen von Selbsthilfebewegungen sowie Nichtregierungsorganisationen auf und fragt, wie solche Trends funktionieren müßten, damit daraus dann etwas gesamtgesellschaftlich Positives entstehen könne. Auch solche Einrichtungen müßten letztlich in ein Gesamtsystem eingebunden und einer bestimmten Kontrolle unterworfen sein, weil sie andernfalls im freien Raum schwebten und aufgrund ihrer Eigendynamik neue Machtinstrumente entwickelten. Prof. Dr. Helmut Dubiel stimmt Herrn Prof. Dr. Kaufmann zu und unterstreicht, angesichts der desaströsen Folgen der Internationalisierung des Kapitalverkehrs könne nicht davon ausgegangen werden, sie sei auf nationalstaatlicher Ebene kontrollierbar. Auch sei fraglich, ob und inwieweit die diesseits und jenseits von Nationalstaaten neu entstehenden Handlungstypen der Komplexität des globalisierten Kapitalverkehrs gerecht werden könnten. So gebe es beispielsweise den neuen Handlungstypus der transnationalen Operation, der global governance, innerhalb derer Vertreter multinationaler Konzerne, Repräsentanten internationaler Behörden, nationale Regierungsvertreter, Delegierte aus Nichtregierungsorganisationen usw., in verschiedenen Netzwerken und komplizierten Verhandlungsfolgen zusammenwirkten. In die gleiche Richtung wiesen die großen transnationalen Wirtschaftsräume, darunter nicht zuletzt auch die EU, die versuchten, den destruktiven Folgen eines globalen Kapitalismus entgegenzuwirken. Bei aller nötigen Kritik an der primär wirtschaftspolitischen Orientierung der EU sehe er in ihr den weltweit bisher einzigen transnationalen Staatenbund, in dem sich überhaupt bestimmte Verantwortlichkeiten wie zum Beispiel der demokratischen Zurechenbarkeit oder des wohlfahrtsstaatlichen Reichtumsausgleichs herausgebildet hätten. Persönlich habe er die zwei Hoffnungen, daß sich zum einen von unten auf substaatlicher Ebene netzwerkförmige Verhandlungssysteme, in denen viele verschiedene Subjekte mitwirkten, herausbildeten, und daß auf der anderen Seite mit der Bildung zunächst rein ökonomisch gedachter Wirtschaftsräume eine politische Arrondierung einhergehe. Oberkirchenrat Tilman Winkler greift das Stichwort der Betroffenheitsrhetorik auf und weist auf die während des Konsultationsprozesses und der Diskussion über das gemeinsame Kirchenwort gemachte Beobachtung hin, daß zwar allseits eine große Zustimmung zu den Aussagen des gemeinsamen Wortes feststellbar gewesen sei, aus den jeweiligen Lagern und Interessengruppen sich jeweils aber nur bestimmte Leute zustimmend geäußert hätten, und zwar zum Teil auch abweichend von der ansonsten vertretenen interessenpolitischen Linie. Insgesamt habe eine Art Koalition von Menschen guten Willens quer durch alle Lager, wie sie zum Teil auch bei den runden Tischen sozialer Verantwortung beobachtbar gewesen seien, festgestellt werden können. Er fragt, inwieweit solche Phänomene auch international vorkämen. Prof. Dr. Helmut Dubiel bestätigt, auch selbst solche Erfahrungen gemacht zu haben, wo sich Menschen unterschiedlicher Erfahrungen und Richtungen "lagerübergreifend" in Gesprächskreisen, wie zum Beispiel in dem Bergedorfer Gesprächskreis, zusammengefunden hätten. Mit allem Nachdruck wendet er sich jedoch dagegen, insoweit von einer "Koalition von Menschen guten Willens" zu sprechen. Dies sei eine totalitäre Anmaßung gegenüber denjenigen, die sich solchen Verbindungen aus welchen Gründen auch immer nicht anschlössen. Auch er beobachte eine Art Aufweichung der starken, deutlichen parteipolitischen oder bündnispolitischen Zugehörigkeiten, dies um so mehr, als immer mehr Leuten klar werde, daß es bei den vielen komplexen Problemen nicht mehr die patente ideologische Großantwort gebe. Es könnten sich deshalb künftig durchaus vermehrt auf der Grundlage gemeinsamer Interessenlagen auch gemeinsame neue Identitäten herausbilden. Er warne jedoch davor, diese ethisch zu überfrachten. Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins fragt ebenso wie Herr Prof. Dr. Hengsbach nach, welche Rolle im Blick auf die geschilderten neuen gesellschaftlichen und demokratischen Potentiale die Kirchen künftig spielen könnten, welche Chancen, aber auch Grenzen sich für sie ergeben. Insbesondere Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach gibt zu bedenken, ob und inwieweit sich neue soziale Bewegungen ohne machtvolle Solidaritätsstrukturen und außerhalb übergreifender nationaler oder internationaler Institutionen entwickeln könnten, die gleichsam von außen als neutrale Beobachter das allgemeine Interesse verwirklichten. Prof. Dr. Helmut Dubiel räumt ein, daß zwar in den Kirchen, wie auch bei anderen Großorganisationen, wie zum Beispiel den Gewerkschaften, ein klassisches Paradigma politischen Handelns des Staates oder staatsähnlicher Großorganisationen vorherrschen möge. Doch könne man andererseits an dem starken Mitgliederschwund gerade dieser Großorganisationen einen starken Trend der Individualisierung feststellen. Verbunden damit nehme zwar nicht das Interesse an Politik, aber die Motivation, sich an dieser herkömmlichen Politik zu beteiligen, ab. Man könne dies an dem prototypischen Modell des Arbeiters bei Mercedes festmachen, der IG-Metall-Mitglied sei, CDU wähle, sich gleichzeitig mit grünem Interesse gegen eine Teststrecke bei sich zuhause zur Wehr setze. Dieses Phänomen einer Multiplizität des politischen Bewußtseins und einer Pluralisierung politischer Identitäten verwiesen darauf, daß die Realität vielfältiger sei und schon einfachere Menschen eine vielfältigere politische Orientierung hätten und nicht ohne weiteres in das klassische Handlungskalkül politischer Großorganisationen oder auch der Kirchen hineinpaßten. Vor diesem Entwicklungshintergrund sei auch der katholischen Kirche ein größeres Maß an soziologischer Phantasie und Offenheit für diese neuen pluralen oder auch postmodernen Strukturen zu wünschen, in denen der Staat nicht verschwinde, sondern der Nationalstaat nur eine weitere Handlungsebene unter anderen sei. Was dies genauer bedeute, müßte anhand verschiedener Handlungsfelder geprüft werden. Klar sei jedenfalls, daß das bisherige kooperative Arrangement von Staat und Kirche nicht mehr in der bisherigen Weise allein den Akteurstypus des politischen Handelns im 21. Jahrhundert bilden werde. Prof. Dr. Wolfgang Ockenfels dankt Herrn Prof. Dr. Dubiel sowie den Diskussionsteilnehmerinnen und -teilnehmern für die Ausführungen und Debattenbeiträge. Er erteilt sodann Herrn Prof. Dr. Ebertz das Wort für seinen Beitrag. ------------------------------------------------------------------------------------- Prof. Dr. Michael Ebertz: Kirche im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft 1. Einreden in autonome Wirklichkeiten Das II. Vatikanische Konzil hat mit der auch unter dem Druck der gewandelten gesellschaftlichen Verhältnisse vorgenommenen Anerkennung des Prinzips der Religionsfreiheit einen wichtigen doktrinären Schritt der Anpassung der katholischen Kirche an die strukturellen, kulturellen und individuellen Pluralisierungsprozesse der Moderne (vgl. Ebertz 1998) vollzogen - einen Schritt, der auch in der Anerkennung der "Autonomie der irdischen Wirklichkeiten" im Konzilsdokument "Gaudium et spes" (Nr. 36) zum Ausdruck kommt. Mehr oder weniger erzwungen, wenn auch theologisch reflektiert (vgl. Homeyer 1995, 102), und manchmal auch euphemistisch elaboriert, nimmt die Kirche somit zwar die komplexe Eigenlogik des Politischen und der anderen ,Sachbereiche' hin und sucht ihrer eigenen faktisch gewordenen Partikularität im Konzept des Weltanschauungspluralismus sowie der Individualisierung des modernen Menschen Rechnung zu tragen. Gleichwohl läßt sich die Kirche unter den Pluralisierungsbedingungen der Moderne nicht auf die gesellschaftlich zugewiesene Teilsystem-Funktion reduzieren. Sie versucht, sich nach wie vor dem von diesen Prozessen ausgehenden Druck zur Privatisierung, ja Intimisierung des Christlichen entgegenzustemmen und der Realisierung ihres traditionalen Anspruchs auf einen "Super-Code" über die profan gewordenen Codes von Wirtschaft, Staat, Recht, Wissenschaft, Bildung, Familie usw. treu zu bleiben (vgl. Dorschel 1986), auch um nicht auf die Position einer Sekte zurückzufallen. Dieser sozialtheologische Anspruch auf Weltgestaltung und Weltmitgestaltung ist denn auch im Postulat einer - wie es heißt - "richtigen (!) Autonomie der irdischen Wirklichkeiten" und ihrer Orientierungen an den sogenannten - und letztlich kirchlich zu hütenden und zu interpretierenden - "Normen der Sittlichkeit" (Gaudium et spes Nr. 36) dokumentiert, zumal die Kirche für sich "die letzte Wahrheit über den Menschen" (Gaudium et spes Nr. 41) reklamiert. Im Verweis also auf eine nicht demokratisch legitimierte Legitimationsgröße behält sich die offizielle Kirche somit zumindest einen Anspruch zur wertrationalen Einrede in die sich zunehmend eigengesetzlicher und eigensinniger gestaltenden gesellschaftlichen Daseinsbereiche vor, freilich auch, um ihre materiellen und immateriellen Interessen zu vertreten - vom Interesse auf ungehinderte Religionsausübung angefangen bis hin zum Interesse an Stellen, die vom Staat finanziert werden und eine kaum zu unterschätzende Grundlage der weltlichen Macht der Kirche bilden (vgl. Bourdieu 1998, 199). Solche Verbalinterventionen praktiziert die Kirche nicht zuletzt auch gegenüber den zentral gewordenen gesellschaftlichen Teilbereichen von Wirtschaft und Staat, wie die sozialtheologische Tradition seit dem 19. Jahrhundert erkennen läßt. Erkennen läßt sich auch, daß sich nicht nur die Inhalte kirchlicher Einreden, sondern auch deren Formen, Bedingungen und Chancen gewandelt haben. Das hier thematisierte "Kirchenwort", das ja an die Stelle eines Wahlhirtenbriefs alten Stils getreten ist, ist selbst ein Beispiel für die ,Transformation', die nach Aussage von Franz Furger von "dramatischen Auseinandersetzungen" (vgl. Schöpsdau 1995) begleitet war. Wie steht es um die Stellung der Kirche im gesellschaftlichen Kontext der heutigen Bundesrepublik Deutschland, um solche Einmischungen auch realisieren zu können und ihnen politisch Nachdruck zu verschaffen? In jenem Wechsel der kirchenoffziellen Kommunikationsform manifestiert sich auch, so meine These, ein Wandel der kirchlichen Sozialform, das heißt auch ihres gesellschaftlichen Kontextes. 2. Kirche in den 90er Jahren Unbeschadet gewisser Kontinuitäten ist inzwischen mit deutlichen Zäsuren - auch im Gefolge des Zerfalls der realsozialistischen politischen Systeme und der deutschen Einigung - eine neue Phase der nationalgesellschaftlichen Religionsentwicklung angebrochen. Neben dem endgültigen geschichtsexperimentellen Scheitern sozialistisch verkappter Kollektiveschatologien im Diesseits und der Krise - wohl nicht dem ,Ende'1 - gesellschaftlicher Utopien überhaupt, zeigen sich Zäsuren auf zahlreichen Dimensionen. Eine gewichtige Zäsur wird in den 90er Jahren durch einen Zuwachs an religiös Nichtorganisierten markiert. Dabei sind hochschnellende Kirchenaustrittszahlen zu verzeichnen, womit ein Plateau erreicht ist, von dem aus alle bisherigen Kurvengipfel als Täler erscheinen. Ähnlich wie auf evangelischer Seite2 steigen zwar die Rücktritte - nicht die Übertritte - zur katholischen Kirche weiter leicht an (zusammen 1990: 3,2 je 10.000 katholischer Kirchenmitglieder; 1992: 3,0; 1994: 3,4; 1995: 3,7), sie ersetzen aber nur einen Bruchteil der Austritte und markieren keine Trendwende. Sie unterstreichen allerdings die Mobilisierung von Kirchenmitgliedschaft. Auch im Kontext der nachhaltigen Arbeitsmarktkrise und der Korrektur der Steuertarife sind damit für die Kirchen erhebliche Einschränkungen ihrer finanziellen, baulichen und personellen Ressourcen verbunden. Nach wie vor sind es eher Menschen aus den jüngeren Generationen (unter 40jährige), Berufstätige und darunter die eher gut verdienenden Männer, die aus dem Gesamt der Kirchenmitgliedschaft herausfallen, auch die höhere Kirchenaustrittsneigung bekunden und eine deutlich schwächere gefühlsmäßige Verbundenheit mit der Kirche aufweisen. Zu ihnen gehören auch eher Personen, die in Ballungsgebieten wohnen und nicht ,traditional' über die Kirchennähe der Eltern sowie durch Ortsbindung integriert sind. Eine der - auch für das Verhältnis von Kirchen und Staat - entscheidendsten Zäsuren liegt im enormen Zuwachs an Konfessionslosen beziehungsweise Konfessionsfreien in der Bevölkerung, die noch nie Kirchenmitglied waren. Die religiös Nichtorganisierten - fast 70 % in Ostdeutschland und 12% in Westdeutschland - stellen somit keinen einheitlichen Block in der neuen Bundesrepublik dar. Im intranationalen Vergleich zeigen sich neben einigen Gemeinsamkeiten der ostdeutschen und der westdeutschen religiös Nichtorganisierten (eher männlich, mittel- und großstädtisch, im relativ jüngeren Lebensalter und mit höherem bis mittlerem Bildungskapital) erhebliche Unterschiede. Während religiös Nichtorganisierte in Westdeutschland - mit wachsenden Anteilen in den norddeutschen Ballungsräumen Bremen, Hamburg und Westberlin - Minderheiten und drei Viertel von ihnen konfessionslos in erster Generation sind, gehört für etwa die Hälfte der ostdeutschen Konfessionslosen, die in allen neuen Bundesländern die Mehrheit der Bevölkerung stellen (in Ostberlin rund 80%, in Thüringen knapp 60%), religiöse Nichtorganisiertheit bereits zum Familienerbe3. Als Mehrheit konnten und können sie bislang besser als die Minderheit der religiös Nichtorganisierten in Westdeutschland ihre Konfessionslosigkeit reproduzieren. Denn von denjenigen, die in Westdeutschland nicht evangelisch oder katholisch erzogen wurden, traten 32% in die evangelische und 15% in die katholische Kirche ein, während von der vergleichbaren Gruppe in Ostdeutschland ca. 95% konfessionslos blieben.4 Konfessionslosigkeit in den neuen Bundesländern ist auch Ausdruck von eingelebter, die Biographien vor Entwertung schützender sozialer Konformität, von der sich viele der westdeutschen Konfessionslosen gerade emanzipieren wollen.5 Das ,neue Deutschland' ist also seit den 90er Jahren keinesfalls protestantischer geworden, sondern konfessionsloser, womit auch die hierzulande typische sozialräumliche Regionalisierung des religiösen Feldes nach der ,Wende' um eine Facette erweitert wurde, zeigt sich doch die Mehrheit der ostdeutschen Bevölkerung als relativ kirchen-, ja christentums- und religionsresistent, legt man einen expliziten Religionsbegriff zugrunde. Der gewachsene Bevölkerungsanteil an religiös Nichtorganisierten reduziert den demographischen Rückhalt der christlichen Kirchen und schwächt sie insofern bereits als gesellschaftlichen und kulturellen Integrationsfaktor. Dieser Tatbestand dürfte auf Dauer erhebliche Auswirkungen, nicht zuletzt kirchen-, konfessions- und religionspolitischer Art haben, welche die strukturelle Differenzierung von Kirche und Staat - etwa im Schnittfeld des Bildungswesens der Länder - weiter vorantreiben und damit auch noch die staatlichen Stützressourcen schwächen werden, zumal solche ,Entstaatlichungs'-Effekte, langfristig gesehen, regional kaum begrenzbar sind und das technokratische Europa der EU "in Hinsicht auf die Religion seiner Bewohner konstitutionell blind" zu sein scheint: "Seine Organe nehmen hier nichts wahr", wie Trutz Rendtorff (1996, 157) lapidar schreibt. Auch der demokratische Staat hat seine eigenlogische, wahlpolitische ,Machtraison' etabliert. Weder als ,Rechtsstaat' gehorcht er ja den Prinzipien christlicher Moral noch als ,Sozialstaat' dem christlichen Postulat der Nächstenliebe6, wenn auch die Trennung von Kirche und Staat in Deutschland hinkend geblieben ist. Gleichwohl wurde die Differenzierung bereits in der Vergangenheit immer weiter vorangetrieben7 und wird nicht zuletzt durch die neue demographische Konstellation in den 90er Jahren unseres Jahrhunderts mobilisiert. So hatte zum Beispiel das Recht des modernen Staates, der im langen wechselvollen Streit mit den Kirchen um die Regelung des Eherechts und die Ehegerichtsbarkeit den Sieg davontrug, wegen Ehebrauchs und dann auch wegen vielfältiger Formen der ,desertio' die Scheidung zugelassen und schließlich die Ehe als zivilen Vertrag, als der sie seit Locke, Spinoza und Kant naturrechtlich gedacht wurde, auch im Falle der gegenseitigen Übereinstimmung (,Zerrüttung') aufkündbar gemacht (Strafrechtsreform 1969; Abschaffung des Schuldprinzips 1976). Diesen Weg ist die römisch-katholische Kirche bekanntlich bis heute nicht mitgegangen und hält dagegen an ihrer eigensinnigen Linie bezüglich der wiederverheiratet Geschiedenen fest, gegen eine Entdifferenzierung von kirchlich geschlossener sakramentaler Ehe und ,staatsrechtlicher' Ehe und ja auch, ähnlich wie im Abtreibungsfall, gegen die demoskopisch erhobene mehrheitliche Position ihrer eigenen Mitglieder in Deutschland. Neben der Einführung des neuen Ehe- und Scheidungsrechts (1977)8 sind wichtige Stationen dieser voranschreitenden Differenzierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Aufhebung der "staatlichen Zwangskonfessionsschule"9 - zuletzt 1968 in Bayern -, die kirchlichen Einflußverluste bei der Einführung des neuen Ehe- und Scheidungsrechts (1977)10, die im Laufe der 190er Jahre immer deutlicher werdende Erschöpfung der gesellschaftlichen Legitimität der Kirche, in zentrale demokratische Verfahren mittels Wahlhirtenbriefe zu intervenieren11, in den 90er Jahren die Reform des § 218, das ,Kruzifixurteil', in einigen Bundesländern die Deklassierung des Religionsunterrichts, des "letzten Relikts kirchlichen Einflusses im öffentlichen Schulwesen" (Erlinghagen 1972, 207), und seine Verhinderung in den öffentlichen Schulen des Landes Brandenburg. Dies sind einige neuere und in Zukunft höchstwahrscheinlich noch fortzusetzende Beispiele, die auf dieser Differenzierungsschiene liegen, die seitens des Staates gefahren wird. Dabei hat der Staat - in einem Prozeß der Entdifferenzierung - mehr und mehr Funktionen an sich gezogen, vom Schul- und Erziehungswesen über die soziale Sicherung bis hin zu institutionellen Legitimierung und ja auch Finanzierung einer ,praktischen Ethik' die - wie im Abtreibungsfall - nicht mehr mit derjenigen der römisch-katholischen Kirche in Einklang steht. Auch haben die beteiligten Bundesländer in den Errichtungsverträgen über die neuen Bistümer Erfurt, Görlitz und Magdeburg sowie im Vertrag über die Errichtung des Erzbistums Hamburg auf den ,Treueeid' ausdrücklich verzichtet, was ebenso in Richtung Differenzierung verweist wie die Forderung namhafter (Staats-)Kirchenrechtler (etwa Joseph Listl), auf ,Treueeid' und ,Politische Klausel' überhaupt zu verzichten, oder der anhaltende Dissens in der evangelischen Kirche hinsichtlich der Frage, ob Militärpfarrer noch länger - entsprechend dem Vertrag über die evangelische Militärseelsorge von 1957 - als Bundesbeamte auf Zeit tätig werden sollten. Inzwischen ist in der Ignorierung des die (kirchlichen) Wohlfahrtsverbände privilegierenden Subsidiaritätsprinzips in der gesetzlichen Pflegeversicherung auch eine Befeuerung der staatlichen Differenzierung von der ,Sozialkirche' in Gang gekommen. Auch seitens der römisch-katholischen Kirche sind weitere Bewegungen auf der Differenzierungsschiene zu registrieren. So richtet sich das Schreiben des Papstes an die deutschen Bischöfe zum deutschen Konflikt mit dem Schwangerschaftskonflikt12 zwar nicht direkt und allgemein gegen eine Entdifferenzierung von Kirche und Staat, plädiert aber für eine deutliche Entflechtung "in einem konkreten Punkt" "mit", wie Johannes Paul II. schreibt, "offenkundigen lehrmäßigen Implikationen". Die - so wörtlich - "Freiheit der Kirche" stehe auf dem Spiel, wenn die institutionelle Mitwirkung der Kirche an der gegenwärtig üblichen Beratungspraxis beibehalten werde. Die "Freiheit der Kirche" und die "Einmütigkeit" ihrer Lehre wären riskiert, wenn sie durch den dabei ausgestellten Beratungsschein "in den Vollzug eines Gesetzes verwickelt" und damit in eine "widersprüchliche Spannung" hineingezogen werde. Damit würden "die Klarheit und Entschiedenheit des Zeugnisses der Kirche ... verdunkelt" und mit der "Zweideutigkeit" der Logik des staatlich-demokratischen Kompromisses vermischt werden. Deshalb könne die Kirche den "Weg des Gesetzgebers ... nicht mitgehen", den "die Frau" zu einer autonomen straffreien Entscheidung gegen das ungeborene Leben zu nutzen vermag. Das heilige Wissen der Kirche, das Dogma "von der unantastbaren Würde des menschlichen Lebens", soll somit weder durch die selbstgesetzte Autorität des bürgerlichen Individuums, noch durch diejenige des demokratischen Staates profaniert und in seinem Verbindlichkeitsanspruch verletzt werden. Einer der - gern übersehenen - Schlüsselsätze des Papstbriefes lautet denn auch: "Im Kampf um das ungeborene Leben muß sich die Kirche in unseren Tage immer mehr (sic!) von der sie umgebenden Umwelt unterscheiden." Damit nähme die römische Kirche durchaus hin, daß sich ihre gesellschaftliche und staatliche Umwelt zunehmend unabhängig von den ekklesiastischen Traditionen nach ihren je eigenen Logiken entfaltet, ja sie trägt zur Beschleunigung jenes Fundamentalprozesses der modernen Entwicklung, der funktionalen Differenzierung, eben auch im Verhältnis von Kirche und Staat, bei. Im konkreten Fall nimmt sie sogar unter dem Imperativ der libertas ecclesiae faktisch die Liberalisierung der Abtreibung in Kauf, daß sich nämlich mittelfristig eine beratungsfreie Fristenlösung auch in Deutschland entfaltet, langfristig ein heute bereits gefordertes Recht auf Abtreibung, denn einen dritten Weg (zwischen dem ,Fuldaer Modell' und dem Verbleib im ,Schein-Modell'), der nicht ebenfalls den Verdacht der Zweideutigkeit auf sich zöge und vom Konsens aller deutschen Bischöfe getragen werden würde, kann es nicht geben. In diesem zentralistischen Versuch zur Stärkung beziehungsweise Befreiung der Kirche aus einem latenten ,Staatskirchentum' spiegelt sich freilich auch ihre Schwächung wider, nämlich der Umstand, daß ihre Stimme immer weniger Resonanz findet und sich ihre Gewichte im gesellschaftlichen Feld zugunsten anderer Kräfte verschoben haben. Im zweifellos noch härter bevorstehenden innergesellschaftlichen Kampf ethischer Kulturen um die Definition des menschlichen ,Lebenswertes' sucht die römische Kirche ihre eigene Position zu konsolidieren, wohl wissend, daß das politische Unterstützungspotential im ,neuen Deutschland' erheblich geschwächt ist. Aus der Vogelperspektive des Vatikans scheinen solche Verschiebungen deutlicher wahrgenommen und dementsprechende religionspolitische (legitimatorische) Weichenstellungen vorbereitet zu werden, wie einschlägige Äußerungen Kardinal Ratzingers belegen. Der Präfekt der Glaubenskongregation spricht sich "nicht grundsätzlich dagegen" aus, "daß man in entsprechenden Situationen auch zu stärkeren Trennungsmodellen schreitet", und empfiehlt den deutschen Bischöfen, "ganz realistisch (zu) überlegen, welche Formen der Verbindung von Staat und Kirche wirklich von innen her durch Überzeugungen gedeckt und dadurch fruchtbar sind, und wo wir nur Positionen aufrechterhalten, auf die wir eigentlich kein Recht mehr haben".13 Die römische Position in der Frage nach dem Verbleib der philosophisch-theologischen Hochschule Erfurt scheint mir eines der neuesten Beispiele in diesem Zusammenhang zu sein. Da in demokratischen Gesellschaften politische Entscheidungen nicht ohne die Zustimmung von Mehrheiten in den Parlamenten legitimiert werden, über deren Zusammensetzung die Wahlbevölkerung entscheidet, kommt der Verschiebung des Konfessionsverhältnisses in der Bevölkerung eine politisch nicht unerhebliche Bedeutung zu. Bereits die Zusammensetzung des auslaufenden Deutschen Bundestages entspricht in etwa dem prozentualen Verhältnis von Protestanten, Katholiken und Konfessionslosen in Deutschland, womit ein Wandel eingetreten ist, den man, wie Werner Hofmann bemerkt, "noch kaum zur Kenntnis genommen" habe.14 Im neu gewählten Bundestag dürften diejenigen Kräfte, die eine stärkere Trennung von Kirche und Staat postulieren, gestärkt worden sein, und es "kann nicht ausgeschlossen werden, daß im Bereich der einfachen Gesetzgebung Gesetzesänderungen erfolgen, die die Situation der Kirchen erheblich erschweren. So ist es zum Beispiel möglich, mit einfacher Mehrheit den staatlichen Einzug der Kirchensteuern zu beseitigen und die Kirchen damit in erhebliche Schwierigkeiten zu bringen." Eine solche Möglichkeit gilt übrigens auch im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip im Sozialhilferecht (BSHG), das den Kirchen hierzulande als ,Sozialkirchen' ein in Europa nicht nur einmalig starkes legitimatorisches Standbein, sondern auch - über einen erheblichen Umfang an staatlich mitfinanzierten Stellen - ein Standbein weltlicher Macht der Kirche verschaffte, das ebenfalls unter massiven Druck gerät. Dieser Umstand erklärt zum großen Teil die strukturkonservative Position des Kirchenwortes, ist freilich auch der klassische Ausdruck eines historischen Kompromisses zwischen Sozialstaat und Kirche, die ja historisch "die erste Konzentration von öffentlichem Kapital für öffentliche Zwecke - Bildung, Krankenhäuser, Waisenfürsorge usw.- vollzogen" (Bourdieu 1998, 195) und dazu beigetragen hat, die historischen Extreme aus Sozialismus und Liberalismus zu vermeiden. Die Wahrscheinlichkeit einer künftigen finanziellen und legitimatorischen Schwächung der Kirchen durch politische Entscheidungen dürfte noch insofern wachsen, als es fraglich ist, ob ein Großteil der nicht-konfessionslosen Abgeordneten und Parteimitglieder, aber auch der Bevölkerung und der sogenannten nicht-politischen Eliten im Ernstfall für spezielle kirchliche Interessen beziehungsweise für christliche oder religiöse Konfliktpositionen generell mobilisierbar ist. Bereits in den 80er Jahren wurde festgestellt, daß unter den politischen Eliten von SPD und FDP sowie in der Bevölkerung mit SPD- und mit FDP-Präferenz der Anteil derjenigen Kirchenmitglieder, die nur selten oder nie zur Kirche gehen (,Formalmitglieder'), um ein Mehrfaches den Anteil der Konfessionslosen übersteigt und beide Anteile unter den nicht-politischen Eliten mit SPD- und mit FDP-Präferenz jeweils die absolute Mehrheit repräsentieren. Das politische Potential zur Unterstützung kirchlicher Positionen ist also nicht gerade als stark einzuschätzen, zumal unter den kulturellen Eliten, in den Führungsschichten der Gewerkschaften und der Massenmedien die Konfessionslosen nach wie vor überrepräsentiert sein dürften.15 Andererseits bedeuten Konfessionslosigkeit und rituelles Disengagement noch nicht, der Kirche wichtige gesellschaftliche Funktionen abzusprechen und politische Unterstützung zu entziehen. So halten es nicht nur die Mehrheit der Bevölkerung (56%), sondern auch Dreiviertel der gelegentlichen Kirchgänger und ein knappes Viertel der Konfessionslosen für ,schlecht', ,daß sich immer mehr Menschen von der Kirche abwenden', und eine starke Mehrheit (81%) der Bevölkerung und sogar der Konfessionslosen (55%) findet es ,gut', ,daß es die Kirche gibt'. Unter den höher Gebildeten, den 14-29jährigen und den Ostdeutschen werden diese Anteile jedoch nicht erreicht. In diesen Kategorien ist auch die Zustimmung zur Aussage: "Von mir bräuchte es die Kirche nicht mehr geben", überdurchschnittlich ausgeprägt (zwischen 27 und 39%). Dies gilt auch für die männliche Bevölkerung, für alle Alterskategorien unter dem 60. Lebensjahr, für die Berufstätigen und erst recht für die Konfessionslosen (56%). Zudem sind es ebenfalls Mehrheiten der Gesamtbevölkerung, die die Meinung bekunden, daß ,die Kirchen auf die sie persönlich bewegenden Fragen keine Antwort haben' (59%) und postulieren, daß ,sie sich ändern müssen' (59%).16 ,Kirche ja' (für die anderen; für das Gemeinwohl) und ,Kirche nein' (für mich) scheinen sich also nicht auszuschließen. Man wird deshalb den Schluß ziehen können, daß die politische Unterstützung der Kirchen zwar geschwächt ist und ihr persönlicher Nutzen als relativ begrenzt veranschlagt wird, aber ihrer Reformierbarkeit und ihrem gesellschaftlichen Nutzenspotential in weiten Bevölkerungskreisen noch einiges zugetraut wird.17 Allerdings ist auch zu sehen, daß das Vertrauenskapital, das die Bevölkerung den Kirchen einräumt, und damit eine wichtige kulturelle Ressource weiter geschmolzen ist, auch in Westdeutschland. Der Schwund dieser kulturellen Ressource ist folgenreich, etwa im Hinblick auf den Einfluß der Kirchen auf die öffentliche Meinung mittels indirekter, durch Massenmedien vermittelter Kommunikation, worauf die Kirchen um so mehr angewiesen sind, je weniger sie Menschen in direkter, personaler Ansprache zu erreichen in der Lage sind und je geringer sie die massenmediale Kommunikation in unmittelbarer Eigenregie zu gestalten vermögen. Nur wer öffentlich kommuniziert, der existiert im gesellschaftlichen Sinne, und nur wem dabei Vertrauen gegeben wird, der erlangt ,Prestige', gemeint als die Fähigkeit, in der wachsenden Informationsflut wahrgenommen zu werden, Zustimmung zu erwerben und darüber Einfluß. Der Prestigeverlust ist für die Kirchen um so gravierender, als sie kaum über ,Prominenz' als die zweite Fähigkeit verfügen, nämlich durch die Erzeugung von Aufmerksamkeit, Spannung, Spaß und Unterhaltung in der öffentlichen Kommunikation Einfluß zu setzen.18 So lehrt zum Beispiel die Buchmarktforschung: "Bücher aus christlichen Verlagen werden in den meisten Sortimenten von vornherein aussortiert und bestenfalls in die konfessionelle Ecke abgeschoben. In den Redaktionen werden sie allenfalls besprochen, wenn sie sich kirchenkritisch gebärden oder wenn sie einen handfesten Skandal versprechen"19, also den massenmedialen Prominenz- beziehungsweise Aufmerksamkeitsregeln genügen. In jüngster Zeit scheinen auch in diesem Feld Tendenzen einer weiteren Differenzierung voranzuschreiten, die zum Beispiel darin sichtbar werden, daß in den Landesmediengesetzen, welche die Rechtsverhältnisse der kommerziellen Anbieter regeln, keine Sonderrechte mehr für die Kirchen vorgesehen waren: Trotz Rundfunkstaatsvertrag wird es im dritten Fernsehprogramm des neuen Südwestrundfunks aus Mangel an finanziellen Ressourcen - vorerst, wie es heißt - keine einzige Verkündigungssendung im Programm des neuen Südwest 3 mehr geben (im bisherigen Südwest 3 waren die Kirchen immerhin noch mit den ,Denkanstößen' vertreten). Der - gegenläufig leichte - Ausbau dieses Programmtyps im SWR-Hörfunk durch Etablierung von ,Sendungen mit Lebensorientierung, Trost und Hoffnung' kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß mit solchen Entscheidungen und Verschiebungen eine weitere Tendenz zur Deklassierung und Peripherisierung des Kirchlichen im System der Rundfunklandschaft indiziert wird, zumal die Kirchen wenig attraktive kurzfristige Hörfunk-Sendeplätze haben, auch und gerade am frühen Sonntagmorgen, wenn beinahe alle schlafen, die nicht älter als 65 sind. Hinsichtlich ihrer Werbeträchtigkeit werden die Kirchen insbesondere bei den privaten Anbietern, die insbesondere in den jüngeren Generationen ARD und ZDF vorgezogen werden (s. Noelle-Neumann/ Köcher 1997, 424), als schwach eingeschätzt und auch von daher - von der Logik der Kommerzialisierung her - immer mehr an den Rundfunk-Rand gedrängt. Es gibt Ausnahmen, wie etwa das von Kip-NRW mitgestaltete Kirchenmagazin ,Himmel und Erde', das sonntags morgens zwischen acht und neun Uhr im privaten Hörfunk von NRW ausgestrahlt wird und von etwa einer Million Menschen - darunter auch sogenannte ,Kirchenferne' - gehört wird. 3. Perspektiven Faßt man zusammen und gliedert dabei - unter Verzicht auf die Neigung des praktischen und theoretischen Liberalismus, alle politischen Verhältnisse einseitig verfassungsrechtlich aufzufassen und darüber, salopp gesagt, "Staat, Öffentlichkeit und Politik in einen Topf zu werfen und miteinander zu verwechseln" (Casanova 1994, 26) - das ,Gemeinwesen' in drei Ebenen oder drei Arenen, dann wird man, kurz gesagt, folgende Schlüsse ziehen: 1. Alle Anzeichen sprechen dafür, daß die Trennung von Kirche und Staat auch in Deutschland weiter voranschreitet, wenn dies auch innerhalb der Kirchen selbst heftig umstritten ist. Die derzeitige Diskussion um die Schwangerschaftskonfliktberatung ist der dramatisch zugespitzte Punkt, an dem diese Strukturentscheidung exemplifiziert wird. Die staatliche Ebene selbst bietet der Kirche immer weniger direkte Einflußchancen und umgekehrt: Kirche scheint sich zunehmend aus dem Staat zu entflechten. 2. Aber auch auf der Ebene der politischen Gesellschaft ist die Kirche in Deutschland als direkter politischer Akteur, wie etwa ihr Verzicht auf eindeutige Wahlempfehlungen zeigt, aber auch als indirekter politischer Akteur über eine bestimmte Partei, Verbände und eigene Massenmedien erheblich geschwächt, auch was die politischen Kräfteverhältnisse im neuen Bundestag angeht. Und dies gilt erst recht in anderen westeuropäischen Ländern: "Eine der bedeutsamsten Entwicklungen in den ... vorwiegend katholischen Ländern besteht darin, daß die katholische Kirche, obwohl sie dort ein beispielloses Ansehen und großen Einfluß in der Zivilgesellschaft genoß, ihre herkömmlichen Versuche aufgab, offizielle katholische Parteien entweder zu gründen oder zu fördern" (Casanova 1994, 29). 3. Die Akzeptanz oder Duldung der fortschreitenden Trennung von Kirche und Staat und der Rückzug beziehungsweise die Zurückdrängung der Kirche aus der politischen Gesellschaft heißt noch nicht, auf den Anspruch der Kirche zu verzichten, in Wort und Tat in die Öffentlichkeit der Zivilgesellschaft einzugreifen und sich dem wohl wachsenden Druck zur Privatisierung, ja Intimisierung des Glaubens zu beugen und diesen sozusagen ,sozial' aufzulösen. Wie der Fall USA zeigt, geht jedenfalls die Herausgliederung weltlicher Daseinsbereiche aus der Kontrolle religiöser Institutionen, etwa die Trennung von Kirche und Staat, nicht einher mit der Erosion religiöser Überzeugungen und Praktiken hier und ihrer Privatisierung oder Entöffentlichung dort - im Gegenteil (vgl. Casanova 1994, 22f). Entscheidend wird es darauf ankommen, an diesem christlichen Anspruch auf Weltgestaltung festzuhalten, aber diesen Anspruch politisch anders zu organisieren und - zumindest teilweise - wie andere gesellschaftliche Gruppen auch zu agieren, das heißt sich stärker im zivilgesellschaftlichen Raum zu verorten. Will sich die Kirche nicht auf den Privatbereich beschränken, sondern über diesen hinausgehen, wird dies - und dies erst recht im neuen europäischen Integrationsraum - bedeuten, daß Zivilgesellschaft zur öffentlichen Arena der Kirche wird, und nicht mehr - beziehungsweise immer weniger - der Staat oder die politische Gesellschaft. Fragt man nach den Steuerungsprinzipien einer solchen neuen Strategie der Entprivatisierung des Kirchlichen und Christlichen, wird man nicht auf (rechtliches) ,Gebot und Verbot' setzen können, sondern auf ,Anreiz' (Belohnungen durch Geld, aber auch durch soziale Anerkennung für bestimmte Verhaltenserwartungen) und ,Angebot' (Dienstleistungen), auf ,Überzeugung und Aufklärung', das heißt der Vermittlung von sachbezogenen und emotional eingefärbten Informationen (Massenmedien!), was auch Dialogfähigkeit beziehungsweise Lernfähigkeit voraussetzt, auf ,Solidaritätsschöpfung' (vgl. Ebertz 1998) und ,Vorbild'. Das zivilgesellschaftliche öffentliche Gewicht der Kirche könnte eben auch gewinnen, wenn sie mit ihren eigenen Wertvorstellungen und mit den von ihr selbst produzierten, nicht selten nach außen adressierten Texten kirchenintern exemplarisch ernst machen würde. Durch die permanente Produktion von kirchlichen Texten, die eher bürokratische Strukturen bezeugen als Taten der Innovation und eine bestimmte Spielart des allseits grassierenden Sitzungskatholizismus nährt, sind allenfalls Leser gebunden, die inzwischen bestenfalls als gesellschaftliche Exoten kategorisiert werden dürften. Wie steht es etwa um die Verwirklichung von ,Solidarität und Gerechtigkeit' in den kirchlichen Gemeinden und konfessionellen Krankenhäusern, wie um die Umsetzung der Subsidiarität in den Verbänden der Caritas? "Wo sind", so muß ich mit einem längeren Zitat Norbert Blüm anführen, vorbildliche "Muster der Mitbestimmung, des Miteigentums, der Humanisierung des Arbeitslebens in kirchlichen Betrieben und in kirchlich finanzierten Unternehmen geschaffen worden?" Hat nicht die "Diskussion mit Worten" längst an Eindringlichkeit verloren, "angesichts einer Verbalisierung des öffentlichen Lebens, die ohne Handlung bleibt und deshalb in den Verdacht gerät, durch Erschöpfung von den notwendigen Veränderung abzulenken"? In der Tat: Kirchliche, christliche Öffentlichkeit, öffentliches Christentum könnte durch mehr Selbstkritik und dadurch Einflußkraft gewinnen, wenn die Kirche im eigenen Haus "Modelle einrichtet, die beispielhaft für die Gesellschaft wären". Der Konsultationsprozeß, der ja, über das Kirchenwort hinaus, weitergeführt werden und - so denke ich - doch auch von seinen Ergebnissen aus durch Taten konkretisiert werden soll, scheint mir auch ein zivilgesellschaftliches Experiment in unserer ökonomischen, politischen, gesellschaftlichen und eben auch kirchlichen Übergangsphase zu sein, ein Experiment, dessen Rezeption - und Rezeption der Rezeption - nicht nur der Aufmerksamkeit seiner Inhalte bedarf, sondern auch seiner Sozialformen und seiner öffentlichkeitswirksamen Taten. Diskussion Prof. Dr. Wolfgang Ockenfels stellt die Ausführungen von Herrn Prof. Dr. Ebertz zur Diskussion. Prof. Dr. Heinrich Pompey fragt, ob er den Vortrag richtig verstanden habe, daß zum einen die Entprivilegisierung der Kirche und die Auflösungserscheinungen der Vernetzung von Staat und Kirche beklagt worden seien, andererseits jedoch für eine stärkere zivilgesellschaftliche Ausrichtung plädiert worden sei. Prof. Dr. Michael Ebertz stellt klar, er habe nicht die wachsende Trennung von Kirche und Staat beklagt, sondern an einigen Beispielen eine solche Entwicklungslinie verdeutlichen wollen. Tatsächlich habe der Konsultationsprozeß mit seiner neuartigen Kommunikationsform kenntlich gemacht, daß sich auch die Kirche in einer Umbruchphase befinde. Eine stärkere zivilgesellschaftliche Orientierung sei dabei durchaus erwünscht. Tatsächlich gebe es innerhalb der Kirche gegenwärtig aber noch unterschiedliche Fraktionen, die auf der einen Seite die tendenzielle Differenzierung von Staat und Kirche verhindern und auf der anderen Seite eine stärkere zivilgesellschaftliche Orientierung in Form kirchlicher Gruppierungen oder sozialer Bewegungen erreichen wollten. Seiner Einschätzung nach sei ein Weg zurück zu einer sozusagen Re-Etatisierung des Kirchenverhältnisses nicht mehr beschreitbar. Es gebe im Grunde nur die beiden Optionen einer Privatisierung beziehungsweise Intimisierung des christlichen Glaubens oder ihrer zivilgesellschaftlichen Öffnung und Beförderung. Prof. Dr. Joachim Wiemeyer erinnert an die christlich-soziale Bewegung des 19. Jahrhunderts, bei der es sich im Grunde gleichfalls bereits um eine breite zivilgesellschaftliche Bewegung gehandelt habe. Von ihr habe indessen Nell-Breuning schon vor 20 Jahren gemeint, sie erleide einen schleichenden Tod. Ein Problem in diesem Zusammenhang sei in der Tat eine Überalterung der aus dem vorigen Jahrhundert stammenden sozialbewegten Organisationen, wie zum Beispiel KAB oder Kolping. Die Frage sei deshalb, an welchen Themen- oder Problemfeldern sich eine zivilgesellschaftliche Organisation im kirchlichen Raum halten solle und welche Strukturformen sich anböten. Prof. Dr. Hans-Joachim Höhn fragt, ob und inwieweit der Prozeß der funktionalen Differenzierung der Gesellschaft tatsächlich auch mit einer Marginalisierung der Kirche einhergehen müsse. Trotz der mit der funktionalen Differenzierung verbundenen Ausbildung eigenständiger Sphären, Optionen und Entscheidungsabläufen nach jeweils eigener Sachlogik und Rationalität sei er mit Richard Münch der Meinung, daß es an den Randzonen der verschiedenen Teilsysteme zu Überlappungen komme, die sich gerade auch für die Kirche und ein kirchliches Einmischen im zivilgesellschaftlichen Kontext als besonders zukunftsträchtig erweisen könnten. Die funktionale Differenzierung müsse deshalb nicht unbedingt als eine einlinige Zurückdrängung kirchlichen Engagements im politischen und gesellschaftlichen Raum befürchtet werden. Prof. Dr. Friedhelm Hengsbach gibt zu bedenken, ob man von "der Kirche" als solcher ausgehen könne oder man nicht nach verschiedenen Subjekten innerhalb der Kirche differenzieren müsse. So habe auch Prof. Dr. Ebertz zum einen von den Fraktionen beziehungsweise den verschiedenen kirchlichen Gruppen gesprochen, dann jedoch andererseits auch den Begriff "die Kirche" zurgrundegelegt. Prof. Dr. Karl Gabriel stellt die Frage, ob man nicht von einer mehrstufigen Denk- und Betrachtungsweise des Politischen ausgehen und deshalb darauf hinwirken müsse, die Zivilgesellschaft wieder stärker mit den verschiedenen politischen Ebenen zu verbinden. Wenn es einerseits eine so starke politische Vermischung der Gesellschaft und der wirtschaftlichen Vermarktung der Gesellschaft gebe, sei die Suche nach einem Raum um so notwendiger, der weder völlig durchpolitisiert noch völlig durchökonomisiert sei. Einen solchen institutionellen Rahmen könnten die Kirchen jenseits parteipolitischer oder interessenbezogener Orientierungen bilden. Prof. Dr. Michael Ebertz hält es ebenso wie Herr Prof. Dr. Gabriel für denkbar, daß insbesondere die kirchlichen Wohlfahrtsverbände einen intermediären Raum und Rahmen für zivilgesellschaftliches Engagement bilden könnten, auch wenn sich die Wohlfahrtsverbände noch stärker mit einer solcher Aufgabenstellung auseinandersetzen müßten. Es komme insgesamt darauf an, die sich ergebenden Chancen im Blick auf die zivilgesellschaftlichen Änderungsprozesse wahrzunehmen und nicht lediglich in eine Dauer-Lamentatio zu verfallen. Bei den kirchlichen Wohlfahrtsverbänden sehe er einige Probleme, die sie nicht gerade für eine solche künftige Orientierung präferierten, darüber hinaus aber auch viele Punkte, die sie dazu disponierten. Was die von Prof. Dr. Höhn aufgeworfene Problematik angeht, so stelle auch er unabhängig von dem Prozeß der zunehmenden funktionalen Differenzierung auf vielen Feldern und Ebenen eine Entdifferenzierung fest, und dieses Zusammenspiel von Differenzierung und Entdifferenzierung sei im Blick auf die Moderne und dabei die Chancen der Kirche von besonderem Interesse. So gebe es Entdifferenzierungsprozesse zwischen medizinischen und religiösen Feldern; Heil und Heilung kämen wieder zusammen. Weitere Beispiele seien Religion und Sport, aber auch Popkultur, Musikkultur und Religion. In diesem Zusammenhang halte er beispielsweise auch den politischen Wahlakt und die darauf gründende demokratische Legitimation politischer Machtausübung für ein institutionalisiertes Einfallstor der Entdifferenzierung. Auch die in den USA zu beobachtende Moralisierung des Politischen, bestimmter politischer Ämter oder auch Amtsinhaber sei ein gewaltiger Vorgang von Entdifferenzierung. Auf der Grundlage solcher Entwicklungen und Prozesse der moralischen Legitimation politischer Entscheidungen sei eine stärkere institutionelle Verzahnung der unterschiedlichen zivilgesellschaftlichen und politischen Ebenen durchaus denkbar. Auf den Einwurf von Prof. Dr. Hengsbach eingehend bestätigt Prof. Dr. Ebertz, daß auch er die Kirche nicht als eine monopolitische Einheit, sondern als ein Ensemble lose gekoppelter Fraktionen betrachte, die jeweils unterschiedliche Vorstellungen und Verständnisse des Katholischen beziehungsweise Christlichen repräsentierten und in spannungsvoller Konkurrenz zum Ausdruck brächten. Wenn er von Kirche spreche, meine er die amtskirchlichen Repräsentanten und Entscheidungsträger. Zwar sei die katholische Bewegung des vorigen Jahrhunderts auch Ausdruck zivilgesellschaftlichen Engagements gewesen, wenn auch unter anderen Bedingungen als heute. Die damalige katholische Milieubildung, die auf ganz bestimmten sozialen und strukturellen Voraussetzungen beruht habe, sei jedoch heute nicht mehr gegeben. Deshalb ließen sich vermutlich die seinerzeit entwickelten Sozialformen nicht mehr ohne weiteres ins nächste Jahrtausend retten. Sie müßten sich vielmehr, wenn sie sich stabilisieren wollten, mit neuen Sozialformen amalgieren und Bewegungscharakter annehmen. Teilweise sei ein solcher Prozeß, wie zum Beispiel bei der KAB, im Gange. Unabhängig davon könne die Kirche sehr wohl einen intermediären Raum des Gemeinwohls bilden mit der Chance, unterschiedliche Interessengruppen und Repräsentanten der jeweils eigenen logischen Daseinsbereiche an einen Tisch zu bringen und in einen gemeinsamen Dialog einzuführen, Dialog verstanden als kommunikative Begegnung, um die jeweiligen unterschiedlichen Perspektiven in den Blick zu nehmen, wechselseitig voneinander zu lernen und die notwendigen Entscheidungen darauf zu beziehen. Über diesen kommunikativen Lernvorgang der Kirche werde allerdings seines Erachtens weit mehr geschrieben und gesprochen, als daß er tatsächlich praktiziert werde. Insbesondere gelte es, den sogenannten Sitzungskatholizismus zu überwinden und die gegebenen Dialogmöglichkeiten offensiv zu nutzen. Weihbischof Prof. Dr. Reinhard Marx weist auf ein, wie er meint, gelungenes Beispiel einer solchen kommunikativen Begegnung hin, bei der sich die Kommission VIII der Deutschen Bischofskonferenz mit jungen Schriftstellern, die nicht aus dem kirchlichen Milieu gekommen seien, zusammengesetzt und einen sehr bereichernden und weiterführenden Dialog geführt habe. Vergleichbare Anfragen und Erwartungen von vielen Gruppierungen, auch von Konfessionslosen, an die Kirchen seien nach wie vor vorhanden. Für die Kirche stelle sich die Frage, wie sie auf dem Hintergrund der Funktionsweise moderner Gesellschaften sich in diesen politischen und gesellschaftlichen Diskussionsprozeß einklinken und den Raum für ein stärkeres zivilgesellschaftliches Engagement anbieten könne. Die kirchlichen Verbände, Organisationen und Sozialeinrichtungen könnten nicht der Zivilgesellschaft gleichgesetzt werden. Vielmehr gelte es, die der Funktionsweise einer modernen Gesellschaft entsprechenden institutionellen Rahmenbedingungen gegenüberzustellen. Dabei dürfe keineswegs auf die Einbeziehung des politischen Bereichs verzichtet werden. Er hält es für verheerend, wenn die Kirche angesichts der anstehenden Veränderungsprozesse und dessen, was die Bevölkerung tatsächlich im Blick auf ihre Zukunftsperspektiven bewege, darauf verzichten würde, ihren Einfluß geltend zu machen und politische Diskussionsebenen anzubieten. Zivilgesellschaftliches und politisches Engagement dürften nicht gegeneinander ausgespielt werden. Die Auseinandersetzungen zum Beispiel über die Schwangerschaftskonfliktberatung oder auch den Religionsunterricht seien hochkomplexe politische Meinungsbildungsprozesse, die sowohl in zivilgesellschaftlicher wie in politischer Hinsicht für die Kirche von grundlegender Bedeutung seien. Dr. Gerhard Kruip wirft die grundsätzliche Frage auf, ob die mit der zunehmenden Entflechtung von Kirche und Staat verbundene größere Freiheit der Kirche gegenüber staatlichen Institutionen auch mit einer größeren innerkirchlichen Freiheit einhergehe, die notwendig sei, damit sich die Kirche als zivilgesellschaftlicher Akteur in den gesellschaftlichen Dialog einbringen könne. In diesem Zusammenhang hält er es insbesondere für klärungsbedürftig, wie das erreichte Niveau an theologischer Qualifikation von Laien oder an Professionalität von Sozialarbeit in kirchlicher Trägerschaft oder der in den katholischen Akademien zur Verfügung stehenden Dialogräume sinnvoll genutzt und weiter ausgebaut werden könnten. Ohne eine solche Verständigung befürchte er, daß für diese zivilgesellschaftliche Verständigung unentbehrliche Ressourcen zerstört werden könnten. Dr. Thomas Sternberg schließt sich dem grundsätzlich an und warnt unter Hinweis auf die desolate Situation der Kirche zum Beispiel in Frankreich davor, die in Deutschland bestehenden institutionellen Rahmenbedingungen und Verflechtungen preiszugeben. Ohne einen solchen institutionellen Mindestrahmen sei es der Kirche gar nicht möglich, ihre zivilgesellschaftliche Vorbildfunktion wahrzunehmen und entsprechende Dialogräume anzubieten. Mit Herrn Dr. Kruip und Herrn Weihbischof Prof. Dr. Marx trete er dafür ein, sich sehr wohl zu überlegen, was eventuell aufgegeben werden könne und vielmehr sinnvollerweise zu bewahren sei. Insbesondere sollte nicht denen in die Hände gearbeitet werden, die auf der einen Seite eine liberalistische Position einnähmen und die Kirche als Privatsache bezeichneten und jenen, die aus einem bestimmten kirchlichen Interesse heraus, aber von einer anderen innerkirchlichen Richtung her im Grunde das gleiche wollten. Das in Deutschland herausgebildete Staat-Kirche-Verhältnis dürfe nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden. Prof. Dr. Franz-Xaver Kaufmann zieht zwischen den beiden Referaten von Prof. Dr. Zöller und Prof. Dr. Ebertz eine Parallele insoweit, als ihnen gemeinsam die Spannung zwischen religiöser Identität und zivilreligiösen Erwartungen der Gesellschaft immanent sei. Persönlich sieht er in dem anstehenden Prozeß der Transformation des Politischen, die durch die Relativierung des Nationalstaates und seiner Ersetzung durch eine Art Steuerungs- oder Government-System gekennzeichnet ist, den Referenzpunkt für das kirchliche Wirken nicht mehr allein in dem Gegenüber zum Staat, ebensowenig aber auch allein etwa in einem Rückzug auf die Zivilgesellschaft. Vielmehr müsse sich die Kirche auf die von Prof. Dr. Dubiel beschriebenen Mehr-Ebenen-Bereiche einstellen. Sowohl bei dem zivilgesellschaftlichen Begriff wie bei der Differenzierungstheorie handele es sich um Konstruktionen, die der Komplexität der Wirklichkeit nicht hinreichend gerecht würden. Insofern solle man den zivilgesellschaftlichen Begriff nicht fetischisieren, sondern ihn offenhalten, indem kirchliches Handeln zwar daran ausgerichtet werden könne, ohne daraus jedoch zu starke Orientierungen abzuleiten. Prof. Dr. Kaufmann wirft in diesem Zusammenhang die grundsätzliche Frage auf, was eigentlich die Bedingungen einer religiösen Virulenz des Christentums seien und ob die These von Prof. Dr. Zöller stimme, daß die religiöse Virulenz des Christentums um so geringer sei, je stärker es staatlich verflochten sei, und um so stärker, je weiter sie differenziert sei (Stichwort USA). Persönlich hält er die Überalterung des Klerus, wie sie in der katholischen Kirche bereits heute festzustellen sei und künftig tendenziell noch zunehmen werde, als einen der stärksten Faktoren der Schwächung einer religiösen Virulenz des Christentums. Prof. Dr. Michael Ebertz bittet abschließend um Verständnis, daß er nicht mehr auf alle aufgeworfenen komplexen Fragestellungen im einzelnen eingehen könne, sondern sich auf einige wenige Punkte beschränken wolle. Auf Herrn Prof. Dr. Kaufmann eingehend unterstreicht er, die religionssoziologische Forschung sei ebenso auf den internationalen Vergleich und die jeweiligen nationalgesellschaftlichen Strukturbedingungen wie auch die historische Dimension angewiesen. Insbesondere vermöge die Beobachtung von Langzeitzusammenhängen, angefangen etwa von der Christianisierung bis hin zum Verhältnis der kirchlichen und der profanen Eliten, viele weiterführende Erkenntnisse zu vermitteln. Mit Prof. Dr. Zöller halte er es für eine Schwachstelle des gemeinsamen Wortes, daß es sich zu wenig mit den Verhältnissen in den USA auseinandersetze, auf die geäußerte Vorstellungen über eine Verknüpfung von Säkularisierung und Differenzierung gerade nicht zuträfen. Prof. Dr. Ebertz unterstreicht im übrigen, er habe in seiner Analyse deshalb auf die Unterscheidung der Arenen Staat-Politik-Zivilgesellschaft so viel Wert gelegt, um in dem anstehenden öffentlichen Kommunikationsprozeß für die Sozialethik, beziehungsweise die sozialpolitischen und gesellschaftspolitischen Akteure der Kirche die sich bietenden strategischen Ansätze herauszuarbeiten. Was die innerkirchlichen Folgerungen mit den verschiedenen Fraktionen angehe, die teils stärker auf eine zivilgesellschaftliche Orientierung, teils stärker auf das institutionelle Arrangement des bestehenden Staat-Kirche-Verhältnisses abstellten, halte er es mit Prof. Dr. Zöller: In erster Linie stehe der Kampf um die Herzen, aber auch die Hände und die Gehirne der Menschen an. Jede Fraktion innerhalb der Kirche müsse dabei zur Kenntnis nehmen, daß dies immer weniger über Zwangsarrangements, Verbote oder Gebote beziehungsweise über institutionelle Vorgaben, sondern über das kommunikative Erreichen der Menschen in ihren jeweiligen Soziallagen und Sozialformen gehe und möglich werde. Rom habe längst entdeckt, daß der zukünftige Ort von Kirche jenseits der Jahrtausendwende ein zivilgesellschaftlicher Ort sei, und sei insoweit fortschrittlicher als manche Repräsentanten der katholischen Kirche in Deutschland. Die Eventisierung des Katholischen - Stichwort Weltjugendfesttage - sei Ausdruck einer solchen nationalräumlichen und politischen Entgrenzung. Dieser Entwicklung müsse man auch in Deutschland Rechnung tragen und dürfe die Definition des sozialen und gesellschaftspolitischen Engagements nicht nur einer bestimmten Fraktion in der katholischen Kirche überlassen. Prof. Dr. Ebertz warnt abschließend nachdrücklich davor, den Ort der Kirche immer noch in der Verbrüderung mit dem Staat zu sehen. Diese Zeiten seien vorbei. Prof. Dr. Wolfgang Ockenfels dankt abschließend den Referenten und den Diskussionsteilnehmern für ihre Beiträge. ------------------------------------------------------------------------------------- 1 Vgl. Moltmann (1994), Schneider (1996) 2 Vgl. EKHN (1996, 10, 18). 3 Siehe IfD (1993, 210). 4 Siehe Pollack (1996, 604ff.). 5 Siehe Pittkowski/Volz (1989, 109ff.); Neubert (1994; 1996); Denz (1994, 215f.). 6 Siehe Baier (1996a, 32). 7 Siehe Tenbruch (1960, 129). 8 Siehe Häberle (1978). 9 Ellwein (1955; 1956, 66); s. auch Großmann (1991, 461ff.). 10 Siehe Häberle (1978). 11 Siehe Rock/von Rutenberg (1989); Ebertz (1995b). 12 Veröffentlicht im Osservatore romano, 27. 1. 1998. 13 Ratzinger (1996, 166). 14 Hofmann (1996, 10f.). Ich danke dem Mitglied des Rates der EKD und früheren Leiter des bayerischen Landeskirchenamtes und Oberkirchenrat i.R. ganz herzlich für die freundliche Überlassung seines noch unveröffentlichten Typoskripts, das Grundlage eines Vortrages vor dem Landeskomitee der Katholiken in Bayern, Kloster Seeon, am 18.10.1996, war. 15 Siehe Hoffmann-Lange (1984, 78f.); s. auch Reigrotzki (1956, 54ff) über die negative Korrelation von Kirchlichkeit und Mitgliedschaft in Gewerkschaften. 16 Siehe EMNID (1997, 77ff., 85ff., 89ff.). 17 Dies gilt ähnlich für die Niederlande; s. Dekker/de Hart/Peters (1997, 43). 18 Zur Relevanz und Unterscheidung von ,Prominenz' und ,Prestige' s. Neidhardt (1994, 322ff.). 19 Muth (1996, 512). ------------------------------------------------------------------------------------- Podiumsdiskussion: Entwicklungsperspektiven der katholischen Sozialethik und Zukunftsmöglichkeiten einer sozialethischen "Einmischung" in gesellschaftliche Prozesse Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins: Sehr geehrte Herren Bischöfe, sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen, meine Herren und Damen! Sehr herzlich begrüße ich Sie zu unserer zweiten Arbeitseinheit an diesem Vormittag und lade Sie ein, nicht nur dem Gespräch zuzuhören, das die Podiumsteilnehmer miteinander führen werden, sondern auch selbst mitzudiskutieren. Einführung Während in der ersten Arbeitseinheit die Situierung der Kirchen im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft im Vordergrund gestanden hat, soll die nun folgende Diskussion vor allem die Frage nach Status und Entwicklungsperspektiven der Christlichen Sozialethik (CSE) aufnehmen. Im Titel hat die Vorbereitungsgruppe bewußt - vielleicht für manche etwas irritierend, weil von den herkömmlichen Terminologien abweichend - von "katholischer Sozialethik" gesprochen. Selbstverständlich ist dies nicht im Sinne einer konfessionellen Abschottung gedacht; gerade nachdem das Gemeinsame Wort der Kirchen und der Prozeß seiner Vorbereitung ein von den beiden großen Kirchen in Deutschland getragenes Unternehmen gewesen ist und erstmals in einem kirchenoffiziellen Dokument eine (gewiß entwicklungsbedürftige und -fähige) ökumenische Basis christlicher Sozialethik formuliert hat, wäre eine solche Tendenz ja geradezu absurd. Es geht darum zu markieren, daß wir hier eine Art Selbstvergewisserung aus der Perspektive katholischer Theologinnen und Theologen versuchen, die ihre Sozialethik im Spannungsfeld von Wissenschaft, Kirche, Gesellschaft und Politik auszuweisen haben. Und da gibt es natürlich Aspekte, die etwas mit konfessionellen Traditionen und Strukturen zu tun haben. Fragen und suchen wollen wir hier auf dem Podium und gemeinsam mit Ihnen nach Entwicklungsperspektiven und Zukunftsmöglichkeiten einer sozialethischen Einmischung in gesellschaftliche Prozesse. Diese Fragen stellen sich vor dem Hintergrund der Erfahrungen in und mit dem Konsultationsprozeß und dem Gemeinsamen Wort. Beides sind in erster Linie Ereignisse der Kirchen und zugleich gesellschaftliche Ereignisse, insofern die Kirchen sich auf eine neue Weise in gesellschaftliche Auseinandersetzungen und Prozesse eingemischt haben. Sozialethiker und Sozialethikerinnen haben daran auf vielfältige Weise mitgearbeitet. Allerdings standen einige Kollegen dem Unternehmen auch skeptisch gegenüber - es paßte nicht in das Bild, wie bisher Dokumente der kirchlichen Sozialverkündigung erarbeitet wurden. Das provozierte bei manchen ein gewisses Mißtrauen gegenüber einem partizipativ und bewußt auf die Zulassung von Pluralität angelegten Projekt. Andererseits gab es bei jenen, die dem Projekt von Anfang an positiv und fördernd begegneten, die Sorge, ein solches Experiment könnte mißlingen oder doch noch im Interesse der Wahrung einer einheitlichen Linie abgeblockt werden. Die einen wie die anderen Sorgen haben sich auch in der Art und Weise niedergeschlagen, wie das Gemeinsame Wort von Vertretern der Sozialethik aufgenommen und kommentiert worden ist. Wie dem auch sei, nun ist es an der Zeit darüber nachzudenken, inwiefern diese Entwicklungen die CSE als Wissenschaft herausfordern, ihren kirchlichen und gesellschaftlichen Status, ihre Zukunftsperspektiven und gesellschaftlichen Wirkungsmöglichkeiten zu überprüfen und sich so der Frage nach dem ihr möglichen und von ihr zu erwartenden Beitrag zur Gesellschaftsgestaltung zu stellen. Damit ist das Problemfeld einer wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und kirchlichen Kontextualisierung der Sozialethik eröffnet, in der Tat ein weiter, ja wohl ein zu weiter Rahmen für eine zweistündige Diskussion. Die Podiumsteilnehmer und ich haben uns deshalb darauf verständigt, das Feld anhand einiger zentraler Fragenkreise zu strukturieren, um in dem begrenzten Zeitrahmen ein sicher bestenfalls skizzenhaftes, aber dennoch hoffentlich konsistentes Bild sozialethischer Standortklärung und daraus folgender Forschungsdesiderate entwerfen zu können. Wir können und wollen dabei nicht mit dem Anspruch antreten, für die Fragen, die wir ansprechen, fertige Lösungen zu präsentieren. Ziel unseres Gespräches ist es vielmehr, den status quaestionis zu präzisieren und zu einer Orientierung darüber beizutragen, welche Aufgaben unsere "Zunft" in der näheren Zukunft mit Vorrang angehen muß, wenn sie in einer wissenschaftlich verantworteten Weise zur gesellschaftlichen "Einmischung" fähig bleiben bzw. es noch mehr werden will. Fragenkreise Als Ausgangspunkt unserer Gesprächsrunde auf dem Podium möchte ich nun vier Fragenkreise benennen. Jeden Fragenkreis werde ich kurz einleiten, dann wird einer der Kollegen in einem Statement seine Sicht der angesprochenen Problematik darlegen. Nachdem alle vier Bereiche vorgestellt worden sind, werden wir zunächst innerhalb der Podiumsgruppe die Impulse diskutieren. Nicht nur für die Theologie insgesamt, sondern auch für die CSE als Teildisziplin der Theologie bietet es sich an, von einem Kontextmodell auszugehen, das von den drei Polen Wissenschaft - Kirche - Gesellschaft bestimmt ist. Diesem Modell zufolge verhält CSE sich nicht allein "in einer Doppelrelation zu Gesellschaft und Wissenschaft [...], sondern hat ihren Platz im Dreieck von Gesellschaft, Wissenschaft und Kirche und verhält sich zu allen drei Instanzen in Spannung."20 1. Zum Status der Christlichen Sozialethik im Kontext der Wissenschaften Neuere Versuche der Bestimmung des wissenschaftlichen Status der CSE umschreiben diese als "Brückenfach zwischen Theologie und Gesellschaftswissenschaften"21 bzw. als "interdisziplinäre Disziplin" der Theologie22 - ich greife hier eine Formulierung von Hans-Joachim Höhn auf. Interdisziplinarität, Dialogizität23 - das sind Stichworte, die in der wissenschaftstheoretischen Selbstreflexion der Sozialethik gegenwärtig eine erhebliche Rolle spielen und darauf hindeuten, daß die Herausforderung einer hochgradig differenzierten Gesellschaftsformation, an der Totalitätsansprüche aller Art notwendig scheitern müssen, bei der Sozialethik angekommen ist und sie in ihrem wissenschaftlichen Selbstverständnis gleichsam auf die Probe stellt. Damit stellt sich zwangsläufig die Frage nach der spezifischen Kompetenz der Sozialethik. Sie tritt mit dem Anspruch an, eine "normative Gesellschaftstheorie"24 zu bieten. Dieser Anspruch ist gegenüber zahlreichen und gewichtigen Anfragen zu vertreten: Wie ist dieser Anspruch einzulösen angesichts der Fragmentierung der gesellschaftlichen Wirklichkeit, ohne daß die sozialethische Reflexion doch wieder in die Sphäre realitätsenthobener Abstraktionen flüchtet? Welche Kompetenz und Aufgaben hat die CSE als theologische Wissenschaft wahrzunehmen? Wie kann sie dem Anspruch der Interdisziplinarität inhaltlich und methodologisch gerecht werden? Und inwiefern hat die CSE sich selbst als Lernende in einem interdisziplinären Wissenschaftszusammenhang zu verstehen? Herr Kollege Baumgartner, ich bitte Sie um Ihr Statement! Prof. Dr. Alois Baumgartner: In wenigen Sätzen etwas über den wissenschaftlichen Status des Faches "Christliche Sozialethik" zu sagen, ist nahezu unmöglich. Frau Kollegin Heimbach-Steins hat gewiß die entscheidenen Aufgaben einer erst am Anfang stehenden Selbstvergewisserung derer, die Christliche Sozialethik (CSE) als wissenschaftliche Disziplin vertreten, benannt. Man könnte allenfalls noch hinzufügen, daß die Bezeichnung CSE selbst keineswegs von einem Konsens getragen ist. Die unterschiedlichen Benennungen der entsprechenden Professuren an den Theologischen Fakultäten im deutschsprachigen Raum sind mehr als eine belanglose Reminiszenz an frühere Schulen und Denkansätze. Sie signalisieren vielmehr ein divergierendes Verständnis unserer Disziplin. Für manche Vertreter des Fachs verbirgt sich im Begriff CSE eine Verkürzung des von der Katholischen Soziallehre Angezielten auf den praktisch-normativen Teil der Sozialphilosophie. Für andere werden mit dieser Bezeichnung die produktiven Unterschiede zwischen der Evangelischen Sozialethik und der Katholischen Soziallehre verwischt. Man darf daran erinnern, daß die Umfirmierung des Münchener Lehrstuhls im Jahr 1979 von Christlicher Soziallehre in Christliche Sozialethik, die Wilhelm Korff zur Bedingung seiner Rufannahme gemacht hatte, zu erregten Diskussionen geführt hat. Wenn man trotzdem am Namen Christliche Sozialethik festhält und sich - der damit verbundenen Vorentscheidung bewußt - über das damit Benannte verständigen will, so zeigen sich aus meiner Sicht vier offene Fragen, mit deren Beantwortung man der Identität des Fachs CSE gleichsam durch ein Ausschlußverfahren näher kommt. Erstens, was kennzeichnet die CSE gegenüber den Sozialwissenschaften als spezifisch normative Wissenschaft? Zweitens, worin liegt die Differenz zwischen und der innere Zusammenhang mit der Rechtswissenschaft (wobei zunächst einmal unbeachtet bleiben kann, ob diese sich auch als normative Wissenschaft versteht oder sich im Sinne eines Rechtspositivismus auf eine rein deskriptive und interpretatorische Aufgabe beschränkt)? Diese Problematik tritt umso mehr hervor, je stärker wir uns darauf verständigen, und das scheint eine Bewegung innerhalb unseres Faches zu sein, CSE vorrangig als Institutionenethik zu begreifen. Worin liegt die Differenz zwischen Institutionenethik und Rechtsethik? Drittens: Wo tritt im Fach CSE die theologische Argumentation hervor? Was legitimiert die Integration des Fachs in den Fächerkanon der Theologie? Und schließlich viertens, was unterscheidet innerhalb des theologischen Fächerkanons den Gegenstand einer Sozialethik vom Gegenstand der Moraltheologie, die sozialethische Argumentationsweise von der moraltheologischen (wobei die Tragweite der lehramtlichen Aussage, die christliche Soziallehre sei Teil der Moraltheologie, bedacht werden will). Im Blick auf diese vier Fragen lassen sich die beiden Akzente, die Frau Heimbach-Steins einleitend gesetzt hat, durchaus einordnen: CSE als Brückenfach zwischen Theologie und Sozialwissenschaften und CSE - eine fast paradoxe Formulierung - als "interdisziplinäre Disziplin". Zum einen, die CSE wird faktisch immer ein Brückenfach innerhalb der Theologie in Richtung der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften sein. Aber ihr Spezifikum als normative Wissenschaft könnte niemals hervortreten, wenn man sie gewissermaßen als "ancilla duplex" dazu verpflichten wollte, den Krug theologischer und sozialwissenschaftlicher Denkweisen und Einsichten hin- und herzureichen. Die Interdisziplinarität des Faches ist im Grundsätzlichen so wenig zu bestreiten, wie sie im Faktischen eher eine Vergeblichkeit anzeigt - im Blick auf die Zahl der Fächergruppen, mit denen man zu kommunizieren hätte, und im Blick auf die Ausdifferenzierung dieser Fächergruppen im heutigen Wissenschaftsbetrieb. Wer sich vor Augen hält, auf welcher Breite und mit welchem Spezialisierungsgrad heute in Soziologie, Politologie, Rechtswissenschaft, Kommunikations- und Wirtschaftswissenschaften geforscht wird, weiß um die Bruchstückhaftigkeit und Vergeblichkeit eigentlich erforderlicher Interdisziplinarität, und dies umso mehr, wenn er sich zugleich die schmale Basis vergegenwärtigt, auf der die CSE heute betrieben wird. In der Kürze, der ich mich zu befleißigen habe, sind die vier Fragen, die ich vorhin aufgeworfen habe, nicht im einzelnen abzuhandeln. Lassen Sie mich drei Punkte formulieren in der Hoffnung, nicht allzu viele Mißverständnisse hervorzurufen. Wenn man Ethik als systematische Reflexion menschlicher Praxis unter der Differenz von Gut und Böse beziehungsweise Gut und Schlecht versteht, dann muß CSE deutlich machen, welchen Ausschnitt menschlicher Handlungswirklichkeit sie zum Gegenstand hat. Dabei kann es sicher nicht um jene individuellen Entscheidungen gehen, in denen der einzelne zwischen konkreten Alternativen wählt und sich die Handlungsfolgen im Sinne der klassischen Imputatio-Lehre zurechnen lassen muß. Ihr Gegenstand besteht auch nicht in dem, was das menschliche Subjekt als moralische Persönlichkeit strukturiert und was traditionell in der Tugendethik abgehandelt wird. Gegenstand der Sozialethik sind vielmehr komplexe Entscheidungen wie politische Entscheidungen, unternehmerische Entscheidungen, Programmentscheidungen der Rundfunkanstalten und so fort, das heißt, Entscheidungen, die in der Regel institutionell vermittelt sind, Entscheidungen, in denen gewiß auch zwischen Alternativen abgewogen werden muß, Alternativen freilich, die in der Regel nicht den individuellen Akteuren zur Verfügung stehen und von ihnen realisiert werden können, sondern über Handlungsketten zustande kommen. Von daher gibt es bei solchen Entscheidungen auch keine linearen Verantwortungszuweisungen an individuelle Akteure. Bei komplexen Entscheidungen ist auch der Verantwortungszusammenhang komplex. Ein weiterer Gesichtspunkt: Gesinnungen und Intentionen der beteiligten Individuen sind für die ethische Beurteilung solcher komplexer Entscheidungen irrelevant. Was sich diejenigen gedacht haben, die an einer Gesetzesnovellierung wie auch immer beteiligt waren, ist für sie selbst moralisch bedeutsam, aber für die ethische Beurteilung der Gesetzesnovelle irrelevant. Entscheidend ist vielmehr, was diese für die Menschen austrägt, die ihr unterworfen sind. Das ist der eine zentrale Gegenstand der Sozialethik: komplexe Entscheidungen. Der zweite Gegenstandsbereich umfaßt die sozialen Strukturen, beginnend mit den kollektiven Einstellungen und gesellschaftlichen Präferenzen, über die Institutionen und den diesen zugeordneten Normen der Sitte, der Moral und des Rechts bis hin zu den übergreifenden Ordnungen, der Wirtschaftsordnung, der politischen Ordnung, der Medienordnung und so fort. In diesem Sinn zeichnet sich, wie gesagt, ein wachsender Konsens dahingehend ab, CSE in erster Linie als Strukturenethik, als Institutionenethik zu verstehen. Dabei ergibt sich ein formales Problem der Sozialethik, nämlich darzulegen, inwieweit soziale Strukturen nicht nur das Ergebnis vorgängigen Handelns sind, sondern zugleich Teil der aktuellen gesellschaftlichen Handlungswirklichkeit. Das materiale Problem der Sozialethik, das sich dabei ergibt, besteht darin, wie sie der funktionalen Ausdifferenzierung moderner Gesellschaften in Teilsysteme gerecht wird, wie sie dieser Tatsache im interdisziplinären Gespräch Rechnung trägt, wie sie die systemspezifische Logik und Rationalität zur Kenntnis nimmt und wie sie das im Teilsystem und in den ihm zugeordneten Institutionen zum Tragen kommende Ethos wahrnimmt. Ein zweiter Punkt: Das ethische Kriterium - in der überlieferten Diktion müßte man vom formalen Objekt unserer Disziplin sprechen -, also das Kriterium, unter dem komplexe Entscheidungen und soziale Strukturen beurteilt werden, ist der Mensch als Person in seinen Entfaltungschancen, in seinen grundlegenden Bedürfnissen und Rechten. Und hier, so scheint mir, kommt ganz wesentlich die Theologie ins Spiel. Die Christliche Sozialethik fußt auf der theologischen Anthropologie. Ein dritter Punkt, und auch dieser nur ganz kursiv: Die Sozialprinzipien - dies wieder deutlich zu machen, stellt in Erinnerung an die gestern gehörten Vorträge eine vordringliche Aufgabe dar - sind handlungsnähere Explikationen des Anspruchs an gesellschaftliche Entscheidungen und Strukturen, die sich aus einem christlichen Verständnis der menschlichen Personalität ergeben. Wenn diese Rückbindung aufgegeben wird und nicht mehr sichtbar ist, dann treten, wie wir das gestern vor allem im Referat von Herrn Kollegen Zöller gehört haben, Freiheit und Eigenverantwortung in einen schroffen Gegensatz zur Solidarität, und die liberale Weltanschauung kann sich der Subsidiarität als ihres zentralen Prinzips rühmen. Wir müssen feststellen, daß der Erfolg wesentlicher sozialethischer Kategorien, die in der Katholischen Soziallehre ihre Wurzeln haben, in der gegenwärtigen öffentlichen Diskussion dazu geführt hat, daß sie beliebig gedeutet und allen möglichen Optionen anverwandelt werden. Demgegenüber wird es die Aufgabe der CSE sein, diesen Sozialprinzipien wieder zur ursprünglichen Aussagekraft zu verhelfen, die Profilierung dieser Begriffe zu versuchen und ihren inneren Zusammenhang aufzuzeigen. Die Sozialprinzipien werden heute in der Regel ja als isolierte Sätze dargeboten. Es gilt der Neutralisierung der Aussagekraft wie auch der Karikatur dieser Prinzipien entgegenzuwirken. Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins: Vielen Dank für Ihr Statement, Herr Baumgartner. Ich möchte gleich zum zweiten Fragenkreis übergehen. Er betrifft den kirchlichen Zusammenhang, den kirchlichen Status der christlichen Sozialethik. Wir wissen alle, daß die akademische Sozialethik lange Zeit in erster Linie - ich spitze es etwas zu - als eine Art "Dienstleistungsunternehmen" für die lehramtliche Sozialverkündigung verstanden und betrieben worden ist. Traditionell bestand eine sehr enge Verknüpfung zwischen der lehramtlichen Sozialverkündigung und dem, was im akademischen Raum christliche Gesellschaftslehre, christliche Sozialwissenschaft oder ähnlich hieß. Als Sozialphilosophie hatte sie im wesentlichen die normativen Grundlagen zu erarbeiten für die katholische Sichtweise auf Gesellschaft, Wirtschaft und Politik und die in der Regel von sozialethischen Experten vorbereiteten lehramtlichen Dokumente auszulegen. Über diesen Zusammenhang hinaus spielte die Kirche als Glaubensgemeinschaft und so als Bezugsgröße christlicher Sozialethik eigentlich keine bedeutsame Rolle. Sie kam auch kaum als Objekt in den Blick für die Sozialethik im Sinne der Suche nach einer Sozialethik des kirchlichen Lebens, denn Kirche wurde nicht als sozialer Prozeß, nicht unter dem Vorzeichen der Teilhabe an gesellschaftlichen Entwicklungen reflektiert. Und der soziologische Paradigmenwechsel des II. Vatikanums kam in der christlichen Sozialethik jedenfalls hierzulande allenfalls sehr langsam zum Tragen. Ich denke, daß in dieser Hinsicht das Ereignis des Konsultationsprozesses und des gemeinsamen Wortes sicher Indiz für einen Wandlungsprozeß ist, aber zugleich auch eine Herausforderung für die Sozialethik, sich noch einmal in diesem Spannungsfeld zu definieren, wenn sie sich denn, wie Herr Höhn das einmal formuliert hat, als "Bezugswissenschaft christlicher Glaubenspraxis"25 definieren will. Deshalb frage ich Herrn Höhn: Wie ist denn dann die spezifische Rolle und Kompetenz der Sozialethik im Kontext Kirche als gesellschaftlicher Akteur zu bestimmen, wie kann sie, soll sie die sozialethische Kompetenz der Kirche unterstützen und begleiten und wie kann sie das tun, ohne ihre Eigenständigkeit und Unabhängigkeit als Wissenschaft dranzugeben? Prof. Dr. Hans-Joachim Höhn: Ich muß den riskanten Versuch unternehmen, einer Frage auszuweichen und trotzdem zur Sache zu kommen. Denn ursprünglich lautete die Frage, auf die ich mich vorbereitet habe: die kirchliche Dimension der christlichen Sozialethik. Marianne Heimbach-Steins hat bereits angedeutet, daß es eine gewisse Erblast gibt. So wie einige von uns Sozialethik studiert haben, bestand sie vorwiegend darin, daß die Vertreter auf den Lehrstühlen als Pflichtverteidiger des römischen Lehramtes auftraten und die Sozialenzykliken gegen allfällige Einwände verteidigten. Andere sind geistliche Berater bei bestimmten Verbänden geworden, sind in den Braintrust dieser Verbände eingetreten und für manchen Außenstehenden vielleicht zum Legitimationsbeschaffer bestimmter Aktionen und Initiativen geworden. Ist es das, was die Kirche von der christlichen Sozialethik von den Subjekten, den Männern und Frauen auf den Lehrstühlen zu erwarten hat? Ich möchte einen anderen Vorschlag machen: Will sich die Kirche im Diskurs über die ethischen Existenzbedingungen moderner Gesellschaften Gehör verschaffen und den an sie gerichteten Erwartungen einer "menschen- und lebensdienlichen" Pastoral genügen, muß sie in gleicher Weise über eine sozialanalytische, selbstreflexive und handlungsmotivierende Kompetenz verfügen. Nur so kann es gelingen, den Öffentlichkeitscharakter des Evangeliums und die gesellschaftlich-politische Dimension christlicher Glaubenspraxis wirkungsvoll zur Geltung zu bringen. Vor diesem Hintergrund erfüllt eine Christliche Sozialethik für die Kirche ebenso eine Funktion "ad extra" wie auch "ad intra", indem sie sowohl die gesellschaftlichen Bedingungen als auch die politischen Folgen des Christseins auf den Begriff zu bringen sucht. Sie hat aufzuklären über die soziokulturellen Umstände einer zeit- und sachgemäßen Glaubenspraxis und anzuregen zu einer evangeliumsgemäßen Veränderung dieser Umstände. Eine Christliche Sozialethik muß auch darlegen, welche Relevanz einem theologischen Denkhorizont mit einer originär christlichen Lebenspraxis für die ethischen Suchbewegungen der Gegenwart zukommt. Zu klären ist, worin die "Modernitätskompatibilität" und die "Säkularisierungsresistenz" des Christentums besteht. Anders gesagt: Mit der Christlichen Sozialethik verfügt die Kirche innerhalb der Theologie über eine Bezugswissenschaft, deren Auftrag es ist, jene Felder zu erschließen, in denen Christen die für eine Inkulturation des Evangeliums in eine technisch-industrielle Kultur unabdingbare sozialanalytische, zeitkritische und kommunikative Kompetenz erwerben und erproben können. Ihre Aufklärungsfunktion nimmt die Sozialethik in der Weise wahr, daß sie eine soziologische Außenperspektive an die Bestimmung gesellschaftlicher Glaubenspraxis anlegt. Diese Perspektive macht Theologie und Kirche letztlich auch erst fähig, ihre Anliegen und ihre Geltungsansprüche öffentlich wirksam darzustellen. Gerade in diesem Bereich besteht beträchtlicher Nachholbedarf. Die Transformation komplexer Gesellschaften zur "civil society" mit veränderten Zuordnungen von Lebenswelt, Staat und Gesellschaft läßt überkommene Verhältnisbestimmungen von Kirche und Gesellschaft obsolet erscheinen und macht auf seiten der Kirche neue Selbstverständigungsleistungen sowie Neudefinitionen ihres öffentlichen Anspruchs nötig, die von einer dogmatischen Ekklesiologie allein nicht erbracht werden können. In der Erfüllung dieser Aufgabe sehe ich eine wichtige Funktion Christlicher Sozialethik. Neben der Aufklärungsfunktion hat die CSE Begründungsleistungen zu erbringen. Sie darf gesellschaftliche Entwicklungen nicht bloß in ihrem Ablauf protokollieren, sondern hat diese Forschungen unter dem Aspekt der ethischen Vernunft durchzuführen, das heißt zu den Erkenntnissen der empirischen und historischen Sozialforschung unter Angabe allgemein einsichtiger Moralprinzipien wertend, kritisierend und handlungsstimulierend Stellung zu nehmen. Angezeigt ist daher die Auseinandersetzung mit den "Begründungsdiskursen" der zeitgenössischen Moralphilosophie, um Regeln und Kriterien der Normenbegründung beziehungsweise Willensbildung und Urteilsfindung zu ermitteln, die auch in weltanschaulich pluralen Gesellschaften Konsensbildungen in ethischen Fragen ermöglichen. Sozialethische Begründungspflichten erstrecken sich auf: a) den Aufweis der Relevanz moralischer Praxis für die Bewältigung von Fragen, die Ökonomie, Politik und Technik hervorbringen, aber mit eigenen Mitteln nicht lösen können; b) den Nachweis der Rechtfertigungs- und allgemeinen Zustimmungsfähigkeit der Inhalte und Folgen moralischer Praxis; c) die Identifizierung der empirischen Geltungsbedingungen moralischer Normen. Man könnte es auch abgekürzt so formulieren: Die Christliche Sozialethik hat gegenüber der soziologischen und philosophischen Vernunft die Sache des Glaubens zu vertreten und sie hat gegenüber den Glaubenden die Sache, das heißt die Begründungsverpflichtungen der Vernunft zur Geltung zu bringen. In ethischen Angelegenheiten genügt es nicht, das Herz auf dem rechten Fleck zu haben. Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins: Vielen Dank, Hans-Joachim Höhn. Mit dem Stichwort Begründungsleistungen habe ich sofort die Brücke zum nächsten Fragenkreis. Denn ich denke, es ist uns allen klar, daß die vielfach beschworene Einmischung der Kirchen wie der wissenschaftlichen Sozialethik in gesellschaftliche, politische Prozesse ja kein Selbstzweck ist nach dem Motto: "Dabeisein ist alles". Vielmehr geht es um die Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Mitverantwortung, von der sich weder einzelne Christen noch die Kirchen als Institutionen noch die Theologie und in ihr die christliche Sozialethik dispensieren können. Das gemeinsame Wort hat mit der Suche nach dem neuen "Grundkonsens" eine Dimension dieser Verantwortung aufgenommen, wobei hier die These ist, daß die Verständigung über die Zukunftsentwicklung der Gesellschaft nicht nur bestimmter Verfahren fairer Konfliktaustragung bedarf, sondern auch eines Fundamentes gemeinsamer Wertorientierungen. Über diese These kann man diskutieren, aber das ist die Ausgangsbasis, auf der das gemeinsame Wort nach einer Verständigungsleistung gesucht hat. Wie auch immer die Chancen und die Reichweite einer solcher materialethischen Verständigung in der pluralen Gesellschaft einzuschätzen sind, unbestritten ist, daß von einem christlichen Standpunkt aus bestimmte, für die Identität von Christen und ihren Kirchen grundlegende normativ-ethische Orientierungen in den gesellschaftlichen Diskurs einzubringen und zu begründen sind. Darauf hat Herr Höhn hingewiesen: die Gerechtigkeitsverpflichtung, das ist zum Beispiel ein Kristallisationspunkt, ein Schlagwort, an dem wir uns festmachen, im Sinnhorizont des christlichen Glaubens konkretisieren müssen. Und es gehört heute sicherlich zu den zentralen Aufgaben christlicher Sozialethik, dies so zu tun, daß die Horizonte der Verantwortung nicht zu eng gefaßt werden: Gerechtigkeit also in weltweitem Maßstab und Gerechtigkeit unter Berücksichtigung des Anspruchs der nachfolgenden Generationen. Kollege Hoppe, Sie haben einmal gesagt, es komme darauf an, wahrzunehmen, "daß Sozialethik der Stimme der Kirche nur soweit Gewicht verleihen kann, wie sie auch ihren außerkirchlichen Adressaten und deren in der Regel anderem Konzept von Handlungsorientierung vermittelbar ist und erkenntlich macht, wo ihr Bezug zu den konkreten Entscheidungsproblemen des Alltags und ihre Hilfe in diesen Entscheidungen aufzusuchen ist."26 Wie kann gerade angesichts der Uneindeutigkeit des Begriffs Gerechtigkeit, der ja von nahezu allen gesellschaftlichen Kräften beansprucht wird, dieser Anspruch eingelöst werden? Prof. Dr. Thomas Hoppe: Mir scheint eine Antwort auf diese Frage möglich, wenn man sich an einem Ansatz orientiert, wie ich ihn - angesichts der Kürze der Zeit - in thesenartiger Form vorstellen möchte: 1. Der christliche Zugang zu Fragen politischer Ethik kann nicht darin bestehen, sich jeweils mit den "Siegern", den Mächtigen in der aktuellen geschichtlichen Epoche zu verbünden. Vielmehr gewinnt die "Rückseite" der Geschichte, die sich im konkreten Schicksal derer spiegelt, die Nachteile erleiden, ja zum Opfer werden, eine heuristische Funktion für die Suche nach der ethischen Qualität einzelner politischer Entscheidungen, aber auch der Systemstrukturen von Politik überhaupt. Christen sind so zur Solidarität mit denen aufgefordert, die unter Unrecht und Unterdrückung leiden; das Engagement für die Überwindung solcher leidverursachender Situationen muß deswegen über ein unverbindliches Wohlwollen für den "fernen Nächsten" weit hinausgehen. Ein erster Zugang christlicher sozialethischer Reflexion zum Feld des Politischen besteht also darin, auf den Charakter der Folgen politischer Entscheidungen für das Leben der von ihnen konkret Betroffenen hinzuweisen und darauf zu dringen, daß durch sie verursachtes, unnötiges Leid vermindert oder beseitigt wird. In dieser anwaltschaftlichen Funktion, in der nach der Verantwortbarkeit sozialen und politischen Handelns angesichts seiner faktischen Folgen gefragt wird, halte ich das Anliegen einer christlichen Sozialethik für kommunikabel auch in Räume hinein, die der kirchlichen bzw. theologischen Rückbindung dieses Anliegens prinzipiell eher fernstehen. 2. Dann aber kommt alles darauf an, die jeweilige ethische Stellungnahme in einer Sprache zu formulieren, die außerhalb des kirchlichen Bezugsfeldes verstanden werden kann. Ihre wesentlichen normativen Aussagen muß gerade die Sozialethik deswegen in philosophischen Kategorien zur Geltung bringen, die einem Diskurs auch mit solchen Partnern offenstehen, die sich anderen weltanschaulichen Zugängen verpflichtet sehen. Dies scheint mir beispielsweise in der Frage nach Gerechtigkeit durchaus möglich: faßt man die Diskussion um die Menschenrechte als einen Kristallisationspunkt der Gerechtigkeitsproblematik auf, so kann man ins Zentrum dieser Diskussion die Frage stellen, ob nicht Menschenrechte - im Sinne Otfried Höffes - jene "Anfangsbedingungen des Menschseins" definieren, denen jeder zustimmen müßte, wenn er nur sein eigenes Verständnis von personaler Würde hinreichend reflektiert und entfaltet. Der Topos der Menschenrechte stellt damit zum einen eine "Schnittstelle" dar, über die ethische und politische Diskurse wechselseitig füreinander "anschlußfähig" werden; zum anderen läßt er sich so weit konkretisieren und operationalisieren, daß der Gesprächspartner aus dem politischen Raum ermessen kann, was diese Diskurse für seine konkreten Entscheidungsprobleme austragen. Denn viele dieser Entscheidungen haben eine mehr oder minder direkte menschenrechtliche Relevanz. Deswegen scheint es mir sachgemäß, daß das Gemeinsame Wort in seiner Skizzierung des wünschenswerten Grundkonsenses mit einer menschenrechtlichen Argumentation einsetzt. 3. Orientiert an der Frage nach den Menschenrechten, obliegt es sozialethischer Argumentation vor allem, das Vorverständnis kritisch zu reflektieren, das vielen politischen Entscheidungen zugrunde liegt. Einerseits kann sie nur dort Überzeugungskraft erwarten, wo sie bereit und in der Lage ist, sich auch in manchem Detail mit den in sozialwissenschaftlichen Disziplinen vorfindlichen Argumentationsständen auseinanderzusetzen. Sie verliert ihr Profil als ethische Argumentation aber auch dann, wenn es ihr nur darum zu gehen scheint, von einem vorgegebenen politischen Sachstand aus gewissermaßen nach Art eines mathematischen Optimierungsverfahrens nach besseren Lösungen zu suchen. Statt dessen müßte sie zuvor die Prämissen, auf denen die gegebenen Sachstände aufruhen, grundsätzlich hinterfragen. Häufig werden bestimmte politische, wirtschaftliche oder militärische Handlungsweisen mit Hilfe der Überlegung gerechtfertigt, daß es sich dabei um das in der gegebenen Situation geringere Übel handele. Diese Argumentation trifft jedoch solange auf zutiefst berechtigte Skepsis, wie sie die Entstehungsgründe der Handlungssituation selbst und deren moralische Qualität aus der Betrachtung ausklammert. Nur wo beide Dimensionen thematisiert werden, ist ethisches Argumentieren sach- und evangeliumsgemäß zugleich. Die in wissenschaftlicher Forschung umzusetzende ethische Argumentation bedarf deswegen zur inhaltlichen Konkretisierung einzelner ihrer Forderungen häufig des interdisziplinären Dialogs mit Politik- und Sozialwissenschaften; der Sozialethiker benötigt dazu im jeweiligen Sachbereich eine über das ethisch-Prinzipielle deutlich hinausgehende fachwissenschaftliche Kompetenz. Im Dialog zwischen den fachwissenschaftlichen Einzeldisziplinen einerseits und sozialethischen Zugängen zum Problem gerechter Weltgestaltung andererseits sind dann freilich wiederum unterschiedliche Vorverständnisse der jeweils behandelten Fragestellung zu thematisieren und kritisch zu reflektieren: Jeder Wissenschaftler wird "in seiner Arbeit beeinflußt von ... Werten, die ihn gerade dieses Forschungsgebiet oder einen bestimmten Gesichtspunkt eines Problems als bedeutsam ... erscheinen lassen... Von diesem Forschungsinteresse wird aber häufig auch der Inhalt der Forschung selbst beeinflußt. Von ihm hängt beispielsweise ab, welche Aspekte der Wirklichkeit überhaupt einer Beachtung für wert gehalten werden und was vernachlässigt werden kann" (Walter Kerber, Sozialethik, Stuttgart 1998, 19). 4. Der Versuch, sich mit sozialethischen Argumenten in politische Prozesse einzumischen und als kritisches Korrektiv zu wirken, ohne an den politischen Entscheidungen direkt teilzuhaben, sollte als Chance begriffen werden: gerade diese Freiheit von unmittelbarer Verantwortung befähigt dazu, entscheidende Fragestellungen zu formulieren, auf die die tägliche Politikgestaltung Antworten zu geben hätte - so weit wie möglich unverstellt von jenen Partikularinteressen, die sich stets in den Vordergrund der Überlegungen politischer Parteien drängen und diese daran hindern, gemeinsame Politik zum Wohl einer größeren Gesamtheit zu betreiben. Gesellschaftlichen Akteuren, unter ihnen auch den Kirchen, wächst daher die Aufgabe zu, auf die problematischen Folgen einer kurzsichtig auf Partikularinteressen abstellenden Politik hinzuweisen; und zwar bevor sich daraus ein so brisanter Konfliktstoff entwickelt hat, daß unkontrolliert freigesetzte Emotionen schließlich eine vernunftgeleitete, ethisch akzeptable Problemlösung verunmöglichen. In diesem Sinn können Kirchen in hervorragender Weise subsidiär auf dem Gebiet der Politikgestaltung tätig werden, ohne selbst das Zentrum der politischen Macht zu sein. Ihr gesellschaftlich-politisches Engagement, ihre Beratungsgremien und ihre öffentlichen Äußerungen beziehen von hierher ihre wichtigste Legitimation. Die öffentlich wirksame Vermittlung solcher Stellungnahmen ist dabei nicht nur Sache amtskirchlich autorisierter Personen, sondern ebenso kirchlicher Verbände und Gruppierungen. Freilich tragen ihre Berater deswegen auch eine schwere Verantwortung. Denn die Kirchen sprechen, wenn sie überhaupt wirksam reden, aufgrund ihrer moralischen Autorität, die sie nicht leichtfertig aufs Spiel setzen dürfen. 5. Zur Glaubwürdigkeit und damit zur Legitimität eines Anspruchs auf sozialethische "Einmischung" in politische Prozesse gehört nicht zuletzt die Bereitschaft, das eigene Theoriegebäude der harten Gegenprüfung an der politischen und sozialen Wirklichkeit auszusetzen. Dazu wird es immer wieder nötig sein, sich realen Erfahrungen von Negativität zu stellen und die Einsicht zuzulassen, daß der Verzicht auf vorgeblich optimale, definitive zugunsten "zweitbester", vorläufiger Lösungen eine Vorausbedingung für die Wahrung des Humanum sein kann. Und es gilt der Einsicht Rechnung zu tragen, daß es zumeist leichter ist, einen Konsens darüber zu erzielen, was auf keinen Fall sein sollte, als darüber, was positiv geschehen sollte, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Nichts wäre gefährlicher, als im Rahmen einer "Binnenethik" der bereits Überzeugten zu verbleiben - intern akzeptiert, aber folgenlos nach außen - und damit letzten Endes ungehört. Was gilt es konzeptionell zu leisten, um dieser Gefahr zu entgehen? Hier scheint mir ein entscheidender Punkt markiert, über den weiter intensiv nachzudenken gerade im Licht unserer heutigen Debatte um das Gemeinsame Wort des Schweißes der gesamten sozialethischen community wert wäre. Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins: Vielen Dank, Thomas Hoppe. Wir kommen zum vierten und letzten Fragenkreis, in dem wir diese Spur der politischen Orientierung durch die Sozialethik noch ein Stück weiterführen und nach Ebenen der "Einmischung" in gesellschaftliche Prozesse fragen müssen. Die Erarbeitung und Begründung ethisch-normativer Prinzipien und Kriterien ist eine zentrale Aufgabe christlicher Sozialethik. Eine andere, nicht minder bedeutsame Frage ist, wie solchen Ansprüchen im gesamtgesellschaftlichen Kontext Beachtung und Anerkennung zu verschaffen ist und damit die Chancen ihrer Umsetzung gefördert werden können. Unter den Bedingungen der funktional ausdifferenzierten und pluralen Gesellschaft liegt gerade in dieser Frage ein grundlegendes Problem. Deshalb kommt die Sozialethik nicht umhin, über die Ebenen möglicher Einmischung in gesellschaftsgestaltende Prozesse nachzudenken und im Zusammenhang institutionellen Handelns etwa auch die politischen Implikationen bzw. den politischen Charakter solcher Mitsprache und Mitverantwortung seitens der Kirchen zu ergründen. Kristallisationspunkt der Diskussion, die diesbezüglich im Nachgang des gemeinsamen Wortes geführt wird, ist die These "Die Kirchen wollen nicht selbst Politik machen, sie wollen Politik möglich machen."27 Auf den ersten Blick vertritt sie einen offensichtlich zu engen Politikbegriff,28 auf den zweiten Blick sind es eher zwei verschiedene Politikbegriffe, die hier zum Tragen kommen: ein engerer, auf staatliches Handeln bezogener, und ein weiterer, auf die Zivilgesellschaft bezogener.29 Vor diesem Hintergrund ist die Frage nach den Ebenen gesellschaftlicher "Einmischung" zu stellen: Herr Kollege Schramm, wie ist eine Sozialethik zu konzipieren, die den Bedingungen politischen Handelns in der komplexen modernen Gesellschaft angemessen Rechnung trägt? Wie ist unter den gegebenen Voraussetzungen die Zuordnung von ordnungspolitischen Fragen und institutionenethischen Ansätzen einerseits und Fragen des "zivilgesellschaftlichen" Engagements und handlungsethischen Ansätzen andererseits zu konzipieren? Prof. Dr. Michael Schramm: Das Problem der ,Einmischung' der Theologischen Sozialethik und der Kirchen in gesellschaftsgestaltende Prozesse besteht in der Frage, ob die Theologische Sozialethik der geneigten Öffentlichkeit etwas Eigenes nutzbringend anbieten kann oder nicht. Es geht also um das Problem der Einmischungskompetenz. (1) Die programmatische ,Verortung' sozialethischer Einmischungsmöglichkeiten im Sozialwort ist meines Erachtens grundsätzlich einsichtig: "Die Kirchen wollen nicht selbst Politik machen, sie wollen Politik möglich machen"30. In der ausdifferenzierten Gesellschaft der Moderne können Kirchen bzw. Theologische Sozialethik nicht die Rolle der primären Akteure (PolitikerInnen und Verwaltungsleute) des regelgestaltenden Politiksystems für sich in Anspruch nehmen, können also ,nicht selbst Politik (im engeren Sinn) machen'31. Vielmehr geht es hier um das zivilgesellschaftliche Handeln, das mittels institutionenethischer Grundsätze und Gestaltungsvorschläge dazu beitragen möchte, daß sich die gesellschaftlichen ,Spielregeln', die im Politiksystem ,produziert' werden, gemeinwohldienlich auswirken. (2) Wie sieht es nun aus mit der sozialethischen Kompetenz der Theologischen Sozialethik und der Kirchen im Hinblick auf solche ,Einmischungen' in die geneigte Öffentlichkeit der Zivilgesellschaft aus? (2.1) Um die Theoriekompetenz der Theologischen Gesellschaftsethik aufzuschlüsseln, lege ich die drei Komponenten der Theologischen Gesellschaftsethik auseinander. Die Stichworte lauten also: Theologie, Ethik und (moderne) Gesellschaft. (2.1.1) Als Theologie besitzt die Theologische Gesellschaftsethik die genuine Kompetenz, ,Ersatztheologien' in wirtschaftspolitischen Konzeptionen zu diagnostizieren und theologisch zu kritisieren. Zwei Beispiele hierzu: Da wäre zum einen das - mittlerweile vielleicht verstaubte - kommunistische Modell, das bekanntlich auf eine immanentistische Heilsverheißung hinauslief, das sich also nicht damit beschied, (fragmentarisch) gerechtere Verhältnisse anzustreben, sondern den Anspruch erhob, das himmlische Reich der Gerechtigkeit schlechthin bereits auf Erden nach zentralem Plan zu verwirklichen - was die Erde regelmäßig in eine Hölle verwandelt hat. Das war Ersatztheologie32 - hier eine Besetzung der Transzendenz mit einer immanentistischen Allwissenheitsanmaßung. Theologische Kritik an ideologischen Ersatztheologien ist jedoch auch am liberalistischen Gegenmodell zu üben. Hier wird die (Markt-),Freiheit' zu einem ,absoluten' Wert an sich dogmatisiert: "Eine wirksame Verteidigung der Freiheit muß [...] notwendig unbeugsam, dogmatisch und doktrinär sein und darf keine Zugeständnisse an Zweckmäßigkeitserwägungen machen"33. Das ist Divinisierung34. Die Marktfreiheit ist aber kein diviner Wert an sich, sondern ist ein ,nur' kontingenter Wert: Freiheit ist nur insofern ein Wert, als sie Wert hat, das heißt sich als nützlich erweist35. Gegenüber beiden Ersatztheologien geht es theologisch darum, die Transzendenz frei zu halten von immanenten Besetzungen, die Fraglichkeit, die Kontingenz des Immanenten offen zu halten. Insofern fungiert Theologie (mit ihrem Code: Immanenz / Transzendenz) als ,kontingenzeröffnende Heuristik'36. (2.1.2) Im Sozialwort wird die Kompetenz der Kirchen primär vom ethischen Aspekt her gesehen37. Dies ist sachgerecht, denn die Zuständigkeit für Ethik wird üblicherweise den beiden Disziplinen zugeschrieben, die in den Ausdifferenzierungsprozessen der positiven Sozialwissenschaften quasi ,übriggeblieben' sind, nämlich den ,Ganzheitssemantiken' Philosophie und eben Theologie. Drei Punkte hierzu: (a) Da wäre erstens das biblische Menschenbild, das wiederum zwei Dimensionen besitzt. Zum einen ist hier auf die Vorstellung von der gleichen Würde aller Menschen (mit besonderer ,Option für die Armen') zu verweisen. Da diese Vorstellung einerseits zur - von (fast) allen Beteiligten erwünschten - Moral-Verfassung der modernen Kultur geworden ist (etwa mit der UNO-Menschenrechtserklärung), man aber andererseits sagen kann, daß die Vitalität dieses Glaubens an die Menschenwürde auch von den semantischen Gehalten der religiösen Sprache lebt (wie etwa ein ,Kirchenvater' für viele Sozialethiker, Jürgen Habermas, hervorhebt38), ergibt sich, daß sich die aktualisierende Aufarbeitung dieses biblisch fundierten Menschenbildes eben durch die Theologische Ethik als hilfreich erweisen kann. In der Bibel findet sich zum anderen ein destilliertes Menschheitswissen über die moralische Ambivalenz des (Alltags-)Menschen ,wie er geht und steht': Der Mensch ist weder Schurke noch Heiliger (Mk 14,38; Mt 6,13). Wenn man diese Seite des biblischen Menschenbildes nicht nur auf eher schlüpfrige Angelegenheiten bezieht, sondern auf den Bereich des Wirtschaftlich-Sozialen, dann legt das biblische Menschenbild nahe, die Wirtschaftsordnung grundsätzlich mit den entsprechenden Anreizen so auszugestalten, daß sie auch mit dem ,normalen' Alltagsmenschen, ,wie er geht und steht', funktioniert39. (b) Die vier Sozialprinzipien in der Tradition der Katholischen Soziallehre könn(t)en die nützliche Aufgabe erfüllen, als richtungsweisende Maßstäbe zu fungieren. Da nun aber üblicherweise sowohl das Subsidiaritäts- als auch das Solidaritätsprinzip gleichermaßen als Organisationsprinzipien konzipiert werden40, läßt es sich nicht mehr vermeiden, daß man unter Berufung auf das Solidaritätsprinzip einen quantitativen Ausbau des Sozialstaats, dagegen unter Berufung auf das Subsidiaritätsprinzip einen Abbau des Sozialstaats einfordern kann. Um diese Beliebigkeit zu vermeiden, müssen Solidarität und Subsidiarität systematisch auf verschiedenen Ebenen angesiedelt werden: Die Prinzipien der Personalität, des Gemeinwohls und der Solidarität, die im wesentlichen auf das gleiche hinauslaufen, sind als normative Zielprinzipien zu konzipieren, so daß nur das Subsidiaritätsprinzip allein als instrumentales Mittelprinzip (Organisationsprinzip) in Anschlag gebracht wird (also: ,subsidiär organisierte Solidarität')41. (c) Will die Theologische Sozialethik, deren Code die Unterscheidung ,gerecht/ungerecht' benutzt42, mit einem Beitrag zur modernen Systematik im Bereich Ethik heute dazu beitragen, einen ethischen ,Grundkonsens' der modernen Gesellschaft zu befördern, muß sie davon ausgehen, daß dieser Grundkonsens keine Vorstellung eines partikularen ,Guten', sondern nur der ,übergreifende Konsens' in einer Ethik des ,Gerechten' (John Rawls) sein kann43. Das Sozialwort (Nr. 44, 127) ist diesbezüglich nicht ganz eindeutig. Gesellschaftspolitisch muß die Katholische Sozialethik daher vom (neu-)scholastischen ,Naturrecht' und seinen massiven Ordnungsvorstellungen eines einzigen ,Guten'44 (mit der Kirche als letztendlicher ,Hüterin' des Naturrechts) Abschied nehmen45, will sie tatsächlich den gesellschaftlichen Grundkonsens stützen, nicht aber neue Gräben aufreißen. Diese gesellschaftsethische Beschränkung auf eine pluralitätskonforme Ethik des ,Gerechten' läßt sich nur noch vertragstheoretisch (John Rawls) oder diskursethisch (Jürgen Habermas; Karl-Otto Apel), also im Sinne eines ,mobilen Ersatznaturrechts'46 ausmünzen. (2.1.3) Was die institutionellen Grundstrukturen der modernen Gesellschaft und was konkretisierte Vorschläge zu institutionellen Reformen angeht, hat die Theologische Gesellschaftsethik von sich aus als Theologie keine originäre Kompetenz47, sondern fungiert hier lediglich als Heuristik (Suchanweisung). Insofern gilt das Muster: Die Theologie sagt ,Es gibt viel zu tun!', die Ökonomik antwortet ,Packen wir's an!'. Dennoch muß sich die Theologische Gesellschaftsethik nicht auf die Rolle als Heuristik beschränken. Drei Punkte hierzu: (a) Zunächst müssen und können sich Kirche oder Sozialethik nicht auf den Sakristeibereich beschränken (und zwar aus Glaubensgründen48), sie können sich selbstverständlich kundig machen und dann auch Vorschläge in die gesellschaftlichen Diskussionen einspeisen (insbesondere auf Themengebieten, die ihr wichtig sind, die aber in den ausdifferenzierten Wissenschaften vergleichsweise vernachlässigt werden, zum Beispiel die Nord-Süd-Problematik). (b) Im Blick auf die Probleme konkreter Reformen des gesellschaftlichen Institutionendesigns ist einzuräumen, daß die Kirchliche Sozialethik keine genuine Kompetenz etwa für die ökonomischen Aspekte besitzt - diesbezüglich muß sie gewissermaßen mit ,geliehenem' Instrumentarium arbeiten -, wohl aber kommt ihr eine eigene Kompetenz für die ethischen (Gerechtigkeits-)Aspekte alternativer Reformvorschläge zu. Im Beispiel: Die Kirchliche Sozialethik kann mit ihrem ,hauseigenen' Instrumentarium nicht entscheiden, ob innerhalb der Gesetzlichen Rentenversicherung eher ein Umlagesystem, ein Kapitaldeckungsverfahren oder aber eine Mischform ökonomisch sinnvoll ist. Dagegen kann sie ethisch darauf verweisen, daß im gegenwärtigen Umlageverfahren ein Moment der Ungerechtigkeit zu diagnostizieren ist: In diesem System, das auf zwei Säulen steht (nämlich auf den Beiträgen und auf einer neuen Generation zukünftiger Beitragszahler), müßten nach dem ethischen Kriterium der (Leistungs-)Gerechtigkeit diejenigen, die - wie die Kinderlosen - kein ,Humankapital' (Kinder) einbringen, mehr Geldkapital (Beiträge) einzahlen49. (c) Ein mögliches, meines Erachtens ergiebiges, bislang aber noch wenig beacktertes Forschungsfeld läge in der Analyse der gesellschaftlichen Moralkommunikation: Vom Stammtisch bis zum Tagesthemen-Kommentar zeigt sich, daß die gesellschaftlichen Diskussionen zu weiten Teilen in moralischen Kategorien geführt werden. Die kritische Analyse dieser Moralkommunikationen (,Kritische Moralpragmatik') durch die Sozialethik kann darüber aufklären, wie Kommunikationen der modernen Gesellschaft funktionieren und wie sich Anliegen der BürgerInnen in der Zivilgesellschaft artikulieren. Da allerdings nicht überall, wo Moral drauf steht, auch wirklich nützliche Moral drin ist, dürfte hier auch die (moralische) Ambivalenz der Moralkommunikation deutlich werden. (2.2) Schließlich könn(t)en die Kirchen als ,Unternehmen' mit einer Praxiskompetenz "Ferment einer gerechten und soldiarischen Gesellschaftsordnung"50 sein. Dieses Ziel, über eine praktisch gelebte Kompetenz etwa in Sachen arbeitsorganisatorischer Innovationen (familiengerechte Arbeitsverhältnisse, Teilen von Arbeit etc.) als ,Sauerteig' oder ,Salz der Erde' in die Gesellschaft hineinzuwirken, wäre zum Beispiel dadurch zu befördern, daß die Kirchen nicht nur nachträglich die Regelungen des öffentlichen Dienstes übernehmen und ihnen auf diese Weise hinterherhinken, sondern durch praktizierte Innovationen gesellschaftliche Suchprozesse nach institutionellen Innovationen anstoßen. Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins: Vielen Dank, Michael Schramm. Nun haben wir ein weites Panorama an Problemen gezeichnet, und mir scheint, wir stehen jetzt mit unserer Sozialethik in einem Dilemma. Um das Bonmot aus dem Statement von Kollegen Schramm aufzugreifen: Wir stellen fest, es gibt viel zu tun, und verteilen die Arbeit an andere, weil wir uns an entscheidender Stelle dann doch nicht mehr kompetent fühlen!? Damit machen wir aber eine ziemlich schlechte Figur, wenn wir sagen, zu den eigentlichen Problemen, die wir sehen und vielleicht noch präzise benennen können, sind wir dann aber letztlich nicht die richtigen Gesprächspartner. Ich glaube, wir müssen an dieser Stelle noch ein bißchen weiter überlegen. Es sind hier verschiedene Ansprüche, Erwartungshaltungen, Hoffnungen, formuliert worden, welche konstruktiven Rollen die Sozialethik übernehmen kann. Ich erinnere an einige Stichworte aus den Statements: Sie habe eine Aufklärungsfunktion wahrzunehmen; sie habe eine Anwaltsfunktion wahrzunehmen, also nicht irgendeinen beliebigen Blickwinkel auf die Gesellschaft einzunehmen. Sie habe eine ideologiekritische Funktion in bezug auf ersatzreligiöse oder ersatztheologische Ansprüche in anderen Rezeptionssystemen; sie habe eine Orientierungs- und Begründungsfunktion. Wie soll das alles politisch relevant werden? Als Wissenschaftler bewegen wir uns zunächst im akademischen Raum. Wir gehen aber auch immer wieder darüber hinaus, und das hat etwas zu tun mit unserem Bezugfeld Kirche. Wenn Kirche Politik möglich machen will, ist zu fragen: Wo ist denn jetzt konkret die Möglichkeit, sozialethische Einmischung real werden zu lassen bei all diesen Ansprüchen und Erwartungen, die wir hier aufgezeigt haben? Wo müssen wir die Grenzen ziehen? Ich denke, wir sollten versuchen, noch einen Schritt weiter zu überlegen. Prof. Dr. Alois Baumgartner: Ich meine, wenn wir die Aufgaben der CSE, und auch die Aufgaben der Kirche in der Gesellschaft, realistisch sehen, werden wir zunächst feststellen müssen, daß der genuine Ort der ethischen Reflexion das jeweilige Teilsystem selbst ist, und daß den dort Agierenden die Aufgabe der ethischen Reflexion zufällt. Jeder handelnde Mensch hat als sittliches Subjekt zu reflektieren, was er tut und was er unterläßt. Das heißt, wenn es nicht gelingt, in den jeweiligen Teilsystemen, in den Medien und in der Wirtschaft, in der Wissenschaft und im Sport und so fort solches Nachdenken zu initiieren, dann haben wir unsere Aufgabe verfehlt. Denn darin sehe ich gerade die Aufgabe der Sozialethiker, daß sie solches Nachdenken anstoßen und begleiten, v. a. über die Darlegung der Sozialprinzipien ... Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins: ... und die bringen wir zu Euch. Prof. Dr. Alois Baumgartner: Nein, ich meine nur, wir können nicht die Disziplin Wirtschaftsethik bis ins Detail hinein formulieren; genauso wenig wie die Medienethik, die Wissenschaftsethik oder die Sportethik u.s.w.. Das schaffen wir nicht. Sondern wir müssen versuchen, mit dem, was wir an ethischen Grundkategorien entwickeln, einen solchen Reflexionsprozeß in den jeweiligen Teilsystemen selbst zu initiieren und zu begleiten, d.h. bei den jeweils Verantwortlichen in den Teilsystemen. Wenn das nicht gelingt, sondern wenn wir glauben, wir könnten die Ethik von außen her in die ausdifferenzierte Gesellschaft hineintragen, täuschen wir uns. Natürlich haben wir immer auch die Aufgabe, kritische Fragen zu stellen. Aber Bereichsethiken in extenso zu entwickeln in einer dynamischen Gesellschaft wie der unseren, wird immer ein vergebliches, bruchstückhaftes und vor allem verspätetes Unterfangen sein. Es müssen vielmehr Menschen in diesen gesellschaftlichen Teilsystemen befähigt werden, ethisch das zu reflektieren, was sie tun und lassen. Prof. Dr. Hans-Joachim Höhn: Ich vertrete dazu eine etwas andere Auffassung, auch zu dem letzten, was Michael Schramm angedeutet hat, dem ich bis zu dem vorletzten Punkt folgen konnte. Wie ist das mit der originären Kompetenz in diesem Teilsystem, spezifischen Fragestellungen? Ich glaube schon, daß das genuin Theologische, daß das Proprium, das wir einzubringen haben, darin besteht, daß wir auf zum Beispiel das Nichtökonomische der Ökonomie aufmerksam zu machen haben. Was sind die nichtökonomischen Voraussetzungen, Bedingungen der Ökonomie? Was sind die nichtökonomischen Ziele der Ökonomie? Das Projekt der Moderne hat ausdrücklich der Ökonomie eine nichtökonomische Ausrichtung gegeben, das wird heute halbiert und nicht mehr thematisiert. Ich denke, hier können wir auch mit einem theologischen Blick für ein wenig Trennschärfe sorgen und uns weiter einmischen. Das zweite: Natürlich, Herr Baumgartner, sind wir als eine Diskursveranstaltung in der Wissenschaft zunächst einmal nur geeignet, uns in andere Diskurse einzumischen. Aber das hat enorme politische Bedeutung. Wenn ich sehe, wie heute Definitionskartelle bestehen, die Themenfelder besetzen und die Leitkategorien bestimmen, wenn wir uns da nicht einmischen würden, hielte ich das für eine falsche Zurückhaltung. Wir hatten in dieser Tagung immer wieder das Thema "Markt". Das Hohelied auf den Markt wurde angestimmt: die Grenzen des Marktes sind dagegen selten thematisiert worden. Es ist selten klargemacht worden, daß man auf den Markt mindestens ein Fell mitbringen muß, das einem über die Ohren gezogen werden kann. Das heißt, der Markt ist nur dann eine positive Veranstaltung für alle Beteiligten, wenn sie marktgängige Güter, Geld oder sonstige marktfähige Nachfrage entwickeln können. Was ist mit denen, die da nicht dazugehören? Noch ein Hinweis zum Thema "Marktversagen". Die Liberalisierung in den Krankenversicherungen setzte auf das Konkurrenzprinzip. Konkurrenz führt zu einem Wettbewerb zwischen Leistungen, Preisen und Angeboten, und die Mitgliedsbeiträge in den Krankenversicherungen gehen nach unten. Das war die Hoffnung. Der homo oeconomicus hat aber ökonomisch irrational agiert; er hat die Krankenversicherung gewählt, die ihm das meiste an Leistung bietet und er hat nicht auf den Kostenfaktor spekuliert. Also hier gilt es auch, einmal Phantasie zu entwickeln für das sogenannte Andere der ökonomischen Vernunft, das Andere der politischen Vernunft, das in den Feldern des Politischen und Ökonomischen virulent ist. Ich denke, da hätten wir durchaus Chancen, uns produktiv einzumischen. Prof. Dr. Thomas Hoppe: Nur eine Ergänzung. Ich glaube auch, daß wir den Anspruch erheben sollten, uns im Feld der fachwissenschaftlichen Diskurse kritisch zu Wort zu melden. Wir haben es gestern ein Stück weit probiert, ich denke an das Referat von Herrn von Weizsäcker. Ich finde, man konnte es im Kern von seinem reduzierten Begriff von Gerechtigkeit her problematisieren. Es war ein verengtes Verständnis von Gerechtigkeit. Darauf hinzuweisen und zu fragen, welche produktiven Fragen sich denn stellen, wenn man diesen Begriff aus der Engführung löst, das ist eine genuin sozialethische Aufgabe, die uns niemand abnimmt. Und die ein Stück weit auch die Voraussetzung dafür schaffen hilft, daß wir nicht eine Diffusion in lauter miteinander zunehmend unverbundene Lebens- und Diskurswelten erleben, so daß die eine Ebene die ist, auf der man sich im akademischen Diskurs bewegt, die andere die, die man als Unternehmer geläufigerweise zu pflegen hat, und etwas völlig Drittes und Anderes und zunehmend Privates ist die Frage nach den Folgen für das Gesamte. Prof. Dr. Alois Baumgartner: Ich bin allerdings der Meinung, daß die eigentlichen Akteure in den Teilsystemen nicht die entsprechenden Wissenschaftler sind. Nicht die Wirtschaftswissenschaftler sind die Akteure der Wirtschaft, sondern die Manager, einschließlich der Arbeitnehmervertreter in den Gewerkschaften. Dort müssen wir diesen Diskurs initiieren. Es greift zu kurz, nur mit den Kommunikationswissenschaftlern zu sprechen. Die Journalisten brauchen den ethischen Diskurs. Es hat keinen Sinn, das Ganze nur im elfenbeinernen Turm der Wissenschaft zu betrachten. Unsere Aufgabe ist es, zu befähigen, anzuregen, auch zu kritisieren, selbstverständlich auch Grenzen einer systemimmanenten Argumentation aufzuweisen. Aber wir sollten uns nicht einbilden, wir hätten die Kraft und das Weisungsvermögen, für die verschiedenen Teilsysteme explizite, ausformulierte Ethiken vorzulegen. Wir müssen vielmehr sehen, wie wir mit den bescheidenen Kräften, die wir haben, solche Nachdenklichkeit bei den Akteuren hervorrufen. Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins: Also Sie warnen vor einer Selbstüberforderung der Zunft auf der einen Seite. Auf der anderen Seite höre ich heraus, sowohl von Herrn Hoppe als auch von Ihnen, daß wir uns nicht allein in einem binnenwissenschaftlichen Raum bewegen, sondern wirklich in konkrete gesellschaftliche Handlungsfelder, Umsetzungsfelder von ethischen Ansprüchen hineingehen und dort versuchen, ethisches Nachdenken, ethische Diskurse zu begleiten und mitzureflektieren. Prof. Dr. Michael Schramm: Zu Herrn Baumgartner: Natürlich sollen wir Diskussionen mitanregen bei den Fachleuten vor Ort. Aber die Frage dieser Podiumsdiskussion ist ja, mit welchen Klärungsleistungen wir uns dort nützlich machen können. Und das müssen wir klären. Zum zweiten: das ,Nichtökonomische der Ökonomie' von Hans-Joachim Höhn. Ich stimme dem Anliegen zu, das kein religiöser Mensch bestreiten wird, und ich denke, ich habe das Anliegen aufgegriffen in meinem Punkt ,Theologische Kritik ökonomischer Ersatztheologien', um nicht die Transzendenz mit dem Ökonomischen zu besetzen, wo es nicht hingehört. Aber wenn es um Gesellschaft geht, um die Institutionen der Gesellschaft und die konkrete Gestaltung der Institutionen in dieser Gesellschaft, wenn es also darum geht, mit welchen Mitteln wir dieses oder jenes jetzt erreichen können, dann ist in vielen Bereichen der Gesellschaft eben die Ökonomik das geeignete Instrumentarium und auch der homo oeconomicus, der mit Anthropologie überhaupt nichts zu tun hat, sondern als Situationsanalyse fungiert. Insofern würde ich meinen, daß man in der Theologie dem Ökonomischen Rechnung tragen muß. Dritter Punkt: Man kann natürlich als Sozialethiker auch im Bereich der institutionellen Dinge etwas anstoßen, und zwar bereits von der Themenwahl her. Wir haben unsere christliche Perspektive, ,Option für die Armen' als Stichwort, und von daher gibt es bestimmte Themen, die wir eingehender behandelt sehen wollen, beispielsweise den Nord-Süd-Konflikt. Da gibt es Forschungsdefizite bei den Wirtschaftswissenschaften und hier können zumindest Anstöße gegeben werden. Den Schwerpunkt würde ich aber, das ist der vierte Punkt, auf die Ethik legen. Ich will nur ein Beispiel nennen: Unsere moderne Gesellschaft funktioniert nicht nur nach den Eigenlogiken der Systeme. Wenn die Leute kommunizieren, insbesondere etwa Politiker in den Medien, dann ist das eine moralisch hochgradig aufgeladene Kommunikation. Also: Moralkommunikation vom Stammtisch bis zu den Kommentaren in den Tagesthemen. Und dies mal kritisch zu analysieren, das wäre ein sinnvolles Arbeitsfeld für die Sozialethik. Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins: Ich möchte jetzt mit Rücksicht auf die uns noch verbleibende Zeit die Diskussion gerne für das Plenum öffnen. Wir haben einige Problemperspektiven eröffnet, wir haben viele ungeklärte Fragen, wir haben auch unterschiedliche Einschätzungen im Podium. Gerhard Endres: Ich habe zwei Fragen an Herrn Höhn und an Herrn Baumgartner. Und zwar erstens die Frage nach der Rolle des Staates: Wie sollten die Kirchen mit dem Staat umgehen? Bis jetzt war es ja immer so, daß man erwartet hat, daß der Staat oder die christdemokratische Partei die Wünsche erfüllt, die man hat. Oder wäre es sinnvoll, einen anderen, selbstbewußteren Umgang mit dem Staat zu haben, dann hat man auch nicht so Skrupel, wenn man mal Geld bekommt. Der zweite Punkt wäre die Rolle der Nichtregierungsorganisationen. Wir haben ja im katholischen Bereich sehr umfangreiche katholische Verbände, die innerhalb der verfaßten Kirche nicht so angesehen sind, vor allem wenn sie selbstbewußt sind. Die Frage wäre also, ob diese Organisationen nicht stärker wahrgenommen werden sollten oder auch finanziell gefördert werden sollten, anstatt alles Geld hauptsächlich in die Pfarreien reinzustecken, das wäre doch auch eine starke Zukunftsoption, die gerade im Hinblick auf Zivilgesellschaft sehr spannend sein könnte. Weder die Sachkompetenz der Kirchen und der Theologie noch die gesellschaftliche Situation, also die Auflösung der Milieu- und Parteibindungen, der Interessen- und Meinungspluralismus auch innerhalb der Kirchen, alles das spricht gegen ein politisches Mandat und für eine kirchliche Öffentlichkeitsstrategie, die durch umfassende Stellungnahmen die gesellschaftliche Relevanz der Kirchen zu demonstrieren sucht. Und das heißt, daß die Kirchen die Grenzen und den zunehmend indirekten Charakter ihrer Einflußnahme zur Kenntnis nehmen müssen. Prof. Dr. Hans-Joachim Höhn: Ich will zum zweiten Teil der Frage Stellung nehmen. Ich könnte mir vorstellen, daß wir auch mit dem Begriff "Kirche" etwas differenzierter umgehen könnten und sollten und daß vielleicht sogar ein Zukunftsmodell für die fraglos bestehende Pluralität in der Kirche darin besteht, sozusagen zivilgesellschaftliche Organisationsmuster auch in der Kirche anzuwenden. Ich kann mir verstellen, daß in der Kirche und auch im Gegenüber zum Staat kirchliche Verbände die Funktion von NGOs wahrnehmen. Diese sind nicht in vorhandene Kompromißerwartungen eingebunden, können viel riskanter und innovativer agieren. Dazu gehört in der Tat, daß, wenn wir interessiert sind an einer Ortsbestimmung des Christentums in der Gesellschaft, wir uns auch über neue Formen der sozialen Antreffbarkeit des Christentums in der Gesellschaft Gedanken machen müssen. Das Ideal der Gemeinde und das Ideal des Gemeindechristen, der in kommunitär verfaßter Zugehörigkeit einer Gemeinde angehört, ist sicherlich ein Ideal der Pastoraltheologie der 70er Jahre und wird nicht mehr den sozialen Bedingungen der Gegenwart gerecht. Also hier wäre auch zu überlegen, ob wir andere Sozialformen des Christseins finden können. Prof. Dr. Alois Baumgartner: Zur Frage des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat ist in den Referaten schon so viel gesagt worden, daß ich mir weiteres fast versagen möchte. Man muß grundsätzlich schon unterscheiden, meine ich, ob man staatskirchenrechtliche Verhältnisse analysiert oder ob man die Rolle der Kirche im politischen Willensbildungsprozeß diskutiert. Dabei ist eine Frage in Erinnerung zu rufen, die heute Herr Kollege Hengsbach aufgeworfen hat: Wer ist denn Kirche? Diese Frage führt zu einer Unterscheidung, was die Einmischung in den politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß angeht. Was ist Aufgabe des kirchlichen Amtes? Ich persönlich trete hier für eine zurückhaltende, am kirchlichen Selbstverständnis orientierte Einmischung des Amtes ein, weil ich befürchte, daß die Freiheit des Christen, des in der politischen Welt argumentierenden und agierenden Christen durch das Amt eingeschränkt werden kann. Klerikalismus ist keine Kategorie der Vergangenheit nur. Es ist ein Wort, das wir nicht mehr verwenden. Aber die Frage des Einsatzes von geistlicher Macht und geistlichem Amt zur Verfolgung politischer Ziele ist nach wie vor zu diskutieren. Was ist des Amtes? Und was fällt sozusagen in den Bereich der Freiheit des Christen? Ich möchte das betonen, weil in jüngster Zeit diese Frage nicht mehr gestellt wird. Wir haben es uns zwar angewöhnt - nach einem langen Lernprozeß -, daß wir im Konkreten nicht mehr von christlicher Politik sprechen können, aber wir sind wieder dabei, in vielen Fällen, vom kirchlichen Amt her Aussagen zu konkreten politischen Fragen zu machen, die zugleich eine strangulierende Wirkung auf diejenigen haben, die im politischen Feld als Christen arbeiten. Prof. Dr. Franz-Xaver Kaufmann: Ich möchte anknüpfen an die Ausführungen von Herrn Kollegen Baumgartner zur Problematik der Sozialethik als Disziplin und ihrem Verhältnis zu den Formen gesellschaftlicher Praxis. Das hat ja mehrere Ebenen. Was für Wissenschaft und Praxis generell gilt, das gilt natürlich auch für die Sozialethik, und da gibt es ja eine interessante Diskussion zwischen Fritz Scharf und Niklas Luhmann über die Differenzierungstheorie, die mir sehr hilfreich zu sein erscheint. Die Disziplinen sind sozusagen monolingual, aber die Wissenschaftler können durchaus multilingual sein. Insofern hat Herr Baumgartner recht, wenn er sagt, die Sozialethik kann sich nicht ausdifferenzieren in Wirtschaft-, Verkehrs-, Umwelt-, usw. -Ethik, aber Wissenschaftler können das schon und müssen es meines Erachtens gefälligst auch tun, denn eben die Interdisziplinarität ist immer lokal, sie ist nicht universal. Die interdisziplinäre Universalwissenschaft ist unmöglich, genau das haben wir gelernt. Also wenn wir sozusagen interdisziplinär der Wahrheit oder einem angemessenen Wirklichkeitsverständnis näherkommen, müssen wir das immer auf bestimmte Gebiete der Wirklichkeit, auf "Lokalwahrheiten", hin tun. Und genau dies ist dann die Arbeitsteiligkeit innerhalb aller Disziplinen. Deshalb gibt es dann eben Komitees von Umweltökonomen und Umweltethikern und Umweltjuristen, genau diesen Typus Ausdifferenzierung haben wir, die quer zu den Disziplinen liegt und eine Multilingualität der Personen voraussetzt. Ich glaube, daß das hilfreich sein könnte, um auch das Problem der Sozialethik zu klären. Die nächste Frage ist dann allerdings, was ist das Disziplinierende, das die Sozialethik zur Disziplin macht? In jeder Wissenschaft muß es etwas Disziplinierendes oder Identitätskonstituierendes geben. Gestatten Sie mir noch eine kurze Bemerkung zum Handbuch der Wirtschaftsethik und zu der Frage, inwieweit der theologische Sozialethiker Kompetenz zeigt für das Nichtökonomische der Ökonomie. Als mir Herr Korff die Disposition des Handbuches zeigte, fiel mir sofort auf, daß der Sozialstaat überhaupt nicht vorkam. Und nur weil ich mich überhaupt bereiterklärt habe, einen Artikel darüber zu schreiben, ist es noch reingekommen. Später ist es mir dann aufgefallen, daß es auch keinen Artikel über Hauswirtschaft in einem Handbuch der Wirtschaftsethik gab, daß also die gesamte Geschlechterproblematik ausgeklammert worden war. Das hat der Theologe auch nicht gemerkt. Also die Frage, wieweit die Theologie eine spezifische Kompetenz für das Nichtökonomische, das Nichtpolitische usw. hat, wäre noch zu hinterfragen. Hat sie vielleicht der Soziologe, oder ist es nicht vielmehr so, daß wir in der Tat in einer Welt der Multiperspektivität leben, wo je nachdem, welche Perspektiven der eine oder andere internalisiert hat, er unabhängig von seiner Disziplinbezeichnung in der Lage ist, die blinden Punkte anderer Disziplinen zu sehen, so daß sie gar nicht von einer Disziplin monopolisiert werden könnte, wie der Anspruch war, der hier von Herrn Höhn erhoben worden ist. Was bleibt dann für die Sozialethik? Mir scheint das in dem Begriff der Kontingenzeröffnung, den Herr Schramm gebracht hat, geglückt zum Ausdruck gebracht. Die Frage bleibt also, die auch von Herrn Ebertz aufgeworfen worden ist: Kann Kirche, kann Theologie am Anspruch einer Vertretung des Guten an sich, kann sie ihn noch legitim vertreten? Wenn ihr das gelingen würde, wenn es so etwas wie eine theologische Anthropologie gäbe, die so etwas wie die kulturelle Weisheit des Abendlandes zu explizieren vermöchte, - denn in dem liegt ja so etwas von der Summe jener historisch gewachsenen "Wertüberzeugungen" - die uns irgendwo zusammenbinden. Wenn es gelingen könnte, dieses zu explizieren, dann glaube ich, wäre das etwas, was jedenfalls die anderen Disziplinen nicht tun, und was deshalb also die Theologie tun sollte. Prof. Dr. Alois Baumgartner: Daß die Disziplin monolingual ist, der Wissenschaftler sich aber einer Multilingualität befleißigen kann, das geschieht auch faktisch. Es geschieht, daß ein Kollege sich sehr stark auf Umweltethik konzentriert, ein anderer auf Medienethik, ein anderer auf die Ethik der Institution der Familie, wieder ein anderer auf Wissenschaftsethik. Diese Differenzierung gibt es. Aber Sie müssen sich vorstellen, das ist alles in die Freiheit der einzelnen gelegt und dadurch nicht organisierbar. Es zeigen sich darin natürlich subjektive Interessenlagen, und natürlich auch entsprechende Vorbildungen und Kompetenzen. Es gibt den Kollegen Höhn, der vor allem auf dem Grenzgebiet zwischen Fundamentaltheologie und Sozialethik arbeitet; es gibt den Kollegen Hausmanninger in Augsburg, der vorwiegend medienethisch arbeitet und dafür auch gescholten wurde. Das wird ja sofort gewendet zum Vorwurf, er sei ja nur ... Dagegen steht natürlich eine ganz starke Tradition, die unter katholischer Soziallehre schlichtweg die Auseinandersetzung mit den Phänomenen der Wirtschaft und Arbeit gemeint hat. Was dabei nicht zur Kenntnis genommen wird, ist die Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft in verschiedene Bereiche. Und so haben wir zum Beispiel das Faktum, daß keiner der Kollegen, wenn ich das richtig sehe, sich mit den Problemen des Gesundheitswesens auseinandergesetzt hat. Wir habe eine ausgebaute medizinische Ethik, im Sinne einer Ethik des Arztes, innerhalb der Moraltheologie; aber wir haben für ethische Fragen des Gesundheitswesens, für dieses heute im Umbruch befindliche System, keine ausgewiesenen Fachleute, die eingearbeitet wären. Darin zeigt sich das Dilemma. Wo gibt es kompetente sozialethische Aussagen etwa zum Bereich der Kunst? Das ist nicht harmlos, Herr Remling, das ist keineswegs harmlos. Die Kunst und die Freiheit künstlerischen Handelns haben eine große Bedeutung für die Gesellschaft. Wir sind es ohnehin immer gewohnt, sozial-ethisch immer nur dort einzusetzen, wo gesellschaftliche Freiheiten in Teilsystemen mißbraucht werden, und dann entsprechend die Grenzen der Freiheit zu definieren. Aber wir haben nirgendwo einen Ansatz, daß wir die Freiheiten als solche begründen. Das ist in der Medienethik genauso. Wir haben bisher keinen positiven Ansatz von Presse- und Rundfunkfreiheit entwickelt. Sondern wir lamentieren nur dort, wo Mediengewalt mißbraucht erscheint. Aber über die Freiheit der Medien und über die eigene Logik, auch über das eigene Selbstbewußtsein, auch über das Ethos, das in diesem Teilsystem schon institutionalisiert vorliegt, haben wir nur wenig reflektiert. Zum Handbuch der Wirtschaftsethik: Daß das Verhältnis von moderner Wirtschaft und personaler Beziehungswelt, und darin eingeschlossen das Verhältnis von moderner Wirtschaft und Hauswirtschaft, im Handbuch zur Sprache kommt, das kann ich Ihnen versichern, weil ich darüber selbst einen Beitrag geschrieben habe. Dr. Marita Estor: Es geht um die sozialethische Einmischung in gesellschaftliche Prozesse. Ich möchte einiges aus der Erfahrung anmahnen, weil mir das in den Beiträgen etwas zu kurz kam. Sozialethiker waren ja vom Ursprung her sehr stark der sozialen Bewegung der Arbeitnehmerschaft verbunden. Vor mehr als 20 Jahren wurde ich hier in diesem Raum gebeten, über Arbeit von Frauen zu sprechen. Und damals gab es einen Konflikt zwischen den berufstätigen Frauen und den nicht berufstätigen Frauen in den katholischen Frauenverbänden, und von der Sozialethik gab es damals dazu noch überhaupt keine Überlegungen außer zu klassischen Formen der Erwerbsarbeit. In den 70er Jahren kamen einige Beiträge aus der feministischen Seite, Beck-Gernsheim zum Beispiel und Ilona Ostner, aber von der katholischen Soziallehre überhaupt nichts. Und dasselbe in der Synode. Wir sind damals gescheitert mit dem Papier zum Dienst der Kirche in der Leistungsgesellschaft, weil es hier einfach keine Grundlagen gab; wir haben damals den Leistungsbegriff diskutiert, und wir sind ziemlich weit gewesen. Ich frage die Sozialethiker, wie sie stärker an die realen Probleme der Gesellschaft herankommen: ich weiß, empirische Sozialforschung ist teuer - aber es muß ein stärkerer Austausch mit den aktuellen Problemen da sein. Und wenn heute morgen in der ersten Runde das Szenario der Zivilgesellschaft mit den vielen Gruppen geschildert wurde, dann ist das natürlich eine Wahnsinnsaufgabe. Aber ich denke, ein Beispiel ist doch sehr positiv: Auf einmal hat irgend jemand festgestellt, es gibt im kirchlichen Bereich zehntausend entwicklungspolitische Gruppen, die nicht als kirchliche Gruppen firmieren, aber im Kontext der Kirche arbeiten. Und dann hat man auf einmal gesehen, das ist ein ganz wichtiger Bereich, und denen müssen wir helfen. Für diese Ansätze müssen wir viel stärker auch von der Sozialethik Hilfestellung fordern. Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins: Das ist eine sehr wichtige Anfrage, Frau Estor, die wir auf jeden Fall festhalten und bearbeiten müssen. Ich möchte jetzt gerne sammeln, damit die Wortmeldungen, die noch im Raume sind, zum Zug kommen. Prof. Dr. Hans Günter Ulrich: Ich möchte nochmals den Punkt Sozialethik als Wissenschaft aufgreifen. Ich betreibe die Sozialethik seit fünfzehn Jahren an einer Universität und frage mich immer wieder, was von dem Sozialethiker erwartet wird. Die Erwartungen, die zu greifen sind, sind etwa die, daß der Sozialethiker sagt, was die Grenzen sind oder die Normen, damit man weiß, was man zu überschreiten hat; oder es ist die Erwartung an Aufklärung, damit man darüber hinweggeht. Ich sag das ein bißchen sarkastisch. Um noch ein bißchen weiterzugehen: Man könnte vielleicht sagen, die Erwartung an Aufklärung, Ideologiekritik, Begründung ist da. Was aber wirklich offen ist, ist die Erwartung an einen möglichen Erkenntnis- oder Forschungsbeitrag in den Bereichsethiken, sei es Gesundheit, sei es Zivilgesellschaft oder Politik. Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins: Das schließt dann an das an, was Prof. Kaufmann vorhin gesagt hat. Prof. Dr. Hans Günter Ulrich: Ja. Ich möchte das nochmal an einem spezifischen Punkt verstärken, was Herr Kaufmann gefragt hat. Ich bin vor kurzem im Bundesministerium für Forschung gewesen, da ist eine große Initiative gestartet worden zur Frage, was die Geisteswissenschaften zur Technologie und Technologieforschung beitragen. Ich war der einzige Theologe und habe mich erkundigt bei den vierzig Leuten, die da versammelt waren, was eigentlich die Erwartungen sind: Es ist überhaupt keine Erwartung artikulierbar gewesen. Also ich frage nochmal ganz gezielt nach, was neben Aufklärungskompetenz, Begründungskompetenz die Erwartung an Erkenntnisaufgaben ist. Dr. Gerhard Kruip: Wenn wir die Geschichte unseres Faches realistisch betrachten, dann müssen wir zu dem Schluß kommen, daß wesentliche Innovationen nicht aus dem Fach selber hervorgegangen sind, sondern von außen an das Fach herangetragen wurden. Das berührt etwa das, was Frau Estor schon angedeutet hat. Deswegen ist es entscheidend auch für die weitere Arbeit, nicht die Vorstellung zu pflegen, wir müßten bei gesellschaftlichen Akteuren in der Zivilgesellschaft oder solchen Teilsystemen Prozesse initiieren. Die gibt es dort in der Regel bereits. Worauf es ankommt ist, daß wir uns dafür öffnen, daß uns in unserem eigenen Reflexionssystem Prozesse initiiert werden, in denen von den gesellschaftlichen Problemlagen aus eine weiterentwickelte Sensibilität und - damit die möglich wird - auch eine andere binnenwissenschaftliche Diskurskultur gewonnen werden kann. Denn bisher war es leider allzuoft so, daß diejenigen, die besondere Sensibilitäten hatten und Fragen aufgegriffen haben, dafür nicht belohnt, sondern im Gegenteil diffamiert wurden. Das zweite, was ich ansprechen möchte, betrifft Differenzierungsprozesse. Wir haben es in der Gesellschaft natürlich mit funktionaler Differenzierung und der Ausbildung gesellschaftlicher Subsysteme zu tun. Wir haben es mit einer Differenzierung unterschiedlicher Wissenschaftsdisziplinen zu tun, einer Differenzierung von unterschiedlichen Weltanschauungen usw., usw., aber ein Punkt ist, glaube ich, noch nicht genügend zur Sprache gekommen. Wir haben es auch mit einer Ausdifferenzierung unterschiedlicher Geltungsansprüche zu tun, weswegen holistische Diskurse nicht mehr überzeugen können. Man muß heute sehr genau den Geltungsanspruch auf Wahrheit, auf moralische Gerechtigkeit, auf Wahrhaftigkeit und Sinnhaftigkeit unterscheiden. Und wir müßten innerhalb der christlichen Sozialethik einen Diskurs entwickeln, in dem diese Geltungsansprüche differenziert vorkommen und trotzdem integriert werden. Dazu würde ich gerne etwas hören. OKR Tilman Winkler: Ich wollte hinweisen auf eine Situation in Ihrer Ethik. Beispielsweise steht die Kirche oft vor der Herausforderung zu raschen Stellungnahmen, in denen es um Entscheidungen in der Gesellschaft geht. Sie wird aufgefordert, eine Stellungnahme abzugeben zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Es kommt ein ethischer Diskurs zustande und danach eine Konsensfindung. Und wir stehen vor der Aufgabe, kompliziert und begründet und mit einer Stimme Stellung zu nehmen in einer wirklichen Entscheidungssituation. Prof. Dr. Theodor Herr: Herr Kollege Höhn, Sie haben Aufgabe, Zielsetzung, Funktion der christlichen Sozialethik beschrieben und - das ist legitim - sehr deutlich abgesetzt zu einer, wie Sie meinen, früheren Auffassung und haben sie etwa beschrieben als eine Legitimationswissenschaft für kirchliche Verlautbarungen. Ich kann dem auch etwas abgewinnen, nur wüßte ich keinen der Kollegen, die ich noch kenne, die ihr Fach so verstanden hätten. Ich glaube, es ist genau umgekehrt in der Vergangenheit gewesen. Die Lehrstühle waren erst spät etabliert an den Universitäten, aber davor hat es ja auch Sozialwissenschaftler gegeben, und die haben in sehr enger Verbindung mit den damaligen Sozialverbänden, der sozialen Bewegung gearbeitet und die Enzykliken sind ja das Produkt dieser wissenschaftlichen und auch praktischen Arbeit in den Verbänden gewesen. Das trifft sicher zu für Rerum novarum und Quadragesimo anno. Daß im Lauf der Zeit diese Verbindung etwas schwächer geworden beziehungsweise eingeschlafen ist, kann man nicht bestreiten. Ich frage mich schon seit langem, ob es nicht unserem Fach gut täte, wenn wir wieder näher an diese Praxis herankommen könnten. Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins: In dieser Hinsicht treffen Sie sich dann mit Frau Estor. Werner Then: Ich zähle zu den Akteuren im Wirtschaftsgeschehen. Mein Ansatz ist, was suchen wir eigentlich, die wir Verantwortung für so ein Feld tragen? Wir suchen doch eigentlich jemanden, der uns Werte klarstellt und Werte erklärt. Wir haben zwei Probleme, auch im Wirtschaftsgeschehen, nicht nur in der Politik, nämlich das Steuerungsproblem und das Orientierungsproblem. Wir haben uns gewöhnt in den Betrieben an ein kollektivistisches Regelungssystem. Wir haben völlig außer acht gelassen, daß der Mensch nicht nur Fähigkeiten hat, die kreativer und organisatorischer Art sind, sondern auch Fähigkeiten unternehmerischer Art. Ist es nicht unabdingbar notwendig, das Stichwort Personalität als die entscheidende Leitgröße für die gesellschaftliche Gestaltung in den Vordergrund zu stellen, aus der sich zwangsläufig natürlich Subsidiarität und Solidarität ableiten? Das heißt, unseren Menschen mehr zutrauen, daß sie selbst organisieren und gestalten können - ist das nicht Menschenwürde, sind da nicht die Stilelemente Sozialer Marktwirtschaft drin enthalten? Prof. Dr. Thomas Hoppe: Ich möchte mich darauf beschränken, ein paar Dinge zu sagen zu der Frage, die Frau Estor aufgeworfen hat und die ein Stück weit von Herrn Winkler mit aufgenommen wurde. Wenn ich bei meinem Bild der "Schnittstelle" bleiben darf: ich würde darauf insistieren, daß die Relevanz der Sozialethik davon abhängt, ob sie vermitteln kann, daß diese Schnittstelle wirklich existiert; ob die Theoriearbeit, die sie leistet, ob die Themen, die sie wählt, auch nicht zuletzt die Sprache, derer sie sich bedient, erkennbar machen, daß das Diskurse über die realen Problemen derer sind, für die diese Ethik doch betrieben wird. Und das ist im Grunde genommen eine gefährliche These, weil man dabei natürlich in einen Zielkonflikt geraten kann. Indem wir die Themen, die wir traktieren, uns aus der Praxis holen, besteht immer die Gefahr, daß wir unter Umständen bestimmte Theoriestücke, die man dort nicht findet, die aber für die Antwort auch auf die praktische Fragestellung wichtig sind, nicht vergessen. Insoweit muß sich die Sozialethik auf der anderen Seite eben auch ihrer Tradition bewußt sein, sie muß sich wesentlicher prinzipieller Positionen erinnern, die formuliert wurden, und sich fragen: Wie kann man diese in neue Fragestellungen hineinbringen? Und ich glaube schon, das ist produktiv möglich. Man muß allerdings bereit sein, in dem Anwendungsfeld, auf das hin man schreibt, zunächst gar nicht zu reden, sondern zuzuhören, sich genau mit dem Sachverhalt in all seinen Differenzierungen auseinanderzusetzen. Dann kann man erleben, daß viele der konventionellen Kategorien, in denen wir so leicht reden, auf die Typologie der Landschaft, mit der wir es zu tun haben, nur eingeschränkt oder überhaupt nicht passen. Erst wenn man dieses erfaßt hat und dann die Frage stellt, wie müßte eine Theorie beschaffen sein, die wirklich weiterführt, hat man, wie mir scheint, der Welt etwas zu sagen, worin deutlich wird, daß man selbst Teil dieser Welt ist und sich für ihre Gestaltung mitverantwortlich sieht. Prof. Dr. Michael Schramm: Ich versuche das ein bißchen zu bündeln. Stichwort: Kontingenz eröffnen, Stichwort: das Nichtökonomische der Ökonomie. Es ist, glaube ich, kulturell wichtig, daß die Theologie als Theologie das zumindest benennt. Allerdings geht es hier um Dimensionen, die sich nicht positiv abarbeiten lassen, sozusagen um nur negative Theologie. Das heißt, die Wahrheit ist hier quantitativ relativ kurz, man kann daraus kein Forschungsprogramm machen. Dagegen könnte ein fruchtbarer Erkenntnisbeitrag der Sozialethik in der Analyse bestehen, wie Moral in modernen Gesellschaften funktioniert angesichts der Ausdifferenzierungsprozesse der Systeme. Wie funktioniert sie etwa in den modernen Medien, über die ja Politik vermittelt wird? Prof. Dr. Hans-Joachim Höhn: Wenn ich mal das Wort von Gerd Kruip aufgreifen darf, der nach Innovationen sucht, könnte man sicherlich auch versuchen, einmal die Wissenschaftsorganisation unseres Faches auch in ihrer kirchlichen Anbindung auf den Prüfstand zu stellen und zu schauen, wieweit man hier nicht auch andere Formen der Organisation unserer Zunft zwischen Bonn und Mönchengladbach und anderen Orten in der Republik vielleicht neu fassen könnte. Ich will noch etwas gegen die Kontinuitätenfalle sagen, in der wir stecken: ich zweifele, ob wir tatsächlich mit den altehrwürdigen Prinzipien alleine die neuen sozialen Fragen und ökologischen Fragen der späten 90er Jahre und der kommenden Jahre traktieren können. Ich weiß, wie schwierig es war, das Vernetzungsprinzip ins Gemeinsame Wort hineinzubringen, aber es geht nicht anders. Wir können mit der heiligen Trias von Personalität, Solidarität, Subsidiarität alleine mit den Begriffen des 19. Jahrhunderts nicht mehr die sozialen Fragen des 20. Jahrhunderts erörtern. Wir brauchen ein neues Begriffsdesign, ein neues Methodendesign und ein neues Theoriedesign. Mir kommt vieles in der eigenen Zunft so vor, als seien wir auf einem großen Kutter, der hinter sich ein riesiges Schleppnetz zieht. Dieses Netz füllt sich ständig, mit der Folge, daß das Netz immer größer wird und der Kutter immer langsamer. Und irgendwann wird das Netz so schwer und so groß sein, daß es den Kutter nach unten zieht. Zur sozialethischen Hermeneutik gehört nicht nur die Kunst des Übersetzens, sondern auch des Ersetzens. Vor allem in der Staatsethik oder politischen Ethik gibt es einiges, was ersetzt werden müßte. Es geht auch hier nicht ohne die Kunst der Preisgabe und des Aufgebens und des Neuanfangens. Prof. Dr. Alois Baumgartner: Ich möchte zuerst etwas zu dem Beispiel sagen, das Herr Winkler vorgebracht hat. Wenn die Kirche aufgefordert wird, zur Begrenzung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall Stellung zu nehmen, dann würde ich zunächst schlichtweg sagen, sie solle sich dazu nicht dezidiert äußern. Das ist eine Frage, in der es sicherlich unter Christen eine legitime Pluralität gibt; die Kirche sollte vermeiden, sich sozusagen völlig der Logik einer pluralen Gruppengesellschaft zu unterwerfen, in der sie genauso agiert wie alle Interessenverbände auch. Ich möchte noch einmal auf das Wort "Entmündigung" zurückkommen. Gerade in solchen Fragen wird ja dann kirchenamtlich entmündigt, und zwar der Teil der Christen, der in dieser Frage anderer Meinung ist, vielleicht mit sehr guten Gründen. Aber: Die Kirche kann sehr wohl zeigen, was hier auf dem Spiel steht. Sie kann mit ethischen Argumenten zur Abwägung anregen. Aber sie soll nicht zu jedem einzelnen Punkt, auch wenn sie aufgefordert wird, etwas Konkretes sagen. Das Zweite: Ich kann verstehen, Herr Kollege Herr, daß Sie die Abwertung, die frühere Christliche Soziallehre sei bloß eine Interpretation kirchlicher Dokumente gewesen, schmerzt. Ich persönlich bin der Meinung, daß dieses Argument schon längst nicht mehr zieht, sondern daß wir dazu übergehen müssen, wieder die Schätze zu heben, die in den kirchlichen Sozialdokumenten vorhanden sind, einschließlicher bischöflicher Äußerungen, einschließlich des Kirchenworts, einschließlich der Denkschriften der evangelischen Kirche. Hier ist so viel an sozialethischer Vernunft investiert, daß wir gut daran tun, daran nicht verächtlich vorbei zu gehen. Ein Drittes möchte ich auch auf dem Hintergrund dessen, was Herr Then gesagt hat, akzentuieren. Es ist mir wichtig, daß die Ethik nicht ständig von außen her an die Systeme herangetragen wird, sondern daß wir versuchen, in den Systemen ethische Reflexion anzustoßen und zu dort zu verstärken, wo sie bereits angestoßen ist. Gleichzeitig versuche ich, mir selbst immer wieder klarzumachen, daß in vielen Institutionen - ich nehme das Beispiel des Gesundheitswesens, vor allem des Zugangs zu medizinischen Leistungen und der Lastenverteilung - eine implizite Ethik steckt. Die Ethik wird ja nicht von uns erfunden. Es gab auch früher ethische Diskurse, und diese sind eingegangen in Institutionen, in Regulative und Gesetze. So daß wir uns zunächst einmal zu fragen haben, was ist eigentlich die ethische Logik, die in solchen Regulativen steckt? Warum haben wir zum Beispiel im Gesundheitswesen den gleichen Zugang aller zu den realen Möglichkeiten medizinischer Vor- und Nachsorge? Warum haben wir hier nicht das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit? Das ist ja wichtig. Welche Bedürfnisse des Menschen kommen hier ins Spiel und weshalb können medizinische Leistungen nicht an der Leistungsfähigkeit des einzelnen anknüpfen? Man sieht, man stößt hier sehr rasch auf Fragen der Anthropologie. Wenn ich mein Plädoyer zusammenfasse: Ich verstehe Sozialethik nicht als eine Veranstaltung, die ständig von außen in irgendwelche gesellschaftlichen Bereiche getragen werden muß. Sozialethik muß vielmehr an vorhandene Diskussionen in den Systemen anknüpfen und sich fragen, welches Ethos den vorhandenen Institutionen zugrundeliegt. Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins: Danke. Wir nehmen eine Menge an Problemanzeigen, nicht an fertigen Lösungen mit, die die Fragen nach dem Profil dieses Faches, seinem theologischen Profil und seinem Profil im Konzert der Wissenschaften betreffen. Ich denke, es ist sehr deutlich geworden, daß wir in einer konstruktiven Kritik unserer eigenen Tradition nach zukunftsfähigen Entwicklungsperspektiven für die CSE suchen. Dazu gehört für mich das, was in der Diskussion eine große Rolle gespielt hat: die Differenzierung des Begriffes Kirche, die wir nicht zuletzt deswegen brauchen, um unseren eigenen Standort in diesem Gefüge zu klären. Ich bin deshalb froh, daß wir mit diesem Thema noch nicht fertig sind heute, sondern heute nachmittag mit Herrn Werbick und Frau Riedel-Spangenberger genau an diesem Punkt weiterarbeiten können. ------------------------------------------------------------------------------------- 20 So - für die Theologie im allgemeinen und die Moraltheologie im besonderen - K.-W. Merks, Zur Situation der Moraltheologie. Plädoyer für eine "säkularisierte" Theologie, in: Bulletin ET 8 (1997) 115-121, 118. 21 M. Heimbach-Steins, Einmischung und Anwaltschaft. Zur sozialethischen Kompetenz der Kirche, in: Ethica 5 (1997) 255-276, 271. 22 H.-J. Höhn, Zerreißproben. Christliche Sozialethik im Spannungsfeld gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse, in: Ders. (Hg.), Christliche Sozialethik interdisziplinär, Paderborn 1997, 13-39, bes. 29-39. 23 Vgl. dazu u.a. P. Rottländer, Ethik und empirische Sozialforschung: Das Beispiel der weltweiten Solidarität, in: Höhn (Hg.), Christliche Sozialethik interdisziplinär, Paderborn 1997, 89-104. 24 Vgl. Furger, Christliche Sozialwissenschaft - eine normative Gesellschaftstheorie in ordnungsethischen und dynamisch-evolutiven Ansätzen, in: JCSW 29 (1988) 17-28. 25 Hans-Joachim Höhn, Zerreißproben: Christliche Sozialethik im Spannungsfeld gesesllschaftlicher Modernisierungsprozesse, in: Ders. [Hg.], Christliche Sozialethik interdisziplinär, Paderborn 1998, 13-39, 36. 26 Thomas Hoppe, Der Beitrag politischen Handelns zur Verwirklichung von Gerechtigkeit, in: W. Ernst (Hg.), Gerechtigkeit in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik, Freiburg-Friburg 1992, 173-178, 178. 27 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit, Nr. 4. 28 Vgl. A. Lienkamp, Kommentar zur Hinführung, in: M. Heimbach-Steins/A. Lienkamp (Hg.), Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit: Wort des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, eingeleitet und kommentiert von M. Heimbach-Steins und A. Lienkamp unter Mitarb. von G. Kruip und S. Lunte, München 1997, 63. 29 Vgl. F. Hengsbach u.a., Reformen fallen nicht vom Himmel. Was kommt nach dem Sozialwort der Kirchen?, Freiburg 1997, 91. 30 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland [Gemeinsame Texte 9], Hannover / Bonn 1997, Nr. 4, S. 7. 31 Die erste These des Sozialworts verwendet nur einen engeren (staatsbezogenen) und nicht den weiteren (zivilgesellschaftlichen) Politikbegriff. 32 Das Ersatztheologische dieser Ideologie liegt nun nicht so sehr im abstrakten Zielgehalt der Gesellschaftsutopie (z.B. einer gerechten Gesellschaft), sondern in der Hybris, das Wissen - also die Mittel - zur konkreten (planvollen) Verwirklichung dieser Utopie schon auf Erden vollständig zu besitzen. 33 Hayek, Friedrich August von [1961]: Die Ursachen der ständigen Gefährdung der Freiheit, in: Ordo 12, S. 103-109, hier: S. 105. Schon der Ausdruck ,dogmatisch' signalisiert Ersatztheologisches. 34 Der ,Job' einer methodisch korrekten Ökonomik läge dagegen gerade darin, den Nutzen der (Markt-)Freiheit durch Zweckmäßigkeitserwägungen zu plausibilisieren. Hierzu: Pies, Ingo [1995]: Normative Institutionenökonomik - Zur Problemstellung eines Forschungsprogramms demokratischer Politikberatung, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik 44, S. 311-340. 35 Völlig zutreffend bezeichnet sie Pius XI., Enzyklika ,Quadragesimo anno', Nr. 88, als "innerhalb der gehörigen Grenzen [...] von zweifellosem Nutzen". 36 Die ,Brille' der Religion (,Immanenz / Transzendenz') eröffnet ,Kontingenz' (lat. contingentia = Zufälligkeit, Nicht-Notwendigkeit), indem sie das Immanente transzendiert und so allgemein dazu antreibt, immer neu nach Wegen zu suchen, um Möglichkeiten einer je menschengerechteren Gesellschaft zu entdecken (gr. euriskein = finden, entdecken). Dabei geht es nicht um pompöse himmlische Heimsuchungen religiöser Virtuosen, sondern ,nur' darum, die Fraglichkeit des Immanenten gegen das Vergessen wachzuhalten. 37 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit (Nr. 92, S. 39). 38 Habermas, Jürgen [1988]: Nachmetaphysisches Denken, 2. Aufl., Frankfurt [M.]: Suhrkamp, S. 23. 39 "[Es] heißt im Vaterunser [...]: ,Und führe uns nicht in Versuchung'. Das System darf nicht so gestaltet sein, daß es zum Mißbrauch geradezu einlädt oder von Eigeninitiative abhält" (Tietmeyer, Hans [1996]: Geld und Moral, in: Deutsche Bundesbank: Auszüge aus Presseartikeln 70/8. November 1996, S. 1-6, hier: S. 4). Demgegenüber setzte der Sozialismus moralische Selbstlosigkeitsartisten voraus. 40 Nach Furger, Franz [1991]: Christliche Sozialethik. Grundlagen und Zielsetzung [Studienbücher Theologie 20], Stuttgart / Berlin / Köln: Kohlhammer, S. 137, handelt es sich um "formal-operative [...] Prinzipien", und Kerber, Walter [1998]: Sozialethik [Grundkurs Philosophie 13]: Stuttgart / Berlin / Köln: Kohlhammer, S. 46ff., rechnet Solidaritäts- und Subsidiaritätsprinzip den ,Organisationsprinzipien des Sozialen' zu. 41 Das Solidaritätsziel muß daher nicht unbedingt nur durch gemeinschaftliche, direkt ,solidarische' Organisationsformen (,Teilen') umgesetzt werden, sondern kann sich u.U. aufgrund der langfristigen Anreiz- und Effizienzeffekte auch anderer Implementationsformen bedienen (z.B. die Institution eines private Leistungs- und Wissenspotentiale subsidiär ausschöpfenden Wettbewerbs). Im übrigen wird mit dem Subsidiaritätsprinzip nicht einfachhin eine entsolidarisierende, die Bedürftigen im Regen stehen lassende Deregulierung gefordert, da ja bereits im Namen des Subsidiaritätsprinzips die Hilfestellung (,subsidium') hervorgehoben wird. 42 So auch: Anzenbacher, Arno [1998]: Christliche Sozialethik. Einführung und Prinzipien, Paderborn / München / Wien / Zürich: Schöningh, S. 15-17. 43 Rawls, John [1998]: Politischer Liberalismus, Frankfurt [M.]: Suhrkamp. 44 Diese Sichtweise steht in einem Gegensatz zur Gerechtigkeitskonzeption eines ,politischen Liberalismus', die eine Pluralität vernünftiger Konzeptionen des ,Guten' zuläßt (ebd., S. 220f.). 45 Die Katholische Sozialethik hat also den Ausdifferenzierungsprozessen im Bereich des Ethischen Rechnung zu tragen. Soll ein universalisierbarer ,moral point of view' nicht selbst zu einer nur partikularen Form des (material) ,Guten' werden, so muß er sich notwendigerweise als eine formale, den widerstreitenden Vorstellungen des ,Guten' (weitgehend) gleichermassen gerecht werdende Verfahrens-Gerechtigkeit ausprägen. Aus der Perspektive der christlichen Sozialethik hierzu: Kruip, Gerhard [1997]: Sozialethik als Verfahrensethik, in: Höhn, Hans-Joachim [Hg.]: Christliche Sozialethik interdisziplinär, Paderborn / München / Wien / Zürich: Schöningh, S. 41-58. 46 Luhmann, Niklas [1990]: Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, 3. Aufl., Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 134. 47 Kompetenzen besitzen hier die entsprechenden Fachleute der ausdifferenzierten Sozialwissenschaften bzw. der Praxis. 48 Bereits Ketteler, Wilhelm Emmanuel von [1978]: Fürsorge der Kirche für die Fabrikarbeiter, in: Schriften, Aufsätze und Reden 1867-1870 (Sämtliche Werke und Briefe Abt. I, Bd. 2; hg. v. Erwin Iserloh), Mainz 1978, S. 429-451, hier: S. 435, hat hervorgehoben, daß "[die] sociale Frage [...] das depositum fidei" berührt. 49 Engels, Wolfram [1992]: Human-Kapital, in: Wirtschaftswoche 16 / 10. April 1992, S. 154. Nur das entspräche auch dem Äquivalenzprinzip einer jeden Versicherung. 50 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit (Nr. 253, S. 101). ------------------------------------------------------------------------------------- Ekklesiologische Reflexion des Vorgehens mit Bezug auf das Kirchenwort Prof. Dr. Konrad Hilpert führt in die abschließende Arbeitseinheit ein und stellt die beiden Referenten, Herrn Prof. Dr. Jürgen Werbick und Frau Prof. Dr. Ilona Riedel-Spangenberger vor. Einführend bemerkt er: "Die programmatische Intention der Kirchen im Gemeinsamen Wort, "Politik möglich zu machen", wäre nicht ausgeschöpft, würde sie so verstanden, daß die Kirchen ihren Mitgliedern Kriterien und Impulse an die Hand geben wollten, damit sie ihre individuellen "Einstellungen und Verhaltensweisen" überprüften. Vielmehr wollen sie sich mit ihrem Wort auch in den Meinungsbildungsprozeß der Öffentlichkeit einschalten, in welche Richtung sich Gesellschaft und Wirtschaft entwickeln, und dabei auch den Konsens mit den Bürgern, mit den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Kräften im vorstaatlichen Raum suchen. Diese öffentlichkeitsbezogene Zielrichtung des Sozialwortes aber dirigiert den Fokus der Aufmerksamkeit geradezu automatisch auch auf die Kirchen selbst, und das sogar gleich dreifach: Denn eine Kirche, die mit Worten kritisiert und Veränderungen einfordert, wird, ob sie das will oder nicht, auf ihre eigene Praxis hin betrachtet, in unserem Falle also in ihrem Handeln als Arbeitgeber und wirtschaftlicher Akteur. Das ist - schlicht gesagt - die Frage der Glaubwürdigkeit, die sich natürlich auch in die bescheidenere Form einer Selbstverpflichtung bringen läßt, "denn das kirchliche Engagement für Änderungen in der Gesellschaft wirk(e) um so überzeugender, wenn es innerkirchlich seine Entsprechung findet" (SW 243). Diese Formulierung stammt übrigens aus dem Sozialwort selbst, das sich in seinem 6. Kapitel dieser Frage grundsätzlich stellt, wenn auch vergleichsweise kurz und eher skizzenhaft. Der zweite Grund, weshalb das normative Sprechen zur Öffentlichkeit die sprechende Kirche unvermeidlich zum Gegenstand der Aufmerksamkeit macht, ist die Frage: Wer spricht da? Und: In wessen Namen? Klar, der Untertitel des Gemeinsamen Wortes klassifiziert den Text nicht nur genau, sondern benennt auch sehr präzise die Autoritäten, die hinter ihm stehen. Aber was repräsentieren diese Autoritäten - und zwar nicht nur dogmatisch und kirchenrechtlich, sondern auch empirisch und sozial? Gerade in dieser zweiten Hinsicht - man könnte sie als die Frage der Repräsentanz charakterisieren - ist der Konsultationsprozeß, der zur Entstehung des Sozialworts geführt hat, ein Vorgang, dessen Bedeutung weit über die Produktion des endgültigen Textes hinausgreift und ekklesiologisch als Paradigma von Relevanz sein könnte. Ein dritter Grund schließlich, weshalb der Anspruch, mit dem das Sozialwort in die Öffentlichkeit tritt, mit innerer Konsequenz zur Selbstthematisierung von Kirche zurückführt, ist durch die vorgefundene Marktsituation der Kirchen bedingt. Evangelische und katholische Kirche sind, obschon die beiden mitgliederstärksten, nicht die einzigen Gruppen und Kräfte, die sich um die ethischen Grundlagen und Orientierungspunkte der demokratischen Gesellschaft sorgen. Was also ist es, was sie als möglichen neuen Konsens formulieren und anbieten? Das allen Gemeinsame oder gerade das Besondere, von dem das Gemeinsame lebt, ohne es selbst erzeugen zu können? Das ist die Frage des Propriums unter den Bedingungen gesellschaftlicher Pluralität - im Sozialwort aus gutem Grund nicht thematisiert, aber zu rekonstruieren als Nachfrage nach dem genauen Verhältnis der aus der biblischen Botschaft und der christlichen Glaubenstradition entwickelten grundlegenden ethischen Perspektiven (im Kapitel drei) zu den als Grundkonsens einer zukünftigen Gesellschaft genannten Elementen (im Kapitel vier). Wir wollen uns in dieser abschließenden Arbeitseinheit vor allem auf den zweiten Fragekreis und damit auf die ekklesiologische Bedeutung des Zustandekommens, Wachsens und Rezipierens des Sozialworts konzentrieren. Dies geschieht in der Überzeugung, daß die Diagnose, die die beiden Vorsitzenden des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz in ihrem gemeinsamen Vorwort gegeben haben, wenn sie davon sprechen, daß sie das Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland "in einer Zeit" vorlegten, "in der mutiges und weitsichtiges Handeln gefragt ist", auch für die Kirchen gilt. Man könnte dieses Interesse mit Bezug auf das heute vormittag Gesagte noch einmal zuspitzen auf die Frage: Wenn angesichts der Transformation des Politischen die Implementierung ethischer Überzeugungen verstärkt über "Zivilgesellschaft" verläuft, was hat das dann für Konsequenzen für das Verständnis von Kirche, Amt und kirchlicher Verkündigung? Das Thema wird uns zunächst aus fundamentaltheologischer und danach aus kirchenrechtlicher Perspektive beleuchtet. Dazu heiße ich ganz herzlich unsere beiden Referenten willkommen, Frau Prof. Ilona Riedel-Spangenberger von der Universität Mainz und Herrn Prof. Jürgen Werbick von der Universität Münster." Zum Ablauf dieses Veranstaltungsteils weist Prof. Dr. Hilpert darauf hin, daß zunächst beide Referenten nacheinander das Wort erhielten und beide Referate anschließend gemeinsam zur Diskussion gestellt würden. Im Anschluß an diese Diskussion sollten dann noch einmal Wortmeldungen zur Veranstaltung insgesamt zugelassen werden. ------------------------------------------------------------------------------------- Prof. Dr. Jürgen Werbick: Partizipation und Subsidiarität Ekklesiologische Reflexionen im Anschluß an das Wort der EKD und der DBK zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit" 1. Das Sozialwort als Anfrage an die katholische Ekklesiologie Das Sozialwort wirft ekklesiologische Fragen auf, die weit über die Themen hinausreichen, zu denen es sich unmittelbar äußert. Ihre Brisanz ist schon mit dem Prozeß gegeben, der zu dieser ökumenischen kirchlichen Lehräußerung geführt hat. Katholischerseits ist hier ernstgenommen, was seit Octogesimo adveniens in der kirchlichen Sozialverkündigung prinzipiell eingeräumt wurde: daß das ganze Volk Gottes in seinen lokalen und regionalen kirchlichen Gemeinschaftsbildungen Subjekt kirchlicher Soziallehre ist.51 Müßte nicht noch grundsätzlicher gefragt werden nach der Teilhabe des ganzen Volkes Gottes, also nicht nur der hierarchischen Amtsträger, an der Lehrvollmacht der Kirche in allen Bereichen vollmächtiger kirchlicher Lehre? Liegt es nicht in der Konsequenz des dem Sozialwort vorausgehenden Konsultationsprozesses, "eine solche Praxis auch auf andere grundsätzliche Worte der Kirche/-n auszuweiten? Oder gibt es gewichtige theologische bzw. ekklesiologische Gründe, die dagegen sprechen?"52 Die Forderung des Sozialworts nach der Schaffung gerechter Strukturen, "welche dem einzelnen die verantwortliche Teilnahme am gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben erlauben" (Sozialwort, Ziffer 113; vgl. 112), provoziert geradezu die Rückfrage, inwiefern speziell die katholische Kirche selbst die verantwortliche Partizipation ihrer Mitglieder am kirchlichen Normendiskurs, an der Lehrverkündigung, strukturell ermöglicht und zum Tragen kommen läßt. In dieser Rückfrage liegt die zweite, vielleicht noch brisantere ekklesiologische Herausforderung, die vom Sozialwort ausgeht. Sie liegt in der Zumutung an die katholische Kirche, das im Sozialwort mit hohem normativem Rang geltend Gemachte als auf sie selbst anwendungsfähig ernstzunehmen. Dabei geht es gewiß auch, aber eben nicht nur um Selbstverpflichtungen im Blick auf das eigene wirtschaftliche Handeln der Kirchen als Arbeitgeberinnen oder Immobilienbesitzerinnen. Es geht entscheidend um die Frage, wie glaubwürdig die Einforderung von Partizipation, Solidarität und Subsidiarität im gesellschaftlichen Bereich sein kann, wenn die Fordernden selbst dem umfassenden Geltungsanspruch dieser Prinzipien mit ekklesiologischer Reserve begegnen, ihn gleichsam nur in der Welt ernstgenommen, die identitätsrelevanten kirchlichen Prozesse aber davon ausgenommen sehen wollen. Man müßte dieses Glaubwürdigkeitsproblem in Kauf nehmen, wenn es zwingende ekklesiologische Gründe gäbe, etwa den Partizipationsspielraum in der katholischen Kirche eng zu begrenzen und vor allem im Bereich der verantwortlichen lebensgeschichtlichen und regionalen Konkretion gegeben zu sehen, oder wenn ekklesiologisch geltend gemacht werden müßte, daß die hierarchische Verfassung eine Geltung des Subsidiaritätsprinzips für die Kirche ausschließt. Aber davon wird man nicht selbstverständlich ausgehen müssen. Die Frage, inwiefern sich die Kirche auch im Blick auf die Interaktionen, die sie als Gemeinschaft der Glaubenden und nach dem Glauben Suchenden aufbauen, den Prinzipien der Subsidiarität (in Solidarität) und der Partizipation verpflichtet wissen müßten, darf zumindest zur ekklesiologischen Prüfung angenommen werden. 2. Teilhabe des Volkes Gottes an der Lehre der Kirche? Die bisherigen Äußerungen des hierarchischen Lehramts zur Teilhabe der "kirchlichen Basis" an der kirchlichen Lehrvollmacht sind eher vorsichtig. Das 2. Vatikanum etwa hat im Schlußwort von Gaudium et spes davon gesprochen, die eher allgemein gehaltene Lehre des Konzils bedürfe der Vervollkommnung und Ergänzung, "da oft von Dingen die Rede ist, die einer ständigen Entwicklung unterworfen sind". Das in der Pastoralkonstitution Vorgetragene könne - so GS 91 - gleichwohl eine Hilfe sein, "zumal wenn es von den Gläubigen unter Leitung ihrer Hirten an die Situation und Denkweise der einzelnen Völker angepaßt sein wird." Die Kompetenz der Gläubigen scheint hier eher darin zu liegen, 1. neue Entwicklungen, auf die kirchliche (Sozial-)Lehre bezogen werden müßte, den Hirten rückzumelden und 2. unter ihrer Anleitung zu ermitteln, wie die eher allgemein gehaltenen Lehrvorgaben in bestimmten Weltregionen und auf einzelne Problemfelder hin konkret werden können. In diesem Sinn erläutert Octogesimo adveniens aus dem Jahr 1971 für die kirchliche Soziallehre, die "christlichen Gemeinschaften" müßten "die Verhältnisse ihres jeweiligen Landes objektiv abklären, ... mit dem Licht der unwandelbaren Lehre des Evangeliums hineinleuchten und der Soziallehre der Kirche Grundsätze für die Denkweise, Normen für die Urteilsbildung und Direktiven für die Praxis entnehmen". Eine gewisse Lehrautorität wird "einzelnen Christen und christlichen Gemeinschaften" vor allem im Blick darauf zugesprochen, daß es ihnen "obliegt..., mit dem Beistand des Heiligen Geistes und in Verbundenheit mit ihren Bischöfen und im Gespräch mit den anderen christlichen Brüdern und allen Menschen guten Willens darüber zu befinden, welche Schritte zu tun und welche Maßnahmen zu ergreifen sind, um die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Reformen herbeizuführen, die sich als wirklich geboten erweisen und die zudem oft unaufschiebbar sind" (OA 4). Könnte dies auch im Blick auf kirchliche Reformen gesagt werden? Aber das ist nicht die einzige Frage, die sich hier stellt. Die zitierten Texte verraten eine ekklesiologisch prinzipiellere Reserve gegenüber der Lehrkompetenz der Gläubigen. Sie wird nur da in Betracht gezogen, wo sich die nachgeordneten Probleme der Praxis "vor Ort" stellen und eine situativ-geschichtliche Anwendung der unwandelbaren "Lehre des Evangeliums" erfordern. Im Hintergrund steht offenkundig immer noch das Modell der deduktiven Konkretion (Prinzipien der Lehre, "Grundsätze für die Denkweise", "Normen für die Urteilsbildung", "Direktiven für die Praxis", "Schritte und Maßnahmen" im Blick auf konkret zu planende Reformschritte vor Ort), wobei "den Gläubigen" zugebilligt wird, sie hätten aufgrund ihrer praktisch-politischen Welterfahrung in den nachgeordneten Anwendungsfragen mitzusprechen. Es wird offenkundig kaum damit gerechnet, daß neben der praktisch-politischen auch die Glaubenserfahrung der Gläubigen nach Würdigung verlangt und diese Würdigung sich nicht nur auf die Zulassung der Mitsprache "weit draußen" an der Peripherie nachgeordneter Anwendungsprobleme beschränken kann, sondern nach einem ehrlichen, bis "ins Zentrum" kirchlicher Lehrkompetenz reichenden Dialog verlangt. Das 2. Vatikanum bahnt ein solches Verständnis der Lehrautorität der Gläubigen immerhin an, da es die Lehre vom "Glaubenssinn des ganzen Volkes Gottes" und der darin sich auswirkenden Teilhabe des ganzen Gottesvolk am prophetischen Amt Christi den Aussagen über das hierarchische Lehramt vorordnet (so etwa LG 12).53 Damit ist die traditionelle Unterscheidung in ecclesia docens und ecclesia audiens (oder discens) deutlich relativiert; vielleicht noch nicht deutlich genug.54 Es wäre für die ekklesiologische Ortsbestimmung des hierarchischen Lehramts - ob es sich zu Fragen der Sozial-, der Moral- oder der Glaubenslehre äußert - ernstzunehmen, daß seine Festlegungen den consensus fidelium zum Ausdruck bringen sollen und nur da von der Amtsautorität des Allein-sprechen-Könnens Gebrauch machen soll, wo dies um der Wahrung der Identität des Christlichen in einer krisenhaften Situation willen wirklich erforderlich ist. Der Normalfall wäre auch hier die dialogische Wahrheitsermittlung, bei der der lehramtlichen Autorität "zwar ein wichtiger, aber nicht der alles entscheidende Part" zukommt.55 Diese ekklesiologische Orts- und Aufgabenbestimmung des hierarchischen Lehramts würde voraussetzen, daß man vom "Delegationsmodell" (K. Koch) Abschied nimmt, das kirchliche Lehre nur als Einbahnkommunikation "von oben nach unten" kennt: als "Input" von seiten derer, denen die "unwandelbare Lehre des Evangeliums" zur Auslegung anvertraut ist, auf die hin, die um ihres Heiles willen zum gehorsamen Lernen des ihnen Vorgelegten verpflichtet sind und allenfalls insofern in ihrer eigenen Kompetenz angesprochen sind, als sie entdecken müssen, wozu sie durch das Gelehrte in ihrer konkret-individuellen Situation angefordert sind. Das Delegationsmodell nimmt nicht ernst, daß das ganze Volk Gottes auf Gottes Wort hörende Kirche (vgl. DV 10) und deshalb auch vor aller Differenzierung in Amtsträger und Laien "Subjekt des Zeugnisses für das Evangelium" (Ch. Duquoc56) ist. Das Zeugnis ist die Antwort des Volkes Gottes auf Gottes Verheißungs- und Weisungswort; es versucht seine heilsame Herausforderung anzunehmen und in der Spur Jesu Christi den Weg zu identifizieren, auf dem Gottes Wahrheit sein Volk zum Heil führen will (vgl. Joh 14,6). Das Zeugnis ist Grundvollzug aktiven Hörens und damit auch dem Lehren vorgeordnet: Kirchliche Lehre ist diskursiv ausgearbeitetes, in seiner Bedeutung artikuliertes, ausdrücklich zu Gottes heilvoll herausforderndem Wort in Beziehung gesetztes und so vor Mißdeutungen oder Mißverständnissen geschütztes, in seiner Bindung an die Wahrheit des guten Gotteswillens reflektiertes Zeugnis; sie steht der Zeugnispraxis des Volkes nicht etwa gegenüber, wie manche lehramtliche Selbsteinschätzung insinuiert, sondern ist ihr eingeordnet. Deshalb müßte sich "die Erkenntnis durchsetzen, daß das Volk in der lehrmäßigen Glaubensaussage auch aktives Subjekt ist"57, daß ihm aufgrund der Teilhabe an Gottes Geist, der in alle Wahrheit hineinführt (Joh 16,13) eine ursprüngliche (nicht etwa delegierte) Lehrautorität zukommt und in Kommunikationsformen zur Geltung gebracht werden könnte, die durchaus der kritischen Begleitung demokratisch legitimierter Machtausübung durch die öffentliche Meinung vergleichbar sein mögen.58 Kirchliche Lehre ist ein Dienst an der Authentizität christlichen Zeugnisses; sie will dazu beitragen, daß die "Wechselbeziehung zwischen von Gott geschenkter Offenbarung und vollzogenem Glauben" stimmig bleibt59; sie kann sie aber nicht herstellen, sondern darf voraussetzen, daß authentisches Zeugnis geschieht, an dem aufscheint, wie Gottes Geist durch das Evangelium den Weg der Wahrheit zum Heil führt. Der Dienst an der Möglichkeit authentischen Zeugnisses läßt das hierarchische - wie übrigens auch das theologische - Lehramt angewiesen sein auf die Authentizität von Zeugnisgestalten, die es gerade nicht selbst hervorgebracht oder "inszeniert" hat; denn nur "inspiriert" von solchen Zeugnisgestalten kann es sich Rechenschaft darüber geben, wie es dem Wechselspiel von Offenbarung und Glaube, von glaubender Auslegung des Geoffenbarten und uneinholbarer Herausforderung des Glaubens durch die ihm geschenkte Gottesoffenbarung am besten dient. Dieser Dienst schließt gewiß auch ein, daß vollmächtig Einspruch erhoben wird, wo die Wechselbeziehung von Offenbarung und Glaube so tiefreichend gestört ist, daß über der Authentizität auch der Wahrheits-, also Offenbarungsbezug bestimmter Zeugnisgestalten fraglich geworden oder überhaupt nicht mehr erkennbar ist. Hier ist jenes spezifische Charisma der Zeugnis-"Diagnose" angefordert, das in letzter Instanz dem hierarchischen Lehramt zuzubilligen ist: Es hat die Geister zu scheiden, wenn offenkundig geworden ist, daß bestimmte Auslegungsgestalten dem Geist des Evangeliums nicht mehr entsprechen. Dieses Charisma ist wesentlich ein prophetisches60: Es übt prophetisch Kritik an dem mit Gottes Geist und seinem guten Schöpferwillen nicht zu Vereinbarenden. Aber solche charismatische Sensibilität für das Nicht-Zusammenpassen setzt die prophetische Sensibilität dafür voraus, wozu Gottes Geist hier und jetzt inspirieren und herausfordern will - wie er hier und jetzt im Zeugnis der Glaubenden authentisch sichtbar werden will. Dieses prophetische Charisma ist kein Amtscharisma. Vielmehr ist das Amt in der Kirche bei der Wahrnehmung seines prophetischen Wächterauftrags geradezu darauf angewiesen, daß das ganze Volk Gottes sich der endzeitlichen Verheißung stellt, nach der Gottes Geist über alle ausgegossen wird, so daß alle ein sensibles Herz für das haben werden, wozu er inspirieren will und niemand mehr "den andern belehren" muß, weil "alle, klein und groß", ihn "erkennen" (Jer 31, 34). Die Bezugnahme auf das prophetische Charisma der Unterscheidung der Geister, zuvor aber des Entdecken- und Wahrnehmenkönnens von Entsprechung (von Authentizität) ist hier - bei der ekklesiologischen Lokalisierung des kirchlichen Lehramts bzw. der kirchlichen Lehrautorität - gewiß prekär. Dies zum einen deshalb, weil Prophetie und Amt zueinander in Spannung stehen und die prophetische Autorität durch ein kritisches Spannungsverhältnis zum Amt profiliert scheint; zum andern aber auch deshalb, weil das Prophetische auch in den Mechanismen öffentlicher Meinungsbildung, wie sie in Demokratien ausgebildet wurden, nicht besonders gut "aufgehoben" erscheint. Das Gegenüber von Amtsautorität und prophetischer Autorität wurde in der Kirchengeschichte gewiß oft verdrängt oder dadurch unterlaufen, daß es nur im Gegenüber zur staatlichen bzw. Reichsautorität lokalisiert und dann doch von den kirchenamtlichen Autoritäten in Anspruch genommen wurde. Bis in die Gegenwart hinein war das Amt dann mitunter "stark" in der Herrschafts- und Sozialkritik ad extra, aber völlig verständnislos gegenüber allen Versuchen, prophetisches Charisma auch in der Kritik evangeliumswidriger innerkirchlicher Herrschaftsstrukturen und im Einspruch gegen kirchlichen Amtsmißbrauch gegeben zu sehen. Diese Verdrängung des Prophetischen ist als hochideologisch durchschaut, was nicht heißt, daß sie überwunden ist - daß die auch kirchlich konstitutive Spannung zwischen prophetischer Kritik und dem geradezu naturwüchsigen Legitimitätsbewußtsein der Amtsträger von seiten des hierarchischen Amtes schon folgenreich bejaht wäre. All das soll in seiner ekklesiologischen Brisanz nicht verdeckt werden, wenn nun gleichwohl eingeräumt wird, daß auch dem Amt in gewisser Hinsicht prophetische Autorität zukommt bzw. zukommen kann: im Widerspruch gegen eine oberflächliche "Heutigkeit", die das Herausfordernde des Evangeliums verdrängt, und in amtlicher Zuständigkeit: als Einspruchsinstanz, die alle Versuche, die Identität des Christlichen in entscheidenden Dimensionen zu verkürzen oder zu verfälschen mit Amtsautorität - und das heißt mit entsprechenden Rechtsfolgen - zurückweisen kann. Daß das Prophetische in kollektiven Meinungsbildungsprozessen noch schlechter "aufgehoben" sei als bei den Inhabern hierarchischer Ämter, ist mitunter ein Vorurteil gerade von Amtsträgern, die den vom Zeitgeist nicht bestochenen Einzelnen - eben den Amtsträger, vorrangig den Papst - in seiner "Ungleichzeitigkeit" gegen die Diktatur der Meinung von Mehrheiten zu stilisieren versuchen. Hier wäre zunächst einmal einzuwenden, daß der Typos des "einsamen Rufers" in der haltlosen Masse manipulierbarer Mehrheiten schon alttestamentlich korrekturbedürftig wäre. Die Prophetie wird schon im Israel der biblischen Zeit oft genug von prophetischen Zirkeln und Bewegungen getragen, die sich wohlüberlegt in Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozesse einschalten, in ihnen Partei ergreifen und von ihnen mitgeprägt werden und doch gerade so ihr Charisma - ihre Einsicht - für das Volk fruchtbar machen.61 Darf man dann nicht auch davon ausgehen, daß sich das Prophetische in den Kommunikationsstrukturen unserer Zeit ausbildet, aber darin auch - wie schon zur Zeit des Alten Testaments - interessegeleiteter Verzerrung ausgesetzt ist? Müßte man deshalb nicht auch skeptisch sein gegen alle Versuche, das Prophetische vor allem bei denen dingfest machen zu wollen, die sich demonstrativ außerhalb solcher Kommunikationsstrukturen lokalisieren und die Authentizität ihrer Inspiration an ihrer gesellschaftlichen Außenseiterposition festmachen nach dem Motto: Das Seltene und Seltsame ist das Wahre? Summa summarum: der Prophetenmantel ist mißbrauchbar; und er kann von den "einsamen Rufern" mit oder ohne hierarchisches Amt ebenso mißbraucht werden wie von "Basisbewegungen" oder Theologenfraktionen. Eine Garantie gegen solchen Mißbrauch gibt es nicht, nur den Versuch, die verschiedenen möglichen Wirkungsorte des Prophetischen gut im Blick zu behalten und kirchlich - wohlverstanden: geduldig katholisch - zusammenzuhalten, aufeinander zu beziehen und vielleicht auch zusammenzubringen. Die biblische Überlieferung hat es nota bene auch nicht anders gemacht. Vielleicht gewinnt gerade von dieser Einsicht her der Konsultationsprozeß, der zum Sozialwort geführt hat, seine ekklesiologische Dignität und seine geradezu paradigmatische Relevanz. Aber es wird von ihr her vielleicht noch einmal deutlich, wie schnell die prophetische Einrede als überanstrengte oder gar hohle Attitüde wahrgenommen werden kann - vor allem wenn man Anlaß hat, unter dem ausgestreckten Zeigefinger des Propheten die vier auf ihn selbst zurückgewendeten Finger als das eigentliche prophetische Zeichen zu identifizieren. 3. Subsidiarität als ekklesiologisches Prinzip? Als ausgesprochen kritisch wird man hier das Geltendmachen des Subsidiaritätsprinzips zur Gewährleistung von Partizipation in gesellschaftlichen und staatlichen Gestaltungs- und Entscheidungsprozessen ansehen müssen. Dieses Prinzip hat - gewiß zu Recht - einen hohen Rang in der kirchlichen Sozialverkündigung. Es wird auch in der Ekklesiologie für das Zusammenwirken von Ortskirchen und kirchlichen Zentralinstanzen eingefordert62; seine ekklesiologische Anwendung wird vom Lehramt im Grundsatz zugestanden63, in der kirchlichen Praxis jedoch weitgehend mißachtet. So entstand der für die Glaubwürdigkeit der Kirche ruinöse Eindruck, man berufe sich auf dieses Prinzip nur da, wo seine Befolgung institutionell-kirchliche Mitwirkungsspielräume eröffne und staatliche Subsidien anzapfen helfe, ignoriere es aber, wo man sich seiner Forderung selbst zu stellen hätte. Der auch für die Geschichte der katholischen Kirche beispiellose Zentralismus, der die Ortskirchen gegenwärtig in vieler Hinsicht faktisch zu weisungsgebundenen Filialen der römischen Zentralinstanzen degradiert, wirft jedenfalls die Frage auf, ob und warum für die Kirche maßgebend sein sollte, was die kirchliche Sozialverkündigung für den staatlich-gesellschaftlichen Bereich so vehement kritisiert. Man kann natürlich geltend machen, die katholische Kirche dürfe sich aufgrund ihrer hierarchischen Leitungsstruktur und ihrer Sendung, Gottes Evangelium vollmächtig zu verkünden, einer Organisierung ihrer Gestaltungs- und Entscheidungsprozesse nach dem Subsidiaritätsprinzip nur sehr begrenzt öffnen. Da die vollmächtige (prophetische) Verkündigung nun einmal "von oben nach unten" zu erfolgen habe - von Gott bzw. Jesus Christus über die Apostel und seine Nachfolger, die das Wort auszurichten hätten, sei es gelegen oder ungelegen (vgl. 2 Tim 4,2; Tit 3,8), zum "Volk" hin -, könne sich die Kirche in dem, was sie zentral ausmacht und ihre Gestalt bestimmt, nicht von unten nach oben hin aufbauen, so wie dies im gesellschaftlichen Bereich einzufordern sei. Es spricht aber einiges dafür, daß diese ekklesiologische Entsorgung des Subsidiaritätsprinzips einige Differenzierungen aus dem Blick verliert oder bewußt verwischt. Zunächst wäre genauer zu würdigen, was das Subsidiaritätsprinzip eigentlich einfordert. Das Sozialwort sagt hinreichend deutlich, worum es geht: darum, "der je einmaligen Würde und damit der Verantwortungsfähigkeit und Verantwortlichkeit einer jeden menschlichen Person Rechnung zu tragen" und ihr so zu ermöglichen, nach ihren je eigenen Möglichkeiten zum Gemeinwohl beizutragen. Dieses Ziel kann offenkundig nur dadurch befördert werden, daß den einzelnen und den "kleineren Gemeinschaften" ein "Freiraum" offengehalten wird, "sich eigenständig und eigenverantwortlich zu entfalten. Es muß" - so das Sozialwort - "vermieden werden, daß die Gesellschaft, der Staat oder auch die Europäische Union Zuständigkeiten beanspruchen, die von nichtstaatlichen Trägern oder auf einer unteren Ebene des Gemeinwesens ebenso gut oder besser wahrgenommen werden könnten. Auf der anderen Seite müssen die einzelnen wie die kleinen Gemeinschaften aber auch die Hilfe erhalten, die sie zum eigenständigen, selbsthilfe- und gemeinwohlorientierten Handeln befähigt" (Ziffer 120). Abgelehnt wird deshalb unter anderem ein Paternalismus, der die "Eigenverantwortung und Eigeninitiative" lähmen müßte (Ziffer 121). Wird solcher "Paternalismus" nicht auch in der katholischen Kirche als lähmend und demotivierend erfahren? Ist nicht auch in ihr vieles zu gestalten und zu regeln, was auf den unteren Ebenen der kirchlichen Communio "ebensogut oder besser wahrgenommen werden" könnte? Da kämen gewiß zunächst einmal Gestaltungs- und Entscheidungsmaterien in den Blick, die offenkundig basisnäher "bearbeitet" werden könnten und dies schon deshalb, weil in kirchlicher Geschichte und Gegenwart damit durchaus verheißungsvolle Erfahrungen gemacht worden sind, also etwa die Besetzungsprozeduren für kirchliche Ämter auf allen Ebenen. Die Mitwirkung der "Basis" an diesen Prozeduren würde ja keineswegs der theologischen Legitimation der Amtsträger widersprechen. Selbstverständlich sind die Amtsträger der Kirche(n) vom Herrn der Kirche gesandt; sie sind ihm - seinem Evangelium - in der Wahrnehmung ihres Amtes verantwortlich und nicht etwa einem Wahlgremium, das mit seiner Entscheidungskompetenz auch die inhaltlichen Norm der amtlich wahrgenommenen Verantwortung zu setzen befugt wäre. Aber schließt dies aus, daß Wahlgremien in fairem Zusammenwirken mit den jeweils höheren kirchlichen Ämtern über die Auswahl der so dem Herrn der Kirche Verantwortlichen mitentscheiden und auch die konkrete Amtsführung kritisch-solidarisch begleiten? Ich kann nicht sehen, daß es stichhaltige theologische Einwände gegen eine nachhaltige Beteiligung des "Volkes Gottes" in solchen Prozeduren gäbe. Die gegenwärtige Option für Zentralismus ist jedenfalls theologisch nicht geboten; und sie hat die Selbstverantwortung der Gläubigen nur insofern gefördert, als sie in manchen Ortskirchen Protest und Widerstand gegen zentralistisch durchgesetzte Regelungen hervorgerufen hat. Gefordert ist hier ein offener Meinungsbildungsprozeß darüber, welche kirchlichen Aufgaben und Entscheidungen der "Basis" vorbehalten bleiben können und wo die Gestaltungs- und Entscheidungskompetenz höherer Instanzen von der Sache her angefordert ist. In Rechnung zu stellen wären dabei gewiß die Zentralisierungsdynamiken, die in einem medial vernetzten gesellschaftlichen Feld eine gewisse Kohärenz des in der Öffentlichkeit als christlich bzw. katholisch Wahrgenommenen erzwingen. Zur Geltung zu bringen wären aber auch die Chancen, die mit dem faktischen und nicht auf Dauer zu verdrängenden "Polyzentrismus" (J.B. Metz) der Weltkirche gegeben sind. Die Sorge um die dem Evangelium (bzw. eben den Evangelien und der vielfältigen biblischen Überlieferung) geschuldete Kohärenz des als christlich bzw. katholisch Geltenden wird Eingriffe der Zentralinstanzen erforderlich machen, wo immer diese Kohärenz durch häretische - also die Kohärenz des katholischen "Netzes" zerreißende - Positionen gefährdet ist, wo immer Amtsträger oder Laien die Sendung der Kirche nachhaltig und in von der Ortskirche selbst nicht mehr zu heilender Bedrohlichkeit schädigen. Solche Eingriffe sind in jedem Fall legitimationsbedürftig; und die jeweils eingreifende Instanz wird ihre Glaubwürdigkeit aufs Spiel setzen, wenn ihr Eingriff als willkürlich oder gar als autoritär wahrgenommen wird. Was um der Verkündigung des Evangeliums, um der Integrität des Bekenntnisses und der Identität kirchlich-katholischer Praxis willen unabdingbar geschehen muß, das fordert das Eingreifen der kirchlichen Instanzen an, ohne deren Tätigwerden die aufgetretenen Probleme nicht hinreichend bearbeitet werden können. Aber es muß den eingreifenden Instanzen klar sein, daß der ekklesiale "Erfolg" ihrer Maßnahmen davon abhängt, daß die unmittelbar Betroffenen möglichst weitgehend in die Versuche zur "Problemlösung" einbezogen werden. Das läßt sich nur ignorieren, wenn man es von vornherein darauf abgesehen hat, Problemlösungen durch den Ausschluß derer zu erreichen, die man für die aufgetretenen Probleme verantwortlich macht. Solche "Problemlösungen" haben nach aller kirchengeschichtlichen Erfahrung den Charakter der Problemverdrängung. Zentralistische Eingriffe neigen gleichsam ihrer "Natur nach" zu solchen Maßnahmen: Sie tendieren zur Einbahnkommunikation "von oben nach unten", die - weil sie Problemrückmeldungen erschwert oder unmöglich macht - Problemlösungen nach dem Schema der Elimination nahelegt. Vielleicht tendieren zentrale Instanzen "ihrer Natur nach" auch dazu, die Notwendigkeit ihres regelnden Eingriffs von vornherein als gegeben zu unterstellen und so die untergeordneten Instanzen oder Gemeinschaften zu entmündigen. Es ist in gewissem Sinne immer eine Einschätzungsfrage, ob basisnähere Gestaltungs- oder Entscheidungsinstanzen allein zurechtkommen. Im politisch-gesellschaftlichen Bereich kann das Subsidiaritätsdenken durch klare Zuständigkeitsregeln gestärkt werden. Und die kirchliche Soziallehre plädiert dafür. Im kirchlichen Bereich gibt es diese Zuständigkeitsregeln auch, jedenfalls ansatzweise; aber sie sind bei Vorliegen "besonderer Bedingungen" relativ leicht außer Kraft zu setzen. Das erforderte höchste Sensibilität für das immer gefährdete "Äquilibrium" der Zuständigkeiten und vor allem die (selbst-)kritische Kommunikation darüber, wann und warum dieses Äquilibrium aus dem Gleichgewicht gerät (oder geraten ist).64 Von solcher Sensibilität und Kommunikationsbereitschaft kann in der katholischen Kirche vielleicht mitunter "vor Ort", aber kaum im Blick auf die römischen Zentralinstanzen die Rede sein. Der Bereich dessen, was um der Verkündigung des Evangeliums, der Integrität des Bekenntnisses und der Identität der kirchlichen Praxis willen von ihnen zu urgieren und zu sanktionieren sei, wird in einer wahren Flut von Erklärungen und Festlegungen immer mehr ausgeweitet.65 Immer mehr muß - so insinuiert man - nun als unveränderlich und jeder weiteren Interpretation entzogen festgeschrieben werden, weil ansonsten die katholische Glaubensidentität von einem Interpretationschristentum aufs Spiel gesetzt würde. Offenkundig fehlt gegenwärtig die Einsicht in das hohe kirchliche Risiko, das man mit dieser Strategie heraufbeschwört: Wenn man darauf abzielt, die Glaubenserfahrungs- und damit auch die Auslegungskompetenz der Gläubigen zu marginalisieren, ihren "Aneignungsspielraum" so weit wie möglich zu verkleinern, bis - idealerweise - nur noch das Ja und Nein zu dem von hierarchischen Lehramt Vorgelegten bleibt, so läuft man Gefahr, die Zeugniskompetenz des Gottesvolkes "auszutrocknen" und seine Kreativität für Bewältigung der Aufgaben "vor Ort" lahmzulegen. Wer nicht mitsprechen darf und nur noch nachsprechen soll, den führt man in Versuchung, sich stumm oder entschieden widersprechend abzuwenden. Wo die Stimme des Volkes Gottes eher Echo auf das vom Lehramt in sie Hineingesprochene sein soll als das Gespräch der Glaubenden und um ihren Glauben Ringenden darüber, wohin der Glaube sie auf dem Weg der Nachfolge führt und führen will, da ist die Verwurzelung der kirchlichen Glaubenslehre im Zeugnis der Glaubenden nicht mehr hinreichend im Blick. Subsidiarität gewinnt gerade hier eine eminente theologisch-ekklesiologische Dringlichkeit: Das Amt hat der Zeugnis- und Praxisvielfalt im Volk Gottes zu dienen, damit die Lehre der Kirche und ihre Nachfolgepraxis sich nähren können von den Gaben, die den Gliedern der Gemeinde von Gottes Geist auf je spezifische Weise geschenkt sind. Die Inhaber des hierarchischen Lehr- und Hirtenamtes leben in der Wahrnehmung ihres Amtes von solcher Nahrung. Wo sie etwa der Meinung wären, vor allem sie selbst gäben, worüber sie selbst in reichem Maße verfügen, anderen zur Nahrung im Glauben weiter, da werden sie das empfindliche Wechselspiel zwischen der Vielfalt der Zeugnis- und Nachfolgegestalten und den Maßnahmen, die von der Sorge um die Kohärenz des Katholischen gefordert sind, kaum sensibel genug gestalten können. Subsidiarität: Traut man der Weisheit dieses Prinzips auch ekklesiologisch? Wird man sie glaubwürdig "nach außen" einfordern können, da man ihre Fruchtbarkeit ekklesial erfahren hat? Das Sozialwort der Kirchen macht überzeugend deutlich, warum solche Fragen gestellt werden müssen: "Das kirchliche Engagement für Änderungen in der Gesellschaft wirkt um so überzeugender, wenn es innerkirchlich seine Entsprechung findet" (Ziffer 243). ------------------------------------------------------------------------------------- Prof. Dr. Ilona Riedel-Spangenberger: Theologische Prinzipien und kirchenrechtliche Bestimmungen zum sozial-politischen Engagement der Kirche Wenn hiermit nun nach der kirchenrechtlichen Relevanz des sozial-politischen Engagements der Kirche gefragt werden soll, so möchte ich von der Leitfrage ausgehen: Kann die Kirche Politik betreiben bzw. wer kann in welcher Weise in der Kirche politisch tätig werden? Das Kirchenrecht als eine Disziplin der Theologie wie auch der Rechtswissenschaft fragt nämlich sehr genau nach der Zuständigkeit und nach der Verbindlichkeit, aber ebenso auch nach dem Verfahren und nach der Zielsetzung. Außer der Leitfrage ergeben sich noch eine Reihe weiterer Fragen, die hier artikuliert werden sollen: 1. Inwieweit schließt die Zielsetzung der Kirche auch sozial-politisches Engagement ein? 2. Worauf richtet sich das sozial-politische Engagement der Kirche bzw. was will die Kirche damit erreichen? 3. Wer sind die Träger des sozial-politischen Engagements der Kirche? 4. Welches Verfahren dient dem sozial-politischen Engagement? 5. Welche Relevanz hat ein ökumenisch erweitertes Verfahren? Die Beantwortung dieser Fragen möchte ich nicht mit einer bloßen positivistischen Darlegung der theologischen Quellen und des darauf beruhenden, mehr oder weniger entsprechenden Normenbestands im universalkirchlichen Gesetzbuch Codex Iuris Canonici beantworten, hier haben sich mittlerweile längst die hermeneutischen Paradigmen der Kirchenrechtswissenschaft verändert. Der Eigenart des Kirchenrechts entsprechend, als Recht sui generis materiaeque suae nämlich, möchte ich mich zunächst auf die Quellen beziehen, in denen die politische Dimension der Kirche in differenzierter Weise angesprochen ist, woraus sich eine Struktur von Kompetenzen ergibt, die nicht nur der Bestimmung von Funktionen oder Autorität dient, sondern viel mehr der konfliktminimierenden Sachkompetenz. Im Rahmen der zur Verfügung stehenden Zeit möchte ich dabei von Aussagen des II. Vatikanischen Konzils ausgehen und in einem weiteren Schritt die Gesetze erörtern, in die diese Vorgaben aufgenommen bzw. wo sie verändert wurden oder unbeachtet blieben. Dabei geht es mir darum, die ekklesiale Struktur und ihre theologische Grundlegung aufzuzeigen, in deren Rahmen politische Tätigkeit der Kirche stattfindet und woran zugleich auch Kompetenz und Verbindlichkeit politischer Äußerungen der Kirche ablesbar werden. Dabei möchte ich darauf hinweisen, daß ohne Einsicht in die ekklesiologische Basis des Kirchenrechts die Behandlung juristischer Grundlagenfragen für die Kirche in der Gefahr steht, unhistorisch rechtliche Strukturen zu verabsolutieren, was vor allem dann der Fall ist, wenn die ekklesiogischen Vorgaben nicht eindeutig sind und man verschiedenen Kirchenbildern folgen kann. Der Rückgriff auf die Ekklesiologie dient der Evidenz der Prämissen, von denen die Kanonistik ausgeht. Im Zusammenhang mit dem Gemeinsamen Wort wird es auch darum gehen, auf die Valenz interkonfessioneller Äußerungen einzugehen und die Verfahrensweise des gesamten Konsultations- und Entscheidungsprozesses noch einmal zu reflektieren. Ich möchte zunächst auf die theologische Grundlegung zu sprechen kommen, mit der das II. Vatikanische Konzil die sozial-politische Dimension der Kirche begründet hat. Dabei geht es mir darum, die ekklesiale Struktur aufzuzeigen und ihre Bedingungen, in deren Rahmen sich die sozial-politische Tätigkeit der Kirche ihrem Auftrag gemäß vollzieht. In einem weiteren Schritt wird es um die kirchenrechtliche Rezeption der konziliaren Vorgaben gehen mit einem Ausblick auf Strukturelemente der Kirche, die zunehmend auch kirchenrechtliche Relevanz genommen haben, wie zum Beispiel Kollegialität und Synodalität, Kooperation und Konsiliarität zugunsten klar definierter Rechte der Beteiligten und einer breiteren Meinungs- und Entscheidungsbildung der lehramtlichen Instanzen. Mit dieser Vorgehensweise möchte ich einer Gefahr begegnen, der sich das Kirchenrecht schnell ausgesetzt sieht, nämlich unabhängig von Geschichte und konkreter Situation rechtliche Strukturen zu verabsolutieren, was nicht zuletzt auch infolge uneindeutiger Ekklesiologien häufig geschieht. Aber gerade der Rückgriff auf die Ekklesiologie erweist die Evidenz der Prämissen, von denen die wissenschaftliche Kanonistik ausgeht. Die Ekklesiologie, die hinter dem kirchlichen Gesetz steht, zu benennen, erscheint mir deshalb unverzichtbar. In diesem Kontext wird letztlich auch nur die Valenz interkonfessioneller bzw. ökumenischer sozial-politischer Äußerungen bewertbar sein wie ebenso ein Ausblick auf neue Verfahrensweisen für weitere Konsultations- und Entscheidungsprozesse, wie sie mit dem Gemeinsamen Wort der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland 1997 begonnen wurden. 1. Die theologische Grundlegung durch das II. Vatikanische Konzil Im Kontext der Kirchenvorstellungen des II. Vatikanischen Konzils geht es wesentlich auch um die sozial-politische Dimension der Kirche selbst und ihren Bezug nicht nur zur göttlichen Schöpfungsordnung, sondern auch zum Erlösungswerk Jesu Christi. Mit diesem zweifachen Aspekt hat sich mit dem Konzil ein Paradigmenwechsel in der Begründung dieser Dimension der Kirche vollzogen. Dieses Konzil hat nicht mehr wie in den vorausgegangenen Zeiten der Kirche Politik und Soziales nur als Teil der Schöpfungsordnung unabhängig von der Heilsordnung verstanden, sondern auf der Grundlage der theologischen Anthropologie und sozialen Dimension der Offenbarung auch diese kirchlichen Dimensionen in den Horizont der Heilsordnung gestellt. Demzufolge umfaßt das Heilsgeschehen der Kirche auch das ihr eigene sozial-politische Engagement. 1.1 Die zweifache Sendung der Kirche Das II. Vatikanische Konzil bestimmt im Anschluß an die doppelte Zielrichtung des Erlösungswerkes Christi die Sendung der Kirche in zweifacher Weise, das heißt sowohl auf das überzeitliche Heil der Menschen wie auch die zeitliche Ordnung der Welt bzw. der Gesellschaft bezogen: "Das Erlösungswerk Christi umfaßt, während es auf das Heil der Menschen seinem Wesen entsprechend zielt, zugleich die Erneuerung auch der gesamten zeitlichen Ordnung (instauratio totius ordinis temporalis). Deshalb besteht die Sendung der Kirche nicht nur darin, die Botschaft Christi und die Gnade den Menschen nahezubringen, sondern auch darin, die Ordnung der zeitlichen Angelegenheiten zu durchdringen und zu verbessern." (AA 5) Ein integraler Bestandteil der Heilssendung der Kirche ist demzufolge, den Geist Christi inmitten der Welt präsent und wirksam werden zu lassen und auf diese Weise zum Heil der Menschen beizutragen. Etwas anders akzentuiert und mit Blick auf den inneren Zusammenhang beider Bereiche formuliert das Konzil später in "Gaudium et spes": "Die eigene Sendung jedenfalls, die Christus seiner Kirche anvertraut hat, ist nicht die der politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Ordnung: das Ziel nämlich, das Christus ihr gesetzt hat, ist das der religiösen Ordnung. Aber es fließen aus dieser religiösen Sendung Aufgabe, Licht und Kräfte, die der Gemeinschaft der Menschen gemäß göttlichem Gesetz zum Aufbau und zur Festigung dienen können. Ja, wo es nötig ist, kann und muß sie selbst gemäß den Umständen von Zeit und Ort Werke zum Dienst an allen, vor allem an den Armen, in Gang setzen, wie zum Beispiel Werke der Barmherzigkeit oder andere dieser Art." (GS 42) 1.2 Der Aufbau der zeitlichen Ordnung als Konsequenz der Heilssendung der Kirche Kirchlicher und politisch-sozialer Auftrag werden hier deutlich hinsichtlich ihrer je eigenen Zielsetzung unterschieden, aber ebenso das soziale Engagement der Kirche als Konsequenz ihrer religiösen Sendung umschrieben. Die Mitarbeit am Aufbau der gesamten zeitlichen Ordnung gehört folglich wesentlich zur Sendung bzw. zur Aufgabe der Kirche. Wenn das Konzil von "zeitlicher Ordnung" und "religiöser Ordnung" spricht, liegt darin auch der Grund für ein verbreitetes Mißverständnis, damit nämlich zwei voneinander getrennte Lebensbereiche anzunehmen und zu übersehen, daß es in der einen Heilssendung der Kirche zwei Zielsetzungen gibt, die zwar unterschieden werden, aber aus der Perspektive von Christen niemals unabhängig voneinander bestehen. Für Christen gehört das Bemühen und der Aufbau der zeitlichen Ordnung untrennbar zur religiösen Ordnung. Diese grundsätzliche theologische Einsicht bedeutet aus kirchenrechtlicher Sicht die Notwendigkeit der Bestimmung als Grundrecht und Grundpflicht eines jeden Christen, die eigene innergeschichtliche und gesellschaftliche Gestaltungskraft als religiöse Lebensdimension zur Geltung zu bringen, das heißt diese theologische Einsicht hat Richtliniencharakter. Zur Heilsverkündigung und Heilsvermittlung der Kirche gehört demnach auch die Mitarbeit am Aufbau der gesamten zeitlichen Ordnung. 2. Die zeitliche Ordnung und die Autonomie der irdischen Wirklichkeiten Materiell umfaßt im Sinne des Konzils die "zeitliche Ordnung" den gesamten politischen und soziokulturellen Lebenskontext der Menschen, das heißt "die Güter des Lebens und der Familie, Kultur, Wirtschaft, Kunst, berufliches Schaffen, die Einrichtungen der politischen Gemeinschaft, die internationalen Beziehungen und ähnliches mehr" (AA 7). Diese "zeitliche Ordnung" oder natürliche Lebenswelt der Menschen ist zwar letztlich durch Gott in der Person Jesu Christi auf das übernatürliche Ziel des Menschen hingeordnet, behält aber trotz dieser Letztbestimmung "ihre Autonomie, ihre eigenen Ziele, Gesetze, Methoden und ihre eigene Bedeutung für das Wohl der Menschen" (AA 7). Diesen Autonomieanspruch hat das II. Vatikanische Konzil in "Gaudium et spes" näher erklärt: "Wenn wir unter Autonomie der irdischen Wirklichkeiten (autonomia terrenarum rerum) verstehen, daß die geschaffenen Dinge und auch die Gesellschaften ihre eigenen Gesetze und Werte haben, die der Mensch schrittweise feststellen, anwenden und gestalten muß, dann ist es durchaus berechtigt, diese Autonomie zu fordern. Das ist nicht nur eine Forderung der Menschen unserer Zeit, sondern entspricht auch dem Willen des Schöpfers. Aus derselben Bedingung der Schöpfung haben nämlich alle Dinge ihre eigene Gestalt, Wahrheit und Gutheit sowie ihre eigenen Gesetze und Ordnung, die der Mensch unter Anerkennung der den einzelnen Wissenschaften und Techniken eigenen Methoden achten muß. Vorausgesetzt, daß die methodische Forschung in allen Wissensbereichen (disciplinae) in einer wirklich wissenschaftlichen Weise und den sittlichen Normen gemäß vorgeht, wird sie niemals mit dem Glauben in einen echten Konflikt kommen, weil die profanen Angelegenheiten und die Angelegenheiten des Glaubens in ein und demselben Gott ihren Ursprung haben. Ja, wer bescheiden und ausdauernd die Geheimnisse der Dinge zu erforschen versucht, wird, auch wenn er sich dessen nicht bewußt ist, von der Hand Gottes geführt, der alle Dinge trägt und sie zu dem macht, was sie sein sollen. Deshalb sind gewisse Geisteshaltungen, die einst auch unter Christen wegen ihres unzulänglichen Verständnisses für die legitime Autonomie der Wissenschaft vorkamen, zu bedauern. Durch die dadurch entfachten Streitigkeiten und Auseinandersetzungen schufen sie in der Mentalität vieler die Überzeugung von einem Widerspruch zwischen Glauben und Wissenschaft." (GS 36) Demzufolge hat die "Autonomie der irdischen Wirklichkeiten" ein eigenes Existenzrecht unabhängig von den Wahrheiten, die als genuin kirchlicher Auftrag gelten. Aber sowohl diese irdischen Wirklichkeiten haben wie die christlichen Wahrheiten ihren gemeinsamen Grund in Gott als ihrem gemeinsamen Ursprung. Die Heilssendung der Kirche ist also nicht gänzlich indifferent gegenüber den irdischen Wirklichkeiten wie sie ebenso nicht gänzlich different gegenüber der Ausdifferenzierung und Verselbständigung der Interaktionsbereiche und eigengesetzlichen Rationalitäten sein kann. Wenn Kennzeichen der irdischen Wirklichkeiten aber nicht nur die eigengesetzliche Systemik und Organisation ist, die der Mensch mit seiner Vernunft erkennen und beurteilen kann, sondern auch die Begrenzung ihrer Gegenstände und die Beschränkung dieser Gegenstände auf bestimmte Aspekte und auf eine bestimmte Methode, ergibt sich der Bezug zur kirchlichen Sendung aus den Impulsen der Überwindung von Spezialisierung und Fragmentarisierung der irdischen Wirklichkeiten, nämlich zugunsten ganzheitlicher Betrachtung und interdisziplinärer Verkoppelung und Kooperation in der Lebenswirklichkeit der Menschen zu votieren. Die Erfolgsbedingungen der Moderne, das heißt die selbstreferentiellen Systemrationalitäten sollen zwar gemäß den Konzilsaussagen nicht ihrer Autonomie beraubt werden, aber die Kirche ist gehalten, über ihre Auswirkungen und Probleme, die mit der Autonomie der vielen Teilsysteme verbunden sind, nicht hinwegzusehen, das heißt gerade sie kritisch zu verdeutlichen. Die kirchliche Grundorientierung vermag die Voraussetzungen und vorgefaßten Gewißheiten, die den irdischen Sachbereichen zugrundeliegen, gerade dann aufzudecken und kritisch zu befragen, wenn Wesen und Bestimmung des Menschen in Gefahr stehen. Unstreitig dürfte es sein, daß es heute nicht um eine christliche Gesellschaft oder Politik gehen kann, sondern um die Wirksamkeit von Christen, welche die Folgen der Autonomie der irdischen Wirklichkeiten im Hinblick auf die Menschen kritisch wahrnehmen und zu ergänzen bzw. auszugleichen suchen. Dieses Verhältnis der kirchlichen Sendung zur Autonomie der irdischen Wirklichkeiten enthält die zwingende Kraft für die kirchenrechtlichen Bestimmungen zum Verkündigungsdienst der Kirche, die Grenzen der irdischen Wirklichkeiten wahrzunehmen, zu benennen, zu beurteilen und darüber hinaus Perspektiven zugunsten der betroffenen Menschen aufzuweisen. Denn aus der Betrachtungsweise des II. Vatikanischen Konzils folgt als Aufgabe der Kirche bezüglich der zeitlichen Ordnung auch, "daran zu arbeiten, daß die Menschen fähig werden, die gesamte zeitliche Ordnung richtig aufzubauen und durch Christus auf Gott hinzuordnen" (AA 7), das heißt die irdischen Wirklichkeiten auf ihren Ursprung zu verweisen. Die Ordnung der gesellschaftlichen Angelegenheiten aus dem Geist des Evangeliums setzt nämlich voraus, die Entstellungen und Mißbräuche, das Konzil spricht von sittlichem Verfall, Mißachtung der menschlichen Person und blindem Vertrauen auf den naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt (vgl. AA 7), der von Gott her guten Ordnung (vgl. AA 7) zu korrigieren und die zeitliche Ordnung auf ihr letztes Ziel hin zu orientieren: "Die zeitliche Ordnung ist so auszurichten, daß sie, unter völliger Wahrung der ihr eigentümlichen Gesetze, den höheren Grundsätzen des christlichen Lebens entsprechend gestaltet, dabei jedoch den verschiedenen Situationen der Orte, Zeiten und Völker angepaßt wird." (AA 7; vgl. auch GS 76) 3. Die Träger der Gestaltung der zeitlichen Ordnung In der katholischen Kirche gelten Papst und Bischöfe aufgrund ihres hoheitlichen Lehramtes allgemein als die Träger der kirchlichen Sozialverkündigung. Sie vertreten den repräsentativen Anspruch der katholischen Kirche auf eine authentisch bestimmte sozial-politische Option und Position. Für die übrigen Glieder folgt daraus die Pflicht, diese lehramtliche Meinung zu vertreten und konkret umzusetzen, wobei getrennte Kompetenzzuweisungen an Laien und Kleriker erfolgen. Eine solche Vorstellung vom sozial-politischen Mandat der Kirche entspricht jedoch nicht den Vorgaben des II. Vatikanischen Konzils, das eine differenziertere Aufgabenzuweisung und eine kommunial und kooperativ relationale Aufgabenerledigung favorisiert. Die Gestaltung der zeitlichen Ordnung im Sinne einer diese korrigierenden und orientierenden Tätigkeit gilt im Sinne des Konzils als "Aufgabe der ganzen Kirche" (AA 7), das heißt aller ihrer Glieder ohne Ausnahme. Allerdings unterscheidet das Konzil bezüglich der Wahrnehmung dieser Aufgaben zwischen den "Pastores" und "laici". Beide haben die der ganzen Kirche gemeinsame Aufgabe oder Sendung bezüglich der Beteiligung an der Gestaltung der zeitlichen Ordnung in einer jeweils eigenen - ihrem jeweiligen Apostolat (vgl. AA 10) entsprechenden Weise. 3.1 Der unmittelbare Weltauftrag der Laien Hinsichtlich der Laien gilt: "Die Laien sind eigentlich, wenn auch nicht ausschließlich (proprie, etsi non exclusive) zuständig für die weltlichen Aufgaben und Tätigkeiten." Ihnen kommt es demnach in besonderer Weise zu, "sei es als Einzelne, sei es in Gruppen, als Bürger dieser Welt (zu) handeln..." (GS 43). Diese vornehmliche Zuständigkeit der Laien ergibt sich aus deren "Weltcharakter": "Den Laien ist der Weltcharakter in besonderer Weise eigen (Laicis indoles saecularis propria et peculiaris est)." (LG 31) Der Weltcharakter der Laien wie auch die daraus sich für die Laien ergebende besondere Berufung bzw. Aufgabe wird in "Lumen gentium" in folgender Weise bestimmt: "Sie leben in der Welt, das heißt in alle den einzelnen Aufgaben und Werken und den normalen Verhältnissen des Familien- und Gesellschaftslebens, aus denen ihre Existenz gleichsam zusammengewoben ist. Dort sind sie von Gott gerufen, ihre eigentümliche Aufgabe (proprium munus), vom Geist des Evangeliums geleitet, auszuüben und so wie ein Sauerteig zur Heiligung der Welt gewissermaßen von innen her beizutragen und vor allem durch das Zeugnis ihres Lebens, im Glanz von Glaube, Hoffnung und Liebe Christus den anderen kundzumachen. Ihre Aufgabe ist es also in besonderer Weise (peculiari modo), alle zeitlichen Dinge, mit denen sie eng verbunden sind, so zu durchleuchten und zu ordnen, daß sie immer Christus entsprechend geschehen und sich entwickeln und zum Lob des Schöpfers und Erlösers gereichen." (LG 31) An anderer Stelle wird dies noch präziser bestimmt, wenn gesagt wird, daß die Laien bei der Gestaltung der zeitlichen Ordnung "unmittelbar und entschieden handeln" (directo et modo definitivo agere) müssen und "mit ihrer spezifischen Sachkenntnis" und "in eigener Verantwortung" als Bürger "mit ihren Mitbürgern" im Geist des Evangeliums zusammenarbeiten sollen. (AA 7) Den Laien kommt also unmittelbar, das heißt im direktem Kontakt mit den einzelnen Sachbereichen und in Gemeinschaft mit ihren Mitbürgern, der Aufbau der zeitlichen Ordnung zu, wobei sie aus eigener Verantwortung zu entscheiden und zu handeln haben. Sie sind zwar eigentlich, nicht aber ausschließlich für die weltlichen Aufgaben und Tätigkeiten zuständig. Es können aber auch andere Gläubige als die Laien unter bestimmten Voraussetzungen in weltlichen Belangen tätig werden (Vgl. LG 31), das heißt die Wahrnehmung des kirchlichen Weltauftrages kann durch Laien oder durch Geistliche geschehen. 3.2 Die mittelbare Funktion der Hirten bezüglich der zeitlichen Ordnung Den Hirten der Kirche (Papst, Bischöfe und Pfarrer sowie die ihnen rechtlich Gleichgestellten, das heißt Geistliche, denen ein Kirchenamt mit umfassender Seelsorge und Leitung zukommt) wird in bezug auf die zeitliche Ordnung eine mittelbare Funktion zugesprochen, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Sie sollen (lediglich) die religiös-anthropologischen Grundsätze (principia) verkünden, welche als Grundorientierungen im Werk des Aufbaus der zeitlichen Ordnung zu dienen vermögen, die als solche jedoch noch der Umsetzung in die konkrete soziale und politische Praxis bzw. in sozial-politische Programme zukommt. In diesem Sinn ist es Aufgabe der Hirten, im prinzipiellen Bereich Orientierungen zu geben. Diese Tätigkeit erfüllen sie primär mit ihrem Verkündigungsdienst. In "Lumen gentium" heißt es dazu: Die Bischöfe "verkündigen dem ihm anvertrauten Volk die Botschaft zum Glauben und zur Anwendung auf das sittliche Leben..." (LG 25). Die Hirten handeln hier in der Ausübung ihrer Lehrfunktion (annuntiare), ohne jedoch die unmittelbare Zuständigkeit und die Eigenverantwortung der Laien für den Bereich der zeitlichen Ordnung aufzuheben. In "Gaudium et spes" werden jedoch die Funktionen der Hirten und die der Laien in diesem Feld in Beziehung gesetzt, wenn gesagt wird: "Die Laien ... im Licht im christlicher Wahrheit und unter Berücksichtigung der Lehre des kirchlichen Lehramtes ... ihre eigene Aufgabe wahrnehmen." (GS 43) Das Konzil sieht infolgedessen die Funktionen der Hirten nicht nur als Orientierungen, sondern auch als Konditionierungen für den Umgang mit den irdischen Wirklichkeiten an. Im Hinblick auf Diözesanbischöfe, denen die Sorge für eine Teilkirche anvertraut ist, sagt dazu das Bischofsdekret: "Ferner sollen sie aufzeigen, daß selbst die irdischen Dinge und die menschlichen Einrichtungen nach dem Plan des Schöpfergottes auf das Heil der Menschen hingeordnet sind und somit zum Aufbau des Leibes Christi nicht wenig beitragen. Sie mögen also aufzeigen (edoceant), wie sehr nach der Lehre der Kirche die menschliche Person zu achten ist, mit ihrer Freiheit und auch ihrem leiblichen Leben, ebenso die Familie ...; die weltliche Gesellschaft mit ihren Gesetzen und Berufen; die Arbeit und die Freizeit; die Künste und die technischen Erfindungen; die Armut und der Reichtum. Schließlich sollen sie die Grundsätze (rationes) darlegen, nach denen die überaus schwierigen Fragen über Besitz, Vermehrung und rechte Verteilung der materiellen Güter, über Krieg und Frieden sowie über das geschwisterliche Zusammenleben aller Völker zu lösen sind." (CD 12,3) In inhaltlicher und formaler Hinsicht soll also die Funktion der Hirten im Hinblick auf die Gestaltung der zeitlichen Ordnung im Prinzipiellen, Orientierenden und Konditionierenden bleiben. Den Hirten kommt die Darlegung der religiös-anthropologischen Grundlagen sowie die Darlegung der entsprechenden Grundsätze (principia, rationes) bezüglich der Gestaltung der sozialen und politischen Verhältnisse zu. Die Ausarbeitung konkreter sozialer und politischer Programme dagegen überschreitet ihren Zuständigkeitsbereich. Diese Aufgabe, die eine Beurteilung, Umsetzung und Vermittlung der kirchlichen Lehre im Kontext der verschiedenen weltlichen Sachgesetzlichkeiten verlangt, fällt dagegen in den Aufgabenbereich der in dieser Hinsicht eigenverantwortlich handelnden Laien. Eine weitere Aufgabe der Hirten ist es, die Laien als die unmittelbar Tätigen bei deren Einsatz in der Welt gleichsam auf geistliche Weise zu "konditionieren", indem sie sittliche und geistliche Hilfen anbieten und als Seelsorger handeln. "Von den Priestern und Bischöfen (sacerdotes) aber dürfen die Laien Licht und geistliche Kraft erwarten." (GS 43) Diese pastorale Konditionierung versteht das Konzil aber nicht nur als eine binnenkirchliche, sondern verdeutlicht auch die mittelbare Wirkung der Hirten auf das soziale und politische Leben, wenn es im Bischofsdekret heißt: "Indem sich die geweihten Hirten die geistliche Betreuung ihrer Herde angelegen sein lassen, sorgen sie in der Tat auch für das staatsbürgerliche Wohl und den sozialen Fortschritt. Zu diesem Zweck leihen sie im Rahmen ihres Amtes und wie es den Bischöfen geziemt den staatlichen Obrigkeiten ihre tatkräftige Unterstützung und leiten an zum Gehorsam gegenüber den gerechten Gesetzen und zur Ehrfurcht gegenüber den rechtmäßig bestellten Gewalten." (CD 19) Von diesen Funktionen der Hirten unterscheidet das Konzil in formaler Hinsicht die Aufgabe des hoheitlichen Lehramtes des Papstes und der Bischöfe. Als Zeugen und Lehrer des Glaubens der gesamten Kirche kommt ihnen die Autorität und die spezifische Sendung zu, im Namen Christi und der Kirche die für die Kirche verbindlich geltende christliche Sittenlehre auszusprechen. In diesem Kontext können sie sich jedoch auf verschiedene Weise und mit unterschiedlichen Graden der Rechtsverbindlichkeit und des Rechtsanspruches äußern. Soweit sich das Zeugnis der Hirten auf die in der christlichen Offenbarung und nicht in profanen Erkenntnissen begründeten Sitten bezieht, artikulieren sie sich im Namen Christi und der Kirche, das heißt mit einer Vollmacht und Kompetenz, die den übrigen Gläubigen nicht zukommt. Die Kirchenkonstitution sagt dazu: Die Bischöfe "verkündigen dem ihnen anvertrauten Volk die Botschaft zum Glauben und zur Anwendung auf das sittliche Leben und erklären sie im Licht des Heiligen Geistes, indem sie aus dem Schatz der Offenbarung Neues und Altes vorbringen ... Die Gläubigen aber müssen mit einem im Namen Christi vorgetragenen Spruch ihres Bischofs in Glaubens- und Sittenangelegenheiten übereinkommen und ihm mit religiös begründetem Gehorsam anhängen..." (LG 25). Hier findet der eigenverantwortliche und unmittelbare Weltauftrag der Laien die ihrem Gewissen gesetzte Orientierungsgrenze: die Laien haben im Geist des Evangeliums unter Beachtung der Lehre des kirchlichen Lehramtes, das heißt seiner Grundsätze zu urteilen und zu handeln. Diese Funktion des authentischen kirchlichen Lehramts verläuft den Konzilsaussagen gemäß jedoch nicht monokausal. Vielmehr sollen, wie es in "Lumen Gentium" heißt, die Laien den Hirten "ihre Bedürfnisse und Wünsche mit der Freiheit und dem Vertrauen, wie es den Kindern Gottes und den Geschwistern in Christus ansteht, eröffnen. Entsprechend dem Wissen, der Zuständigkeit und hervorragenden Stellung, die sie einnehmen, haben sie die Möglichkeit, bisweilen auch die Pflicht, ihre Meinung in dem, was das Wohl der Kirche angeht, zu erklären..." (LG 37; vgl. auch AA 6; IM 8). In "Gaudium et spes" wird dazu der dialogische Austausch zwischen den Hirten und den übrigen Gläubigen gefordert: "Das aber verlangt von uns, daß wir vor allem in der Kirche selbst, bei der Anerkennung aller rechtmäßigen Verschiedenheit, gegenseitige Hochachtung, Ehrfurcht und Eintracht pflegen, um ein immer fruchtbareres Gespräch zwischen allen in Gang zu bringen, die das eine Volk Gottes bilden, die Hirten und die übrigen Gläubigen. Stärker ist, was die Gläubigen eint, als was sie trennt. Es gelte im Notwendigen Einheit, im Zweifel Freiheit, in allem die Liebe." (GS 92) Dazu werden die Hirten im Priesterdekret aufgefordert, "mit den gläubigen Laien zusammen(zu)arbeiten und in deren Mitte dem Beispiel des Meisters nach(zu)leben, der zu den Menschen nicht kam, sich bedienen zu lassen, sondern zu dienen und sein Leben hinzugeben als Lösepreis für viele (Mt 20, 28). Die Priester sollen die Würde der Laien und die bestimmte Funktion, die den Laien für die Sendung der Kirche zukommt, wahrhaft anerkennen und fördern. Sie mögen auch mit Bedacht die gebührende Freiheit, die allen im bürgerlichen Bereich zusteht, achten. Sie sollen gern auf die Laien hören, ihre Wünsche geschwisterlich erwägen und ihre Erfahrung und Zuständigkeit in den verschiedenen Bereichen des menschlichen Wirkens anerkennen und mit Sorgfalt hegen..." (PO 9). Beziehung, Kommunikation und Dialog sind demnach die strukturellen Elemente des von der Kirche differenziert wahrzunehmenden Weltauftrags. Aus diesen Konzilstexten läßt sich ein System und ein Programm kooperativen Zusammenwirkens der Hirten und Laien in sozial-politischer Hinsicht entfalten. Das Problem eines möglichen Dissenses zwischen Hirten und Laien hat das Konzil für diesen Kontext durchaus auch in den Blick genommen. Das Recht auf Dissens wird vor allem im Kontext der irdischen Wirklichkeiten anerkannt (Vgl. GS 43) und auch bei den nicht letztverbindlich formell festgelegten Sittenlehren, nicht jedoch bei bereits definitiv festgelegten Lehren. Das Konzil hat sich allerdings keine Gedanken über mögliche Verfahren der Konfliktlösung gemacht, wenn Dissense zwischen den Trägern des sozial-politischen Auftrags der Kirche auftreten. Infolgedessen ergibt sich hier auch der Grund für ein Defizit an Rechtssicherheit und Rechtsschutz sowie letztlich auch für die nicht wenig verbreitete Kompetenzunklarheit. 4. Die rechtlichen Grundlagen zum sozial-politischen Auftrag der Kirche Wenn die Grundlegung des kirchlichen Rechts in der dogmatischen Theologie, das heißt näherhin in der Ekklesiologie, als die unbestrittene Prämisse für die Gestaltung des positiven Rechts der Kirche gilt, hat dieses Recht den in der Offenbarung verankerten konstitutiven Selbstvollzügen der Kirche unter den jeweiligen zeitlichen und gesellschaftlichen Bedingungen zu dienen und dabei ein Zusammenwirken und einen Ausgleich zwischen den Rechten und Pflichten der einzelnen Rechtsträger zu gewährleisten. Dies gilt auch im Hinblick auf die konkrete Ausführung des sozial-politischen Auftrags, welcher der ganzen Kirche als einer strukturell gegliederten Korporation zukommt. Die Frage nach dem sozial-politischen Engagement der Kirche stellt sich kirchenrechtlich als Frage nach den Adressaten und Instanzen der Wahrnehmung des kirchlichen Weltauftrages und nach den Modalitäten ihres Zusammenwirkens. 4. 1 Der Weltauftrag als eine Zielsetzung der kirchlichen Sendung Der Katalog der allen Christgläubigen zustehenden Grundrechte und Grundpflichten im Codex Iuris Canonici von 1983 beginnt mit dem normativen Grundsatz in c. 204 § 1, daß "Gott der Kirche eine Sendung in der Welt anvertraut hat", die auf die Heiligung des Menschen durch Wort und Sakrament (Heilsauftrag der Kirche) und den Aufbau der zeitlichen Ordnung im Geiste des Evangeliums (Weltauftrag der Kirche) zielt. An dieser einen Sendung mit den beiden Zielsetzungen haben alle Gläubigen aufgrund ihrer Taufe und gemäß ihrer jeweiligen Stellung (condicio) in der Kirche einen grundrechtlichen Anteilsanspruch, der keinem Getauften abgesprochen werden kann. Die sakramental begründete Unterscheidung zwischen den Geistlichen und den Laien (vgl. c. 207 § 1 iVm c. 1008) impliziert eine sakramental je unterschiedlich grundgelegte Weise der Anteilhabe an der einen, in ihrer Zielsetzung zweifach bestimmten Sendung der Kirche in der Welt. Es bleibt nun zu fragen, wie sich gemäß dem Codex die beiden Weisen der Anteilhabe von Geistlichen und Laien an der kirchlichen Sendung gestaltet, wobei im Kontext unserer Fragestellung die Sendung der Kirche nur in bezug auf den Weltauftrag von Interesse ist, sofern die Kirche also von Gott mit der Gestaltung der zeitlichen Ordnung im Geiste des Evangeliums beauftragt ist. 4. 2 Die Wahrnehmung des kirchlichen Weltauftrages durch die Laien Die diesbezügliche Aufgabe der Laien wird im c. 225 § 2 eindeutig formuliert: "Die Laien haben die besondere Pflicht (peculiare officium) und zwar jeder gemäß seiner eigenen Stellung, die Ordnung der zeitlichen Dinge im Geiste des Evangeliums zu gestalten und besser zu machen (rerum temporalium ordinem spiritu evangelico imbuere atque perficere) und so in besonderer Weise bei der Besorgung dieser Dinge und bei der Ausübung weltlicher Aufgaben Zeugnis für Christus abzulegen (testimonium Christi reddere)". Damit ist ein am Geist des Evangeliums orientiertes, konkretes, unmittelbares und berechtigtes Engagement unter anderem in den sozialen und politischen Ordnungen dieser Welt gemeint. - Die Wahrnehmung dieses Rechts wird als eine besondere Pflicht (officium peculiare) der Laien qualifiziert. Im Katalog der Grundrechte und Grundpflichten der Gläubigen (cc. 208ff.) bzw. der Laien (cc. 224ff.) gebraucht der Gesetzgeber den Begriff "officium" in der Regel als Gegenbegriff zum Begriff "ius" (vgl. cc. 211, 212 § 3) und insofern bedeutungsgleich mit dem dort ebenfalls in Gegenüberstellung zum Begriff "ius" verwendeten Begriff "obligatio". Unklar ist, ob die nähere Bestimmung dieser Pflicht als "officium peculiare" bedeutet, daß diese Verpflichtung der Laien ausschließlich (exclusive) oder nur "vorzugsweise" (MKCIC 225/2) beziehungsweise vornehmlich zukomme. Die letztere Interpretationsmöglichkeit erweist sich allerdings sowohl von den grundlegenden konziliaren Aussagen wie auch aufgrund weiterer kodikarischer Bestimmungen, die unter bestimmten Voraussetzungen ein sozial-politisches Engagement auch der Geistlichen vorsehen (vgl. c. 287 § 2), als die zutreffende. - Die Wahrnehmung des kirchlichen Weltauftrages durch die Laien steht letztlich unter dem Ziel, "Zeugnis für Christus abzulegen" (testimonium Christi reddere). Die Wahrnehmung des Weltauftrags durch die Laien ist damit gleichsam kerygmatisch funktionalisiert bzw. finalisiert und erweist sich insofern gerade als ein integraler Bestandteil der einen kirchlichen Sendung als ganzer. Der in c. 225 § 2 formulierten Pflicht der Laien korrespondiert das in c. 227 diesbezüglich formulierte Recht der Laien: "Die Laien haben das Recht, daß ihnen in den Angelegenheiten des irdischen Gemeinwesens jene Freiheit zuerkannt wird, die allen Bürgern zukommt; beim Gebrauch dieser Freiheit haben sie jedoch dafür zu sorgen, daß ihre Tätigkeiten im Geist des Evangeliums erfüllt werden, und sie haben dabei auf die vom kirchlichen Lehramt vorgelegte Lehre zu achten; dabei haben sie sich davor zu hüten, in Fragen, die der freien Meinungsäußerung unterliegen, ihre eigene Meinung als Lehre der Kirche auszugeben." - Der Gegenstand des den Laien eigenen Weltauftrags wird hier näher bestimmt als die "res civitatis terrenae". Dieser Begriff umfaßt die Gesamtheit der von der Kirche zu unterscheidenden Vergesellschaftungsformen des Menschen. Die "civitas terrena" zählt zum Bereich der "res terrenae", deren Autonomie das Konzil ausdrücklich anerkennt (vgl. AA 7, GS 36). Diese Autonomie der irdischen Wirklichkeiten (autonomia rerum terrenarum) besagt, "daß die geschaffenen Dinge und auch die Gesellschaften ihre eigenen Gesetze und Werte haben, die der Mensch schrittweise erkennen, gebrauchen und gestalten muß" (GS 36). Die "Autonomie der irdischen Wirklichkeiten" bedeutet also im Sinne des Codex wie des Konzils sowohl die Anerkennung eines (relativen) Eigenstandes und einer Eigengesetzlichkeit der geschaffenen Wirklichkeiten seitens der Kirche wie zugleich die Anerkennung des Rechtes und der Pflicht der Menschen, diese irdische Wirklichkeiten unter Zuhilfenahme "der den einzelnen Wissenschaften und Techniken eigenen Methode" zu erforschen ("legitime Autonomie der Wissenschaften") und eigenverantwortlich zu gestalten. (GS 31) Der Eigengesetzlichkeit der irdischen Wirklichkeiten entspricht insofern das Recht der Menschen auf einen sachgerechten und eigenverantwortlichen Umgang mit den irdischen Wirklichkeiten, der sich frei von jeder falschen religiösen und ideologischen Heteronomie allein an der diesen Wirklichkeiten immanenten Gesetzmäßigkeit, die mit den entsprechenden wissenschaftlichen Methoden zu erheben ist, orientiert. Es wird also kirchlicherseits auch als ein Recht der Laien anerkannt, daß sie mit ihrem Verstand und ihrer Vernunft die irdischen Wirklichkeiten zunächst einmal unabhängig von religiösen Notwendigkeiten analysieren und beurteilen, ehe sie diese Wirklichkeiten im Geist des Evangeliums zu gestalten sich bemühen und sich dabei an der vom Lehramt vorgelegten Lehre orientieren. Zur Regelung der Angelegenheiten der "civitas terrena" wird demzufolge die Stellung der Laien in doppelter Hinsicht bestimmt: 4.2.1 Grundsätzlich wird dem Laien in bezug auf die Regelung der Angelegenheiten der irdischen Gemeinschaft das gleiche Recht auf Freiheit zugesprochen wie es allen Bürgern zusteht. Das heißt, die Laien haben grundsätzlich das Recht, die Belange der "civitas terrena" in eigener Verantwortung, also frei von aller religiösen und ideologischen Bevormundung, in der Weise zu regeln und zu gestalten, wie sie dies im Rahmen der geltenden zivilen Rechtsordnung aufgrund einer sachlich angemessenen Betrachtung dieser Wirklichkeit für richtig erachten. 4.2.2 In der faktischen Rechtsausübung, das heißt im Gebrauch der ihnen grundsätzlich zugestandenen Freiheit, sind die Laien doppelt gebunden: - sie sollen sich bemühen, ihre Handlungen aus dem Geist des Evangeliums zu gestalten, - sie haben die vom Lehramt der Kirche vorgelegte Lehre (doctrina) zu beachten. Das heißt: Die Laien müssen ihr freies und eigenverantwortetes Engagement im politisch-sozialen Bereich gerade als Christen, das heißt unbeschadet ihres Glaubens bzw. ihrer christlichen Position und Identität, ausüben. Letztes Ziel und insofern auch ursprüngliche Motivation ihres freien und eigenverantworteten gesellschaftlichen Engagements ist die Wahrnehmung ihrer spezifischen Sendung als Christen, die unter anderem den Auftrag impliziert, die irdischen Wirklichkeiten im Geist des Evangeliums zu gestalten. Zugleich sind sie als Christen gehalten, den grundlegenden (anthropologischen) Auffassungen ihres christlichen Glaubens, wie sie verbindlich für die Kirche durch die Träger des kirchlichen Lehramtes vorgetragen werden, auch im Kontext ihres Weltengagements zu entsprechen. Die Vermittlung beider Aussagereihen, das grundsätzliche Recht auf Freiheit und Eigenverantwortung in der Gestaltung der "res civitatis terrenae" auf der einen Seite und die doppelte Bindung in der faktischen Ausübung dieses Rechtes auf der anderen Seite, ist das eigentliche Kernproblem in der Wahrnehmung des kirchlichen Weltauftrages auf der anderen Seite. Der Gesetzgeber selbst formuliert an dieser Stelle sehr vorsichtig, indem er lediglich die "normativen Eckdaten" herausstellt, die Weise ihrer Vermittlung in der konkreten Praxis aber weitgehend offen läßt. 4.2.3 Die im c. 227 gemachte Unterscheidung zwischen der "doctrina Ecclesiae" und einer "sententia propria" im Bereich der "quaestiones opinabiles" zeigt, daß der Gesetzgeber einen legitimen Gestaltungsspielraum anerkennt, sofern es gilt, aus den grundsätzlichen lehramtlichen Vorgaben praktische Schlußfolgerungen hinsichtlich der konkreten Gestaltung der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit zu ziehen. Der Bereich der "quaestiones opinabiles", den der Gesetzgeber inhaltlich nicht näher qualifiziert, umfaßt materiell wohl nicht den Bereich der prinzipiellen Aussagen, für welche das päpstliche und bischöfliche Lehramt unmittelbar zuständig ist, als vielmehr den Bereich der Umsetzung dieser grundsätzlichen Positionen in konkrete soziale und politische Programme bzw. Handlungsvorgaben hinein. Hier ist es möglich, wie es auch das II. Vatikanische Konzil ausdrücklich festgestellt hat (vgl. GS 43), daß die einzelnen Gläubigen aufgrund unterschiedlicher Sicht- und Beurteilungsweisen der komplexen politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit hinsichtlich einzelner Probleme und Fragenkomplexe zu unterschiedlichen, voneinander abweichenden, bisweilen sogar gegensätzlichen Schlußfolgerungen aus den Vorgaben des Lehramtes gelangen. Die mögliche Pluralität der Stellungnahmen und Positionen ist insofern legitim, als sie jeweils auf sachlich vernünftig begründeten, methodisch gesicherten, wissenschaftlichen Betrachtungsweisen beruht (Autonomie der irdischen Wirklichkeiten) und der einzelne Gläubige seine eigene Meinung nicht als Lehre der Kirche vorträgt. 4.3 Die Aufgaben der Geistlichen hinsichtlich der Ausübung der kirchlichen Sendung der Welt Gemäß den cc. 207 § 1 und 1008 versteht das universalkirchliche Gesetzbuch unter Klerikern Christgläubige, die durch das Sakrament der Weihe zu Geistlichen (sacri ministri) bestellt, das heißt dazu geweiht und bestimmt sind, entsprechend ihrer jeweiligen Weihestufe (als Bischöfe, Priester oder Diakone) die Dienste der Verkündigung, der Feier der Sakramente und Gottesdienste sowie die umfassende Seelsorge mit leitender Verantwortung - mit Ausnahme der Diakone - in der Person Jesu Christi des Hauptes der Kirche wahrzunehmen und dadurch dem Volk Gottes Hirte zu sein. Alle Geistlichen sind auch gesetzlich verpflichtet, zu dem einen Werk zusammenzuwirken, nämlich den Leib Christi, die Kirche aufzubauen (c. 275 § 1), das heißt den Menschen den Weg zum Heil zu erschließen. 4.3.1 Der Bezug der Geistlichen zum kirchlichen Weltauftrag Die Aufgabe der Geistlichen liegt demnach nicht vornehmlich im Bereich der Wahrnehmung des kirchlichen Weltauftrages, dieser stellt nicht deren "officium peculiare" dar. Dennoch kommen ihnen bezüglich des kirchlichen Weltauftrages auch bestimmte Pflichten zu. Mit Ausnahme der Diakone haben sie "die Bewahrung von Frieden und Eintracht, die auf der Gerechtigkeit beruhen, unter den Menschen soweit als möglich immer zu fördern" (cc. 287 § 1, 288). Das heißt, daß es nicht um Bewahrung der Eintracht um jeden Preis geht, sondern nur um solche, die auf Gerechtigkeit beruht. Die "Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz vom 27. September 1973 zur partei-politischen Tätigkeit der Priester" hat bereits auf diese Beziehung der Geistlichen zum kirchlichen Weltauftrag verwiesen, wenn sie sagt: "Obwohl der Auftrag des Priesters der Verkündigung des Evangeliums gilt, kann der Priester den Bereich des Politischen nicht schlechthin aussparen, da die Heilsbotschaft auf den ganzen Menschen und die ganze Gesellschaft bezogen ist." 4.3.2 Die unterstützende Funktion der Geistlichen bei dem durch Laien wahrgenommenen kirchlichen Weltauftrag Neben dieser grundsätzlichen Beteiligung der Geistlichen am kirchlichen Weltauftrag haben sie auch noch eine unterstützende Funktion hinsichtlich der Wahrnehmung des kirchlichen Weltauftrages durch die Laien. In c. 275 § 2 wird dazu gesagt: "Die Kleriker haben die Sendung anzuerkennen und zu fördern, welche die Laien, jeder zu seinem Teil, in Kirche und Welt ausüben." Hinsichtlich des als vornehmliche Pflicht der Laien definierten Weltauftrages geht es hier nicht um die Zusammenarbeit von Geistlichen und Laien in diesem Feld, sondern um eine Beschränkung der Rechte der Geistlichen in dieser Hinsicht und zugleich um die Festlegung einer für sie spezifischen Pflicht, die Rechte der Laien nicht einzuschränken, sondern anerkennen, und zudem noch zu unterstützen, das heißt zu fördern. Im Codex selbst wird das nicht konkretisiert, durchaus aber in der schon zitierten Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz von 1973, wo es heißt, daß die Geistlichen "den Politikern aller Parteirichtungen und den politisch tätigen Bürgern als Seelsorger zur Verfügung stehen", das heißt konditionierend tätig werden, und die Wahrnehmung des Weltauftrages der Laien dadurch fördern, daß sie prinzipielle Orientierungen geben, das heißt "die sittlichen Grundsätze ... verkünden", aber auch den Laien pastoral zur Seite stehen. Auch hiermit entspricht der Codex gänzlich den konziliaren Vorgaben. 4.3.3 Die Grenzen der Beteiligung von Geistlichen bei der Wahrnehmung des kirchlichen Weltauftrages Der Codex enthält einige Bestimmungen, die den Geistlichen (mit Ausnahme der ständigen Diakone, c. 288) ausdrücklich die Annahme bestimmter öffentlicher Ämter und Funktionen in Staat und Gesellschaft ganz oder zumindest in der Regel verbieten. So lautet c. 285 § 3: "Öffentliche Ämter anzunehmen, die eine Teilhabe an der Ausübung weltlicher Gewalt mit sich bringen, ist den Klerikern verboten." Dabei handelt es sich um ein ausnahmsloses Verbot, das sich auf die öffentlichen Ämter bezieht, die eine Teilhabe an der Ausübung weltlicher Gewalt mit sich bringen, wie etwa staatspolitische Ämter auf allen Ebenen (zum Beispiel Abgeordnetenmandate und Regierungsämter), auch Ämter im Bereich der Rechtspflege (zum Beispiel des Richters, Staatsanwalts, Notars) oder der Verwaltung. Entsprechend verpflichtet c. 289 § 2 die Geistlichen dazu, die ihnen durch staatliche Gesetze oder konkordatäre Bestimmungen gewährte Befreiung von der Ausübung öffentlicher Funktionen und Ämter, die dem geistlichen Stand fremd sind, wahrzunehmen. (Vgl. RK Art. 6) Daneben gibt es weitere Verbote, die jedoch unter bestimmten Bedingungen Ausnahmen für Geistliche zulassen. Im c. 287 § 2 heißt es: "In politischen Parteien und an der Leitung von Gewerkschaften dürfen sie nicht aktiv teilnehmen, außer dies ist nach dem Urteil der zuständigen kirchlichen Autorität erforderlich, um die Rechte der Kirche zu schützen oder das Gemeinwohl zu fördern." Es handelt sich bei den beiden Verboten um Regelbestimmungen, die bestimmte Ausnahmen zulassen. Solche Ausnahmen sind unter den folgenden Bedingungen möglich: - Der Einsatz von Geistlichen ist notwendig, um die Rechte der Kirche zu schützen oder das Gemeinwohl zu fördern; - die zuständige kirchliche Autorität, in deren Amtsermessen die Entscheidung darüber gestellt ist, muß zu dem Urteil gelangen, daß eine solche Situation tatsächlich und aktuell vorliegt. In der Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz von 1973 heißt es zu solchen Ausnahmebedingungen: "Außergewöhnliche Fälle lägen zum Beispiel dann vor, wenn antidemokratische Kräfte den für die Verwirklichung der Menschenrechte notwendigen öffentlichen Freiheitsraum bedrohen oder die Verkündigung des Evangeliums - wenn auch in versteckter Weise - unterbinden würden und keine Laien zur Verfügung stünden, die in einer solchen Lage aktiv werden könnten. Solche außergewöhnlichen Fälle oder Notstände sind für die Bundesrepublik heute nicht gegeben." 5. Lehraussagen der Kirche zu sozial-politischen Fragen Ein weiterer Komplex dieses umfänglichen Themas ergibt sich aus dem Rechtsanspruch der Kirche, für die soziale Ordnung ethische Prinzipien zu verkünden und Urteile über alle menschliche Belange zu fällen unter der Bedingung, daß fundamentale Rechte der menschlichen Person oder das Heil der Menschen solche Urteile notwendig machen. Dies wird in c. 747 § 2 als Kompetenzanspruch der Kirche für den Bereich der allgemeinen Ethik, die auch die soziale Ordnung umfaßt, bestimmt und davon der Kompetenzanspruch für die konkrete moralische Beurteilung der menschlichen Belange im Einzelfall und unter den gesetzlich bestimmten Prämissen unterschieden. Es bleibt allerdings offen, wann diese Prämissen gegeben sind und wer die Beurteilungsinstanz konkret ist. Die rechtliche Unschärfe der Begriffe "res humanae" und "salus animarum" läßt die im c. 747 § 2 bestimmte Begrenzung des kirchlichen Urteilsermessens als konkret schwer faßbar erscheinen. 5.1 Die Verkündigung sozial-ethischer Prinzipien und die Beurteilung der die Person und das Heil der Menschen betreffenden Belange durch die Kirche als ganze Subjekt der Aussage in c. 747 § 2 ist die Kirche als ganze. Es geht um den der Kirche als ganzer aufgetragenen Verkündigungsdienst (munus Ecclesiae docendi). Dieser Verkündigungsdienst der Kirche wird in seiner Aufgabenstellung doppelt bestimmt. In c. 747 § 1 umfaßt er das Recht und die Pflicht der Kirche zur praedicatio Evangelii und in § 2 die Verkündigung der sittlichen Grundsätze über die soziale Ordnung (ordo socialis) sowie die Beurteilung der menschlichen Belange (res humanae), soweit die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen dies erfordern. Demzufolge handelt es sich um zwei voneinander zu unterscheidende spezielle Bereiche des umfassenden Verkündigungsdienstes, der sich generell auf die Glaubenslehre bezieht. Ein Bereich sind die grundlegenden Aussagen in bezug auf die soziale Ordnung, wie sie sich aus der Glaubenslehre der Kirche als Schlußfolgerungen bzw. Konsequenzen ergeben, der andere Bereich ist die Beurteilung menschlicher Belange jedweder Art, etwa bestimmter Einzel- bzw. Unrechtssituationen, politischer Programme oder sozialer Reformen, im Licht des christlichen Glaubens bzw. der Grundsätze der christlichen Soziallehre. Das Recht bzw. die Kompetenz der Kirche hinsichtlich solcher Urteile wird jedoch sachlich eingegrenzt: die Beurteilung bestimmter gesellschaftlicher oder politischer Situationen und Vorgänge durch die Kirche soll nur in der Hinsicht und insofern erfolgen, als die menschlichen Grundrechte bzw. das Heil der Seelen dies fordern. Jedes andere Urteil, etwa bezüglich der Effizienz sozialer und politischer Programme oder Reformen, der Glaubwürdigkeit von Personen, Wahlempfehlungen etc., übersteigt die Legitimität und Kompetenz der Kirche in der Ausübung ihres Verkündigungsauftrages. Dieser Bereich des Verkündigungsdienstes soll die konkrete Tätigkeit der Laien in Wahrnehmung des Weltauftrages der Kirche nicht ersetzen, wie andererseits die Verkündigung sittlicher Grundsätze über die soziale Ordnung bzw. die sittliche Beurteilung einzelner Situationen keine hinreichende Wahrnehmung des kirchlichen Weltauftrages sein kann. Die konkrete Gestaltung und Ordnung der gesellschaftlichen Wirklichkeit im Geist des Evangeliums setzt Reflexionen, Urteile und Aktionen der Gläubigen voraus, die den in c. 742 § 2 normierten speziellen Bereich der kirchlichen Verkündigung weit übersteigen. In dem darüber hinausgehenden Bereich liegt genau die Kompetenz und Eigenverantwortlichkeit der Laien. (Vgl. c. 227) 5.2 Die Zuständigkeit des Lehramtes der Kirche (magisterium Ecclesiae) in sozial-politischen Fragen Die Wahrnehmung des spezifischen kirchlichen Verkündigungsdienstes für den Sektor der gesellschaftlichen Ordnung hat dem konkreten gesellschaftlichen und politischen Leben und Gestalten gegenüber eine grundlegend orientierende (principia) und eine kritisierende (iudicium) Funktion. Träger dieses Verkündigungsdienstes ist zunächst die ganze Kirche: das heißt die einzelnen Gläubigen, die Vereine und Verbände, die theologische Wissenschaft und auch die Vertreter des kirchlichen Lehramtes aufgrund sachlicher oder formaler Kompetenz. Adressaten dieses in orientierender und kritisierender Hinsicht vollzogenen Verkündigungsdienstes sind primär die Christen, vor allem die in Politik und Gesellschaft je auf ihre Weise tätigen Laien, aber ebenso auch alle Glieder der betreffenden Gesellschaft und ihre politischen Mandatsträger. Die Zuständigkeit des kirchlichen Lehramts in sozial-politischen Fragen ergibt sich gemäß den cc. 749-754 über die Träger, Ausübungsformen und Verbindlichkeit des authentischen Lehramts der Kirche, das dem Papst und den Bischöfen zukommt. Papst und Bischöfe haben die für die Kirche repräsentative Position im Rahmen ihrer formalen und sachlichen Kompetenz zu vertreten. Abgesehen von der nur die Kirchenglieder bindenden Möglichkeit der Proklamierung einer definitiv zu haltenden Sittenlehre durch den Papst oder das gesamte Bischofskollegium mit dem Papst (vgl. c. 749 § 1) im Sinne einer unfehlbaren Lehre, der Glaubenszustimmung seitens der Gläubigen entgegengebracht werden muß, und der Möglichkeit, daß Papst und Bischöfe als einzelne oder in kollegialer Verbundenheit sich ihres ordentlichen Lehramtes auch in sittlichen Angelegenheiten bedienen, die Gläubigen aber nicht zur Glaubenszustimmung verpflichtet sind (c. 752), erfaßt nur c. 768 § 2 die möglichen Inhalte lehramtlicher Verkündigung im sozial-politischen Bereich, wenn er von der Lehre (doctrina) spricht, "die das Lehramt der Kirche (Ecclesiae magisterium) vorträgt (proponit) über die Würde und Freiheit der menschlichen Person, über die Einheit und Festigkeit der Familie und deren Aufgaben, über die Pflichten, die den Menschen in der Gesellschaft aufgegeben sind, wie auch über die nach der gottgegebenen Ordnung zu regelnden weltlichen Angelegenheiten". Die Rede von der "gottgegebenen Ordnung" findet sich in den durch den Quellencodex angegebenen Konzilsstellen nicht. Dort ist die Rede von den "rationes", gemäß denen die "überaus schwierigen Fragen" (CD 12) im sozialen und politischen Bereich zu lösen sind. In LG 42 wird ausdrücklich betont, daß die Kirche "an kein besonderes politisches, wirtschaftliches oder gesellschaftliches System gebunden ist." Im Sinn der zugrundeliegenden konziliaren Aussagen muß also davon ausgegangen werden, daß sich die lehramtliche Verkündigung im Bereich sozial-politischer Fragen legitim bzw. zumindest insofern, als sie irgendeine Form der Verbindlichkeit beanspruchen will, allein auf den Bereich der "Prinzipien" (rationes, principia) erstrecken kann. Eine Sittenlehre dagegen, die vom authentischen Lehramt der Kirche vorgelegt wurde und sozial-politische Angelegenheiten betrifft, ist als Teil des "depositum fidei" und je nach dem Grad der Verbindlichkeit von den Gläubigen, das heißt auch bei der Wahrnehmung ihres Weltauftrages, zu beachten beziehungsweise zu befolgen. (Vgl. c. 750) Die Art des geschuldeten Gehorsams hat sich einerseits nach der formalen Qualität der jeweiligen Lehräußerung zu richten (vgl. cc. 750-754), andererseits ist der Gegenstand des Gehorsams materiell auf die Bereiche beschränkt, in denen das Lehramt legitim sprechen kann (vgl. cc. 747 § 2, 768 § 2), und das ist eben nur auf der prinzipiellen Ebene möglich. Die Funktion des kirchlichen Lehramtes in sozial-politischen Belangen kann somit nur das Vorlegen einer bestimmten in der göttlichen Offenbarung begründeten Sittenlehre sein durch die Darlegung allgemeiner sittlicher Prinzipien oder das Urteil in einzelnen Situationen zugunsten der Grundrechte und des überzeitlichen Heils der Menschen. Mit ihrem im Glauben begründeten Gehorsam, das heißt unter Respektierung des kirchlichen Lehramtes, seiner Kompetenz und seiner Äußerungen, werden die Gläubigen auch in diesen Belangen in eigener Verantwortung tätig (c. 212 § 1). Auf dem Weg der Kirche zur diesbezüglichen Meinungs- und Entscheidungsbildung sind die konsiliaren, synodalen und kollegialen Formen des Zusammenwirkens auszuüben (vgl. c. 212 §§ 2-3). Bei differenziert verteilten Kompetenzen, kollegialen Zusammenwirken in der Sache und klarer Kompetenzzuweisung, wer im eigenen Namen und wer im Namen der Kirche spricht und tätig wird, dürfte die anfangs gestellte Leitfrage für den Bereich der katholischen Kirche beantwortet sein. 6. Die rechtliche Qualität ökumenischer Äußerungen zu sozial-politischen Fragen In den beiden universalkirchlichen Gesetzbüchern findet sich kein Verweis auf einen fremden oder gar ökumenischen kirchenrechtlichen Normenbereich. Von einer interkonfessionellen Lehre oder gar Jurisdiktion zwischen der katholischen Kirche und den Kirchen, die aus der Reformation hervorgegangen sind, kann auch kaum gesprochen werden. Dennoch stehen aber nichtkatholische Christen auch rechtlich nicht außerhalb der katholischen Kirche, denn sie sind in unterschiedlicher Weise graduell mit ihr verbunden. Aufgrund der allgemeinen Anerkennung der Ökumene sind auch die Katholiken in ihrem Handeln auf die Christen hingeordnet, die nicht in voller Gemeinschaft mit der katholischen Kirche stehen. So kommt allen Getauften auf der Grundlage der cc. 204ff und 96 das Recht zur Verwirklichung der christlichen Grundrechte und Grundpflichten zu. Bezogen auf den durch das II. Vatikanische Konzil differenzierten Kirchenbegriff der "communio plena", besteht die Möglichkeit einer graduell verschiedenen Zugehörigkeit zu dieser Kirchengemeinschaft im Sinne der "communio non plena", so daß auch die nichtkatholischen Christen durch die Taufe dem Leib Christi inkorporiert und zum Sendungsauftrag Christi berufen sind, das heißt auch zur Wahrnehmung des Weltauftrages der Kirche. Ihnen sind mit der Taufe auch die Grundpflichten eines Christen aufgegeben wie ebenso auch die Grundrechte eines Christen verliehen (vgl. auch LG 3). Sowohl das Konzil wie auch der Codex gehen davon aus, daß die nichtkatholischen Christen ihre christliche Existenz in ihren eigenen Kirchen bzw. kirchlichen Gemeinschaften verwirklichen, die als solche nicht nur faktisch, sondern auch rechtlich katholischerseits anerkannt sind (vgl. LG 15). Die ekklesiale Hinordnung, das innere Ausgerichtetsein der nichtkatholischen Christen wie auch ihrer Kirchen bzw. kirchlichen Gemeinschaften auf die "communio plena" mit der katholischen Kirche gilt als die Grundlage sämtlicher ökumenischer Begegnungen, Dialoge und Zusammenarbeit, wie sie auch im Hinblick auf das sozial-politische Engagement der Kirche schon in der Magna Charta der Ökumene, im Dekret über den Ökumenismus herausgestellt wurden. Auf der Grundlage der durch Dialoge miteinander erworbenen Kenntnisse über Lehre und Leben des ökumenischen Partners sollen die "Gemeinschaften zu einer stärkeren Zusammenarbeit in den Aufgaben des Gemeinwohls, die jedes christliche Gewissen fordert", gelangen. (UR 4) Ziel ist die Verwirklichung des kirchlichen Weltauftrags und ebenso das gemeinsame christliche Zeugnis in den irdischen Wirklichkeiten. "Da in heutiger Zeit die Zusammenarbeit im sozialen Bereich sehr weit verbreitet ist, sind alle Menschen ohne Ausnahme zu gemeinsamem Dienst gerufen, erst recht diejenigen, die an Gott glauben, am meisten aber alle Christen, die ja mit dem Namen Christi ausgezeichnet sind. Durch die Zusammenarbeit der Christen kommt die Verbundenheit, in der sie schon untereinander verbunden sind, lebendig zum Ausdruck, und das Antlitz Christi, des Gottesknechtes, tritt in hellerem Licht zutage. Diese Zusammenarbeit ... muß mehr und mehr verbessert werden... Das gilt sowohl für die Aufgabe, der menschlichen Person zu ihrer wahren Würde zu verhelfen, für die Förderung des Friedens, für die Anwendung des Evangeliums auf die sozialen Fragen, für die Pflege von Wissenschaft und Kunst aus christlichem Geist, wie auch für die Bereitstellung von Heilmitteln aller Art gegen die Nöte unserer Zeit, wie gegen Hunger und Katastrophen, gegen den Analphabetismus und die Armut, gegen die Wohnungsnot und die ungerechte Verteilung der Güter. Bei dieser Zusammenarbeit können alle, die an Christus glauben, unschwer lernen, wie sie einander besser kennen und höher achten können und wie der Weg zur Einheit der Christen bereitet wird." (UR 12) In dem am 25. März 1993 vom Päpstlichen Rat zur Förderung der Einheit der Christen herausgegebenen "Direktorium zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus" wird ein Strukturplan für die katholische Beteiligung auch an der sozialen ökumenischen Bewegung gegeben, der die nicht nur durch das Konzil vorgestellten, sondern auch im Codex rezipierten verfassungsrechtlichen Vorgaben auch für das sozial-politische Engagement der Kirchen entfaltet. Die Förderung und Leitung der ökumenischen Bewegung im weiten Sinn, an der Katholiken beteiligt sind, wird für die gesamte Kirche wie schon im Codex dem Apostolischen Stuhl und dem Bischofskollegium zugewiesen. Demgemäß liegt die primäre Zuständigkeit beim Papst und beim Bischofskollegium zusammen mit dem Papst als seinem Mitglied und Haupt. Die Zuständigkeit auf der ortskirchlichen Ebene liegt bei den Bischöfen als einzelnen oder in kollegialer Verbundenheit in ihrer Funktion als Ortsordinarien etwa auf der Ebene der Diözese oder der Bischofskonferenz. Normsetzungskompetenz weist das Direktorium verfassungsgemäß den für die Ortskirchen zuständigen Autoritäten, nämlich den Diözesanbischöfen zu. Beratend stehen ihnen Kommissionen zur Verfügung, zu denen neben Geistlichen auch Männer und Frauen mit dem Status des Ordensangehörigen oder des Laien als sachkundige Berater gehören. Diese Kommissionen können auf diözesaner, nationaler und internationaler Ebene tätig werden. Besonders erörtert wird auch die ökumenische Zusammenarbeit im sozialen und kulturellen Leben als ein Teil der kirchlichen Sendung für die Einheit der Kirche. In diesem Zusammenhang wird das II. Vatikanische Konzil in UR 12 zitiert. Bei dieser Art der Zusammenarbeit wird besonders hervorgehoben, daß sie "mit anderen Formen des Ökumenismus verbunden ist, besonders mit dem Gebet und geistlichem Miteinander, weil sonst die ökumenische Zusammenarbeit "sich leicht mit ideologischen oder bloß politischen Interessen vermengen und so zu einem Hindernis auf dem Weg zur Einheit werden" kann. Außerdem wird die Aufsicht darüber dem Ortsbischof bzw. der Bischofskonferenz zur Pflicht gemacht. Der Aspekt des Weltauftrags der Laien und ihres eigenverantwortlichen Umgangs mit den autonomen irdischen Wirklichkeiten tritt in diesen Bestimmungen zurück und die sozial-politischen Unternehmungen als solche werden an die kirchlichen Autoritäten, ihre Verantwortung und ihre hoheitliche Vollmacht gebunden, so daß sie als diejenigen erscheinen, die den unmittelbaren Weltauftrag wahrnehmen. Ein weiteres Kapitel ist der "Zusammenarbeit im gemeinsamen Studium sozialer und ethischer Fragen" gewidmet. Es geht dabei um die mögliche Konstituierung von Gruppen durch regionale und nationale Bischofskonferenzen, das heißt offiziell eingerichtete kirchliche Unternehmungen, "um christlichen oder grundlegenden menschlichen Werten gemeinsam Ausdruck zu geben", das heißt auch gemeinsame Erklärungen zu sozial-politischen Fragen zu verfassen. Das Ziel einer solchen "gemeinsamen Studie" sei die Förderung einer "christlichen Kultur", eine "Zivilisation der Liebe", der "christliche Humanismus" (P. Paul VI., P. Johannes Paul II.) und die sie konstituierenden Werte. Dies wird dann noch auf die Entwicklung und Bedürfnisse der Menschen, die Bewahrung der Schöpfung, die Medizin und den Gebrauch der sozialen Kommunikationsmittel hin konkretisiert. In diesem rechtskräftigen, das heißt für die katholische Kirche gesetzlich bindenden Ausführungsdekret über 30 Jahre nach dem II. Vatikanischen Konzil hat sich die Perspektive zur Wahrnehmung des Weltauftrags mittels ökumenischer Zusammenarbeit deutlich verschoben. Nunmehr zentriert sich alles um die kirchlichen Autoritäten, von der Pflicht der ganzen Kirche oder gar von der vornehmlichen Pflicht der Laien bezüglich des Weltauftrages ist nun nicht mehr die Rede, sie treten nur noch als Experten und Berater der kirchlichen Autoritäten in den Blick. Insofern verpflichtet der Codex allein den Apostolischen Stuhl und das Bischofskollegium (c. 755 § 1) sowie die Diözesanbischöfe (c. 383 § 3) als Träger jurisdiktioneller Vollmacht zur Förderung, Leitung und Unterstützung der Ökumene. Ihnen allein kommt in diesem Bereich Normsetzungs- und Verbindlichkeitskompetenz zu, die sich nun nicht mehr nur auf die orientierenden und konditionierenden Prinzipien sowie die kritischen Urteile zurückführen lassen, sondern dekretierenden Charakter haben, wobei den Beratern allenfalls ein Anhörungsrecht und Beteiligung an der Meinungsbildung zukommt, nicht aber ein wirkliches Beispruchsrecht bei Entscheidungen der kirchlichen Autoritäten. Das Kirchenrecht bietet im Hinblick auf das sozial-politische Engagement eine Kompetenzordnung, die sachlich und personal zugleich die berechtigende Anvertrautheit und verpflichtende Zuständigkeit auf der objektiven Ebene regelt und damit der Sache der Menschen dient. Theologische Prinzipien und kirchenrechtliche Bestimmungen zum sozial-politischen Engagement der Kirche Leitfrage: Kann die Kirche Politik betreiben bzw. wer kann in welcher Weise in der Kirche politisch tätig werden? 1. Die theologische Grundlegung durch das II. Vatikanische Konzil Im Kontext der Ekklesiologie des II. Vatikanischen Konzils geht es wesentlich auch um die sozial-politische Dimension der Kirche, die nicht nur mit der göttlichen Schöpfungsordnung, sondern auch mit dem Erlösungswerk Jesu Christi in Beziehung gesetzt ist. 1.1 Die zweifache Sendung der Kirche Das II. Vatikanische Konzil bestimmt die Sendung der Kirche in zweifacher Weise, das heißt bezogen auf das überzeitliche Heil der Menschen und die zeitliche Ordnung der Welt bzw. der Gesellschaft. Integraler Bestandteil der Heilssendung der Kirche ist auch die Präsenz und Wirksamkeit des Geistes Christi in der Welt. 1.2 Der Aufbau der zeitlichen Ordnung als Konsequenz der Heilssendung der Kirche Der kirchliche und der politisch-soziale Auftrag haben eine je eigene Zielsetzung, und zugleich ist der kirchliche Weltauftrag eine Konsequenz der religiösen Sendung der Kirche. 2. Die zeitliche Ordnung und die Autonomie der irdischen Wirklichkeiten Die zeitliche Ordnung umfaßt den gesamten politischen und sozio-kulturellen Lebenskontext der Menschen. Die Kirche erkennt die Autonomie der irdischen Wirklichkeiten und ihre Eigengesetzlichkeiten sowie die eigenverantwortliche Gestaltung dieser Wirklichkeiten durch die Menschen frei von jeder ideologischen Heteronomie an. Der Kirche und ihren Gliedern kommt es zu, an der zeitlichen Ordnung im Geiste des Evangeliums mitzuwirken. 3. Die Träger der Gestaltung der zeitlichen Ordnung Der kirchliche Weltauftrag setzt in der Kirche eine differenzierte Aufgaben- und Kompetenzzuweisung und eine kommunial und kooperativ relationale Aufgabenerledigung voraus. Die Kirche wird orientierend, konditionierend und korrigierend im Hinblick auf diese Aufgaben tätig. 3.1 Der unmittelbare Weltauftrag der Laien Den Laien kommt unmittelbar und eigentlich, wenn auch nicht ausschließlich, das heißt in direktem Kontakt mit den einzelnen Sachbereichen und in Gemeinschaft mit ihren Mitbürgern, der Aufbau der zeitlichen Ordnung zu, wobei sie autonom und sachgerecht die irdischen Wirklichkeiten zu beurteilen und in eigener Verantwortung im Geiste des Evangeliums zu gestalten haben. 3.2 Die mittelbare Funktion der Hirten bezüglich der zeitlichen Ordnung Die Papst, Bischöfen, Pfarrern etc. zukommende mittelbare Funktion im Hinblick auf die zeitliche Ordnung ist es, im prinzipiellen Bereich Orientierungen zu geben, das heißt aufzuzeigen, wie die irdischen Dinge und die menschlichen Einrichtungen nach dem Plan des Schöpfergottes auf das Heil der Menschen hingeordnet sind. Die Aufgabe der Hirten ist zudem, die Laien, die unmittelbar für den kirchlichen Weltauftrag tätig werden, zu konditionieren, indem sie sittliche und geistliche Hilfen bieten und als Seelsorger handeln. Papst und Bischöfen kommt als Zeugen und Lehrern des Glaubens der gesamten Kirche die Autorität und die spezifische Sendung im Namen Christi und der Kirche zu, die für die Kirche und alle ihre Glieder gleichermaßen geltende Verbindlichkeit der christlichen Sittenlehre auszusprechen, wobei den übrigen Gläubigen das Recht und bisweilen auch die Pflicht der freien Meinungsäußerung zum Wohl der Kirche zukommt. Die Geistlichen sollen die Ausübung des Weltauftrages der Laien anerkennen und fördern. Daraus ergibt sich ein Programm des kooperativen und relationalen Zusammenwirkens der Hirten und Laien in sozial-politischer Hinsicht. 4. Die rechtlichen Grundlagen zum sozial-politischen Auftrag der Kirche Der sozial-politische Auftrag kommt der ganzen Kirche als strukturell gegliederte Korporation zu. Kirchenrechtlich geht es um die Adressaten und Instanzen der Wahrnehmung des kirchlichen Weltauftrags und um ihr Zusammenwirken. 4.1 Der Weltauftrag als eine Zielsetzung der kirchlichen Sendung Heilsauftrag und Weltauftrag der Kirche sind zwei Zielsetzungen der einen kirchlichen Sendung und gehören zum grundrechtlich garantierten Anteilsanspruch, der keinem Getauften abgesprochen werden kann. Die Unterscheidung zwischen Geistlichen und Laien bedeutet die sakramental je unterschiedlich grundgelegte Weise der Beteiligung an der einen, in ihrer Zielsetzung zweifach bestimmten Sendung der Kirche in der Welt (vgl. cc. 204 § 1, 207 § 1, 1008). 4.2 Die Wahrnehmung des kirchlichen Weltauftrags durch die Laien Den Laien kommt die besondere Pflicht (officium peculiare), aber ebenso auch das Recht (ius) zu, die Ordnung der zeitlichen Dinge frei und eigenverantwortlich zu analysieren, zu beurteilen und zu entscheiden, dabei im Geist des Evangeliums zu gestalten und zu verbessern sowie bei der Besorgung der weltlichen Dinge ("res civitatis terrenae") Zeugnis für Christus abzulegen (vgl. cc. 225 § 2, 227). Dabei stehen sie in einer doppelten Bindung, nämlich ihre Handlungen im Geist des Evangeliums auszuführen und die vom Lehramt der Kirche vorgelegte diesbezügliche Lehre zu beachten. Der Gesetzgeber unterscheidet zwischen der eigenen Meinung ("sententia propria") im Bereich der freien Meinungsäußerung ("quaestiones opinabiles") und der einschlägigen Lehre der Kirche ("doctrina Ecclesiae"). 4.3 Die Aufgaben der Geistlichen hinsichtlich der Ausübung der kirchlichen Sendung der Welt Die Aufgaben der Geistlichen liegen nicht vornehmlich im Bereich der Wahrnehmung des kirchlichen Weltauftrags. Trotzdem haben sie diesbezüglich bestimmte Pflichten. Primär ist ihr Auftrag die Verkündigung des Evangeliums, aber der sozial-politische Bereich bleibt nicht ausgespart, denn die Heilsbotschaft ist auf den ganzen Menschen, die ganze Gesellschaft und die ganze Wirklichkeit bezogen und existiert nicht unabhängig vom Heilsauftrag. So haben die Geistlichen im Hinblick auf die Wahrnehmung des kirchlichen Weltauftrags durch die Laien unterstützende und durch ihre Verkündigung prinzipiell orientierende Funktion, wobei ihnen durch ausnahmslose Verbote oder Regelbestimmungen, die Ausnahmen im Hinblick auf eine politische Betätigung zulassen, deutliche Grenzen in diesem Kontext gesetzt sind. 5. Lehraussagen der Kirche zu sozial-politischen Fragen Der Kirche kommt als ganzer das Recht zu, für die soziale Ordnung ethische Prinzipien zu verkünden und Urteile über menschliche Belange zu fällen, wenn die Grundrechte der menschlichen Person oder das überzeitliche Heil der Menschen diese notwendig machen (vgl. c. 747 § 2). 5.1 Die Verkündigung sozial-ethischer Prinzipien und die Beurteilung der die Person und das Heil der Menschen betreffenden Belange durch die Kirche als ganze Dieser zweifache spezielle Bereich der Verkündigung ist sachlich eng auf prinzipielle Aussagen zur sozialen Ordnung bezogen, wie sie sich aus der Glaubenslehre der Kirche als Konsequenzen ergeben und aus den Grundsätzen der christlichen Soziallehre bestimmte Urteile der Kirche erfordern. 5.2 Die Zuständigkeit des Lehramtes der Kirche (magisterium Ecclesiae) in sozial-politischen Fragen Die Zuständigkeit des kirchlichen Lehramtes, sich sozial-politisch repräsentativ für die ganze Kirche zu äußern oder Urteile über menschliche Belange im Namen der Kirche begrenzt auf die sachliche Zuständigkeit zu fällen, ergibt sich aus der spezifischen Sendung und Rechtsstellung der Träger des kirchlichen Lehramtes, Papst und Bischöfe (vgl. cc. 749-754). Mit religiös begründetem Gehorsam, das heißt unter Respektierung des kirchlichen Lehramtes und seiner Äußerungen, werden die Gläubigen auch in diesen Belangen in eigener Verantwortung tätig (c. 212 § 1). Auf dem Weg der Kirche zur Meinungs- und Entscheidungsbildung gibt es konsiliare, synodale und kollegiale Formen des Zusammenwirkens (vgl. c. 212 §§ 2-3). 6. Die rechtliche Qualität ökumenischer Äußerungen zu sozial-politischen Fragen Im "Direktorium zur Ausführung der Prinzipien und Normen über den Ökumenismus" vom 25. März 1993 hat sich die Perspektive des Weltauftrags mittels ökumenischer Zusammenarbeit deutlich verschoben. Nunmehr zentriert sich alles um die kirchlichen Autoritäten, von der Pflicht der ganzen Kirche oder gar von der vornehmlichen Pflicht der Laien bezüglich des Weltauftrags ist nun nicht mehr die Rede, sie treten nur noch als Experten und Berater der kirchlichen Autoritäten in den Blick. Papst und Bischöfe gelten als Träger jurisdiktioneller Vollmacht zur Förderung, Leitung und Unterstützung der Ökumene. Ihnen kommt in diesem Bereich Normsetzungs-, Verbindlichkeits- und Sachkompetenz zu, wobei ihren Beratern ein Anhörungsrecht und Beteiligung an der Meinungsbildung zukommt. Das Kirchenrecht enthält im Hinblick auf das sozial-politische Engagement eine Kompetenzordnung, die sachlich und personal zugleich ist und die berechtigende Anvertrautheit und verpflichtende Zuständigkeit auf der objektiven Ebene regelt. Diskussion Prof. Dr. Konrad Hilpert dankt beiden Referenten für ihre Vorträge und stellt diese zur Diskussion. Weihbischof Prof. Dr. Reinhard Marx dankt Prof. Dr. Werbick ausdrücklich dafür, daß er die grundsätzliche Frage in den Mittelpunkt seiner Ausführungen gestellt habe, wie die Sozialprinzipien der Kirche auf ihren eigenen Organismus übertragen werden könnten und in diesem Kontext das Subsidiaritätsprinzip zu verstehen sei. Gewiß habe der Konsultationsprozeß insgesamt dazu beigetragen und dabei geholfen, in der Kirche Partizipationsstrukturen zu verlebendigen. Auch der Rezeptionsprozeß über das gemeinsame Wort selbst habe zusätzlich deutlich gemacht, daß tatsächlich ein innerkirchlicher Dialog stattgefunden habe und weitergehe. Dennoch halte er darüber hinaus eine größere, intensivere Partizipation aller am kirchlichen Leben Beteiligten auch in der Verkündigung und in lehramtlichen Äußerungen für wünschenswert. Von daher ergäben sich für ihn einige Anfragen auch im Blick auf den Vortrag von Frau Prof. Dr. Riedel-Spangenberger. So lägen dem Konsultationsprozeß wie auch dem Rezeptionsprozeß als zivilgesellschaftlichen Vermittlungen keine geregelten Verfahren beziehungsweise Kompetenzen der Meinungs- und Entscheidungsbildung zugrunde. Die Frage, die sich für ihn deshalb stelle, sei, ob und inwieweit eine Partizipation auf synodaler Basis möglich und erreichbar sei. Dabei sehe er eine grundsätzliche Spannung zwischen synodalen Strukturen innerhalb der Kirche und dem demokratischen Prinzip, das nicht ohne weiteres auf die Kirche übertragbar sei. Ebensowenig könne es angehen, daß jedes synodale Forum über jede kirchliche Fragestellung (Beispiel Zölibat) diskutieren und befinden könne. Es müsse insofern geregelte Zuständigkeiten geben. Die Übertragung des Subsidiaritätsprinzips auf den kirchlichen Organismus setze voraus, daß es solche geregelten Zuständigkeiten und Verfahren gebe. Ohne kirchenrechtliche Vorgaben halte er dies freilich nicht für möglich und erreichbar. Jedenfalls seien allgemeine Aufrufe zur Partizipation mit der Folge, daß jede Gemeinde und jedes Gremium seine jeweils eigenen Verlautbarungen erarbeite und verkünde, nicht weiterführend. Prof. Dr. Theodor Herr schließt sich dem grundsätzlich an und bemerkt ergänzend, aus dem Vortrag von Frau Riedel-Spangenberger sei deutlich geworden, daß es nicht nur eine eigene Zuständigkeit von Laien gebe, sondern daß diese vielmehr die Pflicht hätten, sich an kirchlichen Fragen und Angelegenheiten zu beteiligen. Bei allem Erfolg des Konsultationsprozesses, der in dieser Form Neuland beschritten habe, müsse nunmehr auf dem begonnenen Weg fortgeschritten werden. Insbesondere stelle sich die Frage, wo die Strukturen und Verfahren seien, in denen die Eigenzuständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Laien zum Ausdruck und zum Tragen kämen. Zweifellos sei das ZdK ein Gremium, das berechtigterweise autonom eigene politische Stellungnahmen abgebe. Er selbst hätte es für wünschenswert gehalten, wenn in dem gemeinsamen Kirchenwort zwischen Auftrag und Kompetenz der Bischöfe auf der einen und derjenigen der Laien auf der anderen Seite unterschieden worden und deutlich geworden wäre, daß und in welcher Weise der Sachverstand der Laien in wirtschaftspolitischen Fragen zum Ausdruck kommt. Prof. Dr. Jürgen Werbick erinnert in seiner Erwiderung daran, daß die Frage der Übertragbarkeit des Subsidiaritätsprinzips auf die Kirche sehr ausführlich im Anschluß an die Würzburger Synode unter Beteiligung dreier maßgebender Theologen, die jetzt Bischöfe seien, diskutiert worden sei. Diese hätten sehr vehement dafür gestritten, diese Übertragbarkeit im Rahmen der hierarchischen Verfassung der Kirche zu prüfen und auch bis zu einem gewissen Grad zu institutionalisieren. Darauf seien zwar Perspektiven in diese Richtung eröffnet, aber noch keine klaren Zuständigkeiten konkretisiert worden, was seines Erachtens auch nicht eigentlich Sinn dieses Prinzips sein könne. Vielmehr komme es darauf an, die gegenseitige Begrenzung von Zuständigkeiten und die Berücksichtigung dessen im Blick zu haben, was der jeweils andere in eigener Kompetenz zu leisten vermöge. Ob und inwieweit es dabei juristischer Normierungen bedürfe, sei eine offene Frage. Konkret stelle sich das Problem, wie weit eine wünschenswerte Partizipation bis hin zu sehr konkreten Entscheidungsmitwirkungen einschließlich eventueller rechtlicher Regelungen gefaßt sein könne und solle. Für entsprechende Überlegungen, die nicht als Demokratisierungserscheinungen denunziert werden dürften, gebe es ein weites Feld der Konkretisierung synodaler Erfahrungen. Bei der Suche nach Mitgestaltungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten könne selbstverständlich auch auf demokratische Erfahrungen im institutionellen staatlichen und zivilgesellschaftlichen Bereich zurückgegriffen werden. Prof. Dr. Ilona Riedel-Spangenberger hält in Ergänzung hierzu den Umgang mit dem Kirchenrecht in diesem Zusammenhang für insgesamt ambivalent: Mit der Reformierung des Kirchenrechts durch die Bischofssynode 1967 sei zwar grundsätzlich und auch ausdrücklich das Subsidiaritätsprinzip innerkirchlich rezipiert worden. In der Folgezeit sei es dann aber nur ansatzweise aufgegriffen worden und zum Tragen gekommen. Zwar sei die Diözesansynode ein Organ, in dem Subsidiarität und Synodalität praktiziert werden könnten. Jedoch machten die deutschen Bischöfe insbesondere in jüngster Zeit von diesem rechtlich geregelten Instrument eher zurückhaltend Gebrauch und wählten statt dessen die Form des Diözesanforums, in dem die Ergebnisse eher unverbindlich blieben. Obwohl dadurch viele Frustrationen aufkämen, erwarteten andererseits viele der Bischöfe, darunter auch solche, die ein größeres Maß an Partizipation einforderten, daß sie allein für die Kirche sprächen. Insoweit sei in struktureller Hinsicht eine gewisse Schieflage eingetreten. Auf der anderen Seite diskutierten vor allem Kirchenrechtler die Frage, wenn auch mehr in theoretischer Hinsicht, wie man synodale Verfahren in der Kirche auch strukturell ausgestalten könne. Dabei komme jeweils schnell das Argument auf, es müßten unter dem Stichwort Demokratisierung der Kirche säkulare Institutionen adaptiert werden. Dem werde dann aber sofort wieder entgegengehalten, die Kirche sei eine societas sui generis, die keine Gewaltentrennung und -kontrolle, Grundprinzipien der Demokratie, kenne. Wenn diese Prinzipien auf die Kirche aber nicht anwendbar seien, seien auch alle weiteren kirchenrechtlichen Bemühungen aussichtslos, irgend etwas auszugestalten. Um so mehr sei man im Kirchenrecht auf theologische Vorgaben angewiesen. Auch was den sensus fidelium angehe, sei dieser nur ansatzweise im II. Vatikanischen Konzil ausformuliert. Insbesondere fehle es an notwendigen strukturellen Vorklärungen. In der kirchlichen Praxis gebe es seit dem II. Vatikanischen Konzil vielmehr insoweit eine Dilemmasituation, als sich kirchliche Meinungsäußerungen in erster Linie auf die kirchlichen Autoritäten fokussierten. Davon sei nicht zuletzt auch die evangelische Kirche nicht ausgenommen, bei der die Kirchenleitungen immer häufiger für sich in Anspruch nähmen, für die evangelische Kirche zu sprechen und damit das Synodalprinzip faktisch unterliefen. Die entscheidende Frage sei, um welche Sachanliegen es bei solchen Äußerungen gehe. Handele es sich um reine Sachfragen, sei es unschädlich, wenn sich gelegentlich auch einzelne Kirchengemeinden politisch äußerten, solange sie jedenfalls nicht für sich in Anspruch nähmen, für ihre Diözese oder die Gesamtkirche zu sprechen. An solche Entwicklungen müsse man sich gewöhnen. Prof. Dr. Marianne Heimbach-Steins greift die Aussage von Prof. Dr. Werbick über die Zuständigkeit der einzelnen christlichen Gemeinschaften im Sinne von Octogesimo adveniens auf und gibt zu bedenken, daß danach die Suche nach Lösungen für sozialethische Probleme in erster Linie in die Zuständigkeit der einzelnen christlichen Gemeinschaften, das heißt vor allem der Ortskirchen gelegt werde, während es im Blick auf die päpstliche lehramtliche Zuständigkeit von einer gewissen Selbstbegrenzung ausgehe. Insofern gebe es für die Realisierung des Subsidiaritätsprinzips durchaus Ansatzpunkte. Im Bewußtsein dieser Ambivalenzen sei das gemeinsame Wort deshalb auch im Zusammenhang mit ortskirchlichen Suchprozessen besonders wertvoll. Dr. Thomas Sternberg sieht in der Entwicklung der Diözesanforen gleichfalls eine mißliche Situation, weil ihre eigentliche Bedeutung im unklaren bliebe und sie ein merkwürdiges Feld an Unverbindlichkeiten darstellten. Insofern halte auch er klarere kirchenrechtliche Strukturen für wünschenswert. In einer demokratischen Gesellschaft müsse es im übrigen möglich und erlaubt sein, auf allen Ebenen Meinungsbildungsprozesse zu führen. Im Blick auf das Zustandekommen des gemeinsamen Wortes und seine Verantwortung durch die deutschen Bischöfe auf katholischer und den Rat der EKD auf evangelischer Seite wirft er die Frage auf, ob es eines den Diözesanräten vergleichbaren Gremiums auf nationaler Ebene bedürfe, um auch katholischerseits solche Texte auf einer synodalen Grundlage vorbereiten und verabschieden zu können. Nach dem bisher Gehörten hätten auch die Laien in theologischer und kirchenrechtlicher Hinsicht einen besonderen Weltauftrag. Auch hätten sie weitestgehend das Papier als Autoren erarbeitet. Verantwortet werde es jedoch allein von den Bischöfen. Bei der EKD gebe es demgegenüber eine solche synodale Grundlage. Zwar hätte die Möglichkeit bestanden, auf katholischer Seite das ZdK mit einzubinden und zu beteiligen. Eine synodale Grundlage wäre damit aber keineswegs verbunden gewesen, abgesehen davon, daß die drei Gremien nach Aufgaben, Zuständigkeiten, Struktur und Entscheidungsabläufen zu unterschiedlich seien, als daß von ihnen Meinungsäußerungen dieser Art erwartet werden könnten. Von daher stelle sich in der Tat die Frage, ob auf nationaler Ebene ein gemeinsames Diözesanrat-ähnliches Gebilde geschaffen werden solle. Prof. Dr. Jürgen Werbick räumt auf den Beitrag von Frau Prof. Dr. Heimbach-Steins ein, daß es hinsichtlich des sozialethischen Theoriebildungsprozesses tatsächlich eine ansatzweise Neubestimmung des Subjekts der kirchlichen Lehrverkündigung gebe. Als Dogmatiker und Fundamentaltheologe sei er jedoch allergisch dagegen, zwei Denkmodelle, ein konzentrisches und ein Bereichsmodell, ineinander zu komponieren. Wie Frau Prof. Riedel-Spangenberger dargelegt habe, unterscheide das Kirchenrecht sehr deutlich kirchliche Heilssendung und Weltauftrag und zwar auch insofern, als kirchliche Lehrtexte, von Randunschärfen einmal abgesehen, eine eindeutige Zuordnung zu Priestern und Laien vornähmen. Bei der sozialethischen Verkündigung, die nicht unbedingt im Zentrum der kirchlichen Verkündigungstätigkeit stehe, sei es durchaus denkbar und möglich, daß auch Laien in einer ganz bestimmten Weise zum Mitsubjekt der kirchlichen Verkündigung werden könnten. Indessen machten ihm diese sehr häufig zusammen gesehenen Überlagerungsmodelle in gewisser Hinsicht Probleme. Denn theologisch müsse man den spezifischen Weltcharakter der Laien jedenfalls in gewisser Hinsicht in Frage stellen. In Frage stellen müsse man darüber hinaus auch das konzentrische Modell der Unterscheidung von Heils- und Weltsendung. Schon Yves Congar habe bezüglich der Weltsendung der Kirche gesagt, es sei ihre Sendung, sie in das Reich Gottes zu verwandeln. Dies bedeute aber eine sehr tiefe Einheit von Heilssendung und Weltauftrag. Prof. Dr. Ilona Riedel-Spangenberger hält es bei aller Anerkennung einer Unterscheidung zwischen Heils- und Weltauftrag für besser, von der einen Sendung der Kirche auszugehen und dabei die unterschiedlichen Zielsetzungen in den Blick zu nehmen. Über den Weltauftrag hinaus habe die Kirche noch weitere Aufträge, bei denen es darauf ankomme, wie diese sich zueinander verhielten und wer dafür zuständig sei. Faktisch gebe es bereits vielfältige Formen kooperativer Meinungsbildung unter Beteiligung auch von Laien wie zum Beispiel in den bischöflichen Kommissionen. Das Problem sei, daß viele sich in den Entscheidungen der kirchlichen Hierarchie nicht mehr wiedererkennen würden und es an einem rechtlichen Instrumentarium fehle, um auf der Sachebene aufgetretene Kontroversen und Dissense dialogisch aufzuarbeiten. Deshalb plädiere sie dafür, daß es Sache der Laien sei, die Sachlage zu analysieren und darüber auch zu urteilen, daß dies aber kein Sprechen im Namen der Gesamtkirche bedeuten könne. Dies müsse viel bewußter gemacht werden, um weitere Spaltungen in der Kirche gerade in sozialen und politischen Fragen zu vermeiden. Gerade in Dokumenten wie dem gemeinsamen Wort sollte man sich deshalb darum bemühen, daß es bei den politischen Aussagen um Sachanalysen gehe, bei denen man durchaus unterschiedlicher Meinung sein könne. Wenn es demgegenüber um Grundprinzipien, wie zum Beispiel die Menschenrechte, oder um grundlegende Wahrheiten der Offenbarung gehe, könne im Namen der Kirche nur von der Hierarchie gesprochen werden. Andererseits müsse gleichermaßen anerkannt werden, daß sich die Kirche auch zu politischen Fragen äußert. Unter Hinweis auf das Communio-Modell unterstreicht Frau Prof. Dr. Riedel-Spangenberger noch einmal, daß die verschiedenen Kompetenzen innerhalb der Kirche nicht isoliert voneinander, sondern aufeinander zugeordnet zu betrachten seien und die Meinungs- und Entscheidungsbildungsverfahren bei kirchlichen Äußerungen in kooperativen Formen abliefen. Es bedürfe insoweit sowohl der Ausgestaltung solcher Verfahren wie auch der Schaffung von Gremien und Instanzen, in denen Dissense und Kontroversen im Dialog behandelt und einer Klärung zugeführt werden könnten. Dr. Gerhard Kruip sieht ebenfalls große theologische Probleme in dem Dualismus von Heilsdienst und Weltdienst beziehungsweise einer daran anknüpfenden unterschiedlichen Aufgabenzuordnung von Klerus und Laien. Tatsächlich sei dieser Dualismus ein Bollwerk gegen den Integralismus. Möglicherweise komme es dann überhaupt nicht mehr auf eine Unterscheidung von Heil und Welt an, wenn es gelinge, den Laien in der Kirche in bezug auf die Weltgestaltung ein größeres Maß an Freiheit zuzugestehen und für bestimmte Funktionen und Aufgaben demokratischere Auswahl- und Entscheidungsverfahren zu entwickeln. Prof. Dr. Franz-Xaver Kaufmann plädiert bei der Diskussion um das Subsidiaritätsprinzip dafür, deutlicher zwischen Fragen der Doktrin beziehungsweise der praktischen Entscheidungsfindung in der Kirche zu unterscheiden. Alles, was mehr oder weniger dem Bereich der Doktrin zuzuordnen sei, sei letztlich keine Frage von Mehrheitsentscheidungen in der Kirche. Selbstverständlich müsse es auch insoweit spezifische Formen der Meinungs- und Entscheidungsbildung geben; unbestritten sei jedoch, daß diese Fragen in die kirchliche Amtszuständigkeit im engeren Sinne fielen. In anderen Fragen, wie beispielsweise hinsichtlich der Bestimmung von Finanzmitteln, sei nicht einsichtig, daß partizipatorische Strukturen und Entscheidungen nicht ebenso effektiv und auch legitim sein könnten. Die alleinige Kompetenz der Bischöfe sei insoweit also durchaus zu hinterfragen. Das Synodalprinzip oder das alte genossenschaftliche Organisationsprinzip der Orden könnten für solche Entscheidungsprozesse Modellcharakter haben. Was den Erfolg beziehungsweise die Akzeptanz des Konsultationsprozesses und des gemeinsamen Wortes angeht, führt ihn Prof. Dr. Kaufmann nicht zuletzt darauf zurück, daß es der als so hierarchisch verschrieenen katholischen Kirche gelungen sei, einen Partizipationsprozeß in Gang zu setzen, der in einer Art rechtsfreiem Raum ein großes und vielfältiges Maß an sozialer Phantasie freigesetzt habe. Eine weitere Ursache für diesen Erfolg sei es gewesen, daß die beiden großen Kirchen diesen Prozeß gemeinsam in Gang gesetzt hätten. In kirchenrechtlicher Hinsicht sei das Ganze letztlich irrelevant. Weil das Vorhaben mit Überraschungseffekten verbunden gewesen sei, lasse es sich nicht beliebig wiederholen. Artur Biesalski sieht erhebliche Diskrepanzen in einer rein akademischen Betrachtung der beiden Grunddimensionen von Heils- und Weltauftrag als Einheit auf der einen und der pastoralen Wirklichkeit in den einzelnen Kirchengemeinden auf der anderen Seite. Bei den verschiedenen Diskussionsveranstaltungen über das gemeinsame Wort habe er immer wieder zu hören bekommen, daß die Verkündigung des Evangeliums die vorrangige Aufgabe der Kirche sei, dazu selbstverständlich aber auch der Dienst an der Welt oder in der Welt gehöre. Dieser Dienst und diese Aufgabe seien dann aber jeweils immer wieder schnell den Verbänden, der Caritas oder den Kategorialseelsorgern zugewiesen worden. Eine ganzheitliche Betrachtung und Vorgehensweise sei dabei nur in den seltensten Fällen und ausnahmsweise zustandegekommen. Vielfach sei das gemeinsame Wort nicht einmal zur Kenntnis genommen worden, auch nicht in seinen zentralen biblischen, theologischen und sozialethischen Ansätzen. Tatsächlich finde in den Gemeinden lediglich noch eine reduzierte Theologie statt, die im wesentlichen auf die Gottesdienstgestaltung ausgerichtet sei. Der dritte Pfeiler, die Diakonie, werde neben Verkündigung und Liturgie bedauerlicherweise gleichfalls stark vernachlässigt. Wenn es gelänge, hier zu Änderungen und Verbesserungen zu kommen, wäre viel gewonnen. Prof. Dr. Konrad Hilpert erinnert zum Schluß der Diskussion daran, in beiden Vorträgen sei die Kompetenzfrage in den Mittelpunkt gerückt worden. An Prof. Dr. Werbick gerichtet stellt er die Frage, ob die von ihm emphatisch zum Ausdruck gebrachte Zeugniskompetenz in etwa der Suche nach einem neuen Konsens gleichstehe, den das gemeinsame Wort postuliere, oder ob insoweit sogar Spannungen bestünden. Im Blick auf die von Frau Prof. Dr. Riedel-Spangenberger in den Vordergrund gestellten Zuständigkeits- und Strukturfragen fragt er, ob das mit dem Konsultationsprozeß und der Vorbereitung des gemeinsamen Wortes eingeschlagene Verfahren rechtlich qualifizierbar sei oder ob es sozusagen experimentell im luftleeren Raum stattgefunden habe. Prof. Dr. Jürgen Werbick bestätigt in seiner abschließenden Erwiderung zu den aufgeworfenen Fragen, die Thematik Heils- beziehungsweise Weltauftrag sei in der Kirchen- und Dogmengeschichte vielfältig traktiert worden, wobei zumindest zwei wichtige verschiedene Funktionen im Vordergrund gestanden hätten. Zum einen sei es darum gegangen, den geistlichen Bereich gegenüber dem weltlichen zu profilieren und den Laien die Zuständigkeit für das Weltliche und den Priestern für das Geistliche zuzuordnen. In den kirchenrechtlichen Texten des hohen Mittelalters sei dies immer wieder neu ausformuliert worden. Ausgehend von den in den zwanziger Jahren im Zusammenhang mit der Katholischen Aktion begonnenen Diskussionen plädiere er für eine Überprüfung dieses Dualismus, wenn es denn einer gewesen sei, und zwar dahingehend, wer mit welchen Intentionen für welches Ganze stehe, spreche und eintrete. Dabei gehe es nicht darum, das Horizontale und Vertikale zu vermengen, zumal sich aus den Gründungsgeschichten des Christentums, der Reich-Gottes-Botschaft Jesu ein einheitlicher Verkündigungsinhalt ergebe, der nicht auseinanderdividiert werden dürfe. Im einzelnen bedürfe diese Aussage der inhaltlichen Konkretisierung; dafür sei jetzt aber nicht die Zeit. Was das Subsidiaritätsprinzip angehe, sei es seiner Ansicht nach eher auf die konkreten Entscheidungsfindungprozesse zu beziehen, während Partizipation mehr Fragen der Doktrin umgreife. Dies herauszustellen, sei seine Intention gewesen. In ekklesiologischer Hinsicht gehe es bei dem einen Aspekt mehr um das Problem der Leitungsvollmacht, bei dem anderen um den der Lehrvollmacht. Die angestellten Überlegungen, zwischen einer Zeugniskompetenz und einer Kompetenz in der Suche nach konkreten Lösungen in sozialen Fragen zu unterscheiden, bereiteten ihm einige Schwierigkeiten, da es systematisch-theologisch, dogmatisch und fundamentaltheologisch noch keinen ausgereiften Begriff der Zeugniskompetenz gebe. Insbesondere gelte dies hinsichtlich des Wurzelzusammenhangs von Lehre, Sozialethik und von Konsensfindungsprozessen in diesem Bereich. Hier wären erst noch die "Hausaufgaben" zu machen. Prof. Dr. Ilona Riedel-Spangenberger führt ergänzend aus, daß sich selbstverständlich auch das Kirchenrecht mit Kompetenz-, auch mit Zeugniskompetenz- und Konsensfragen befasse. Bezogen auf den Konsultationsprozeß und die Vorbereitung des gemeinsamen Wortes sei es in dreierlei Hinsicht um Kompetenzfragen gegangen: Zum einen sei zunächst die Sachkompetenz gefragt gewesen, sodann die Glaubenskompetenz beziehungsweise auch Zeugniskompetenz der Kirche, und schließlich die Kompetenz beziehungsweise Zuständigkeit hinsichtlich der Repräsentanz und Verantwortung für dieses Dokument selbst. Diese drei Verfahrensprägungen stünden bisher noch immer unverbunden nebeneinander. Die Frage sei, ob und inwieweit es gelinge, für vergleichbare Vorhaben rechtlich geregelte Verfahren zu entwickeln, um die Konflikte, die solche Vorhaben erzeugen, auf ein Minimum zu reduzieren. Das Instrumentarium, auf das dabei zurückgegriffen werden könne, sei vorhanden. Es gehe darum, transparente Strukturen und Verfahren vorzusehen. Geschehe dies nicht, setzte sich die Meinung derer durch, die gerade beteiligt seien und deren Auswahl eher zufällig und willkürlich getroffen wurde. Demgegenüber müsse in rechtlicher Hinsicht von vorneherein klar sein, wer sich mit welchem Grad der Verbindlichkeit als Kirche äußere. Bedauerlicherweise habe man das Recht nach dem II. Vatikanum in erster Linie nur determinierend und dekretierend erfahren. Nicht zuletzt deshalb habe man sich in der Kirche mit der Kategorie Recht nur ansatzweise auseinandergesetzt und auch die Frage von Recht und Ethik zu wenig reflektiert. ------------------------------------------------------------------------------------- Wortmeldungen zur Veranstaltung insgesamt Prof. Dr. Konrad Hilpert eröffnet im Anschluß an diese Aussprache die Möglichkeit, sich zu der Tagung insgesamt zu äußern. Dr. David Seeber wendet sich nachdrücklich dagegen, ständig nach bestimmten Institutionen und Verfahren zu rufen. Er erinnert an die Zeit des II. Vatikanums und unmittelbar danach, als es bei anstehenden Codex-Reformen darum gegangen sei, die Rechte und Zuständigkeiten von Laien bis ins Detail hinein regeln zu wollen. Er habe schon damals eingewandt, daß er sich in der Kirche nur so lange wohlfühle, wie er als Laie paragraphenmäßig nicht oder möglichst wenig erfaßt sei. Die seither ausgetragenen Konflikte und aufgebrochenen Meinungsverschiedenheiten bestätigten ihn auch heute noch in dieser Meinung. Zum gemeinsamen Wort und zu dem ihm vorausgegangenen Konsultationsprozeß erkenne er den großen Vorteil gerade in der Informalität des Prozesses, wobei er sich durchaus auch andere Verfahrensvarianten vorstellen könne. Insbesondere gelte dies hinsichtlich der Streitpunkte, wer das Dokument erarbeitet und wer es verantwortet habe. Vor dem Hintergrund dieser Streitfrage halte er eine Variante für vorstellbar, daß bei vergleichbaren Vorhaben über Äußerungen in wirtschafts- oder sozialpolitischen Fragestellungen einzelne Gruppen aufgrund ihrer spezifischen Fachkompetenz, sei es aus Spontaneität oder Eigeninitiative, bestimmte Themen und Fragestellungen auch in ihren Aspekten und Richtungen aufgreifen und Vorschläge entwickeln. Amtlicherseits könnte und sollte dieser Meinungsbildungsprozeß nach Art eines präsidialen Systems abgewartet werden, um sich im Anschluß an diesen Reifeprozeß dann amtlicherseits zu den aufgeworfenen Fragen und Problemstellungen zu äußern. Doris Michalke weist nachdrücklich den zu Beginn der Tagung massiv erhobenen Vorwurf einer Status-quo-Orientierung des gemeinsamen Wortes zurück und bittet darum, mit dem Wort in dieser Hinsicht bei den weiteren Auseinandersetzungen gründlicher und sorgfältiger umzugehen. Insbesondere führe schon ein Vergleich der ursprünglichen Diskussionsgrundlage mit dem auf der Grundlage des Konsultationsprozesses verabschiedeten gemeinsamen Wort zu einem gegenteiligen Ergebnis. Schon die Hinweise auf die nicht ausgeschöpften Potentiale zivilgesellschaftlicher Bewegungen, von den Frauenbewegungen bis hin zu den Umwelt- und Friedensbewegungen, sowie die Erneuerung der Sozialkultur hätten ihr sehr viel Mut gemacht und seien keineswegs status-quo-orientiert. Sie greift sodann noch einmal das bezüglich der Sozialethik in die Diskussion eingeführte Bild vom Kutter auf und meint, treffender sei das Bild eines großen Ozeandampfers, der von Lotsen- und Schleppbooten dirigiert und bugsiert werde. Hätten bisher noch Begriffe wie Personalität und Subsidiarität oder Solidarität die Richtung angegeben, seien es nach dem gemeinsamen Wort Begriffe wie der der Nachhaltigkeit, die eine neue Schubkraft entwickelten. Prof. Dr. Hans Günter Ulrich kommt auf die Frage zurück, ob das Verfahren beim Zustandekommen des gemeinsamen Wortes mit dem vorausgegangenen Konsultationsprozeß wiederholbar sei oder nicht und was als wiederholbar eigentlich wünschenswert sein könne. Nach seinen Erfahrungen und seiner Bewertung des Prozesses habe die Bedeutung des Konsultationsprozesses vor allem darin gelegen, daß in einem generell als leergefegt zu bezeichnenden öffentlichen Raum unabhängig und außerhalb der Medien Themen aufgegriffen und diskutiert worden seien, die einen erheblichen sachlichen Erkenntniswert für politisches Handeln gehabt hätten. Deshalb halte er bei solchen Papieren eine Unterscheidung zwischen ihrem Verbindlichkeitsgrad und ihrem Erkenntniswert für wünschenswert, wobei der Verbindlichkeitsgrad nicht unbedingt ausschlaggebend sein müsse. Viel wichtiger sei, daß gesellschaftliche Grundfragen umfassend öffentlich diskutiert würden. Eine Wiederholung des Vorhabens halte er deshalb unter diesem Aspekt für vorstellbar und wünschenswert. Prof. Dr. Ulrich sieht abschließend die Chancen, ökumenisch zu arbeiten, im Blick auf die von Frau Prof. Dr. Riedel-Spangenberger zur Diskussion gestellten Ökumene-Bestimmungen eher skeptisch. Weihbischof Prof. Dr. Reinhard Marx äußert sich erfreut und dankbar über Verlauf und Ergebnis der Studientagung. Auch bewertet er das gemeinsame Wort mit dem vorausgegangenen Konsultationsprozeß als einen außerordentlichen Erfolg, der dazu geführt habe, daß Sozialethik und Sozialbewegung wieder an Schwung gewonnen hätten. Weniger glücklich sei er darüber, daß es nicht gelungen sei, die Aussagen und Anliegen des gemeinsamen Wortes differenziert in ihren unterschiedlichen ethischen Orientierungen und sachpolitischen Empfehlungen der einzelnen Kapitel wahrzunehmen. Die normativen Aussagen der Kapitel 3 und 4 könnten nicht mit derselben Latte gemessen werden wie die fachlichen und sachlichen Feststellungen und Empfehlungen der übrigen Abschnitte. Besonders bedauerlich sei, daß Sozialethiker und Ökonomen nicht insoweit unterschieden. Was die Frage der Wiederholbarkeit angehe, sei er der Meinung, daß die Kirche künftig nicht mehr hinter den Erfahrungen des gemeinsamen Wortes zurückbleiben könne. Über die Durchführung vergleichbarer Vorhaben und Prozesse sowie die dabei zu beachtenden Formalitäten müsse deshalb weiter nachgedacht werden. Auch bei dem abgelaufenen Konsultationsprozeß habe es eine Reihe von Formalien mit einem Minimum an Verfahrensregelungen sowie organisatorischen Grundlagen gegeben, auf denen weiter aufgebaut werden könne. Der Konsultationsprozeß habe der Kirche insgesamt einen Weg der Begegnung und des Dialogs in der modernen Gesellschaft eröffnet, der weiter beschritten werden solle. Dazu gehörten auch die außerordentlich guten und positiven ökumenischen Erfahrungen. Es sei gelungen, eine kurz zusammengefaßte ökumenische Soziallehre zu entwickeln. Auf Weltebene gebe es keinen vergleichbaren Text mit einem solchen Inhalt und Verbindlichkeitsgrad. Prof. Dr. Karl Gabriel sieht den außerordentlichen Erfolg des Konsultationsprozesses und des Zustandekommens des gemeinsamen Wortes vor allem darin, daß es gelungen sei, drei Ebenen miteinander in einer intensiven Kommunikation und einem Meinungsaustausch zusammenzuführen, die Christen vor Ort in ihrer Glaubenspraxis und in ihrer jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Verantwortung, die kirchliche Sozialverkündigung sowie als Verbindungsglied zwischen diesen beiden Ebenen die Sozialethik und Wissenschaft. Jenseits aller kirchenrechtlichen Grenzen halte er es für unverzichtbar, diesen Impuls mit der Vernetzung dieser drei Ebenen fortzusetzen. Ministerialdirigent a.D. Elmar Remling gibt zu bedenken, die Kirche sei nach dem bestehenden Staats-Kirche-Verhältnis in den politischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozeß in gleicher Weise eingebunden wie die übrigen gesellschaftlichen Gruppen und Verbände auch. Dem entspreche umgekehrt der Anspruch der Kirche, bei der Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse mitzuwirken. Dieser Auftrag werde von der Amtskirche wahrgenommen. Im einzelnen werde für sie bei solchen politischen Abstimmungsprozessen das Katholische Büro in Bonn tätig. Die Kirche sei in Deutschland als Körperschaft des öffentlichen Rechts mit einem verfassungsgemäßen Auftrag im Grundgesetz verankert. Es liege in der Natur der Sache, daß für sie sich diejenigen Organe politisch verantwortlich äußerten, die dazu berufen seien, nämlich Bischofskonferenz und bischöfliche Kommissionen. Den politischen und staatlichen Instanzen stehe deshalb im Grunde die kirchliche Amtsautorität gegenüber. Entscheidungen auf dieser Ebene ließen sich schwerlich mit ihnen vorausgehenden oder sie legitimierenden demokratischen Verfahren der Beteiligung und Abstimmung vereinbaren. Prof. Dr. Konrad Hilpert dankt zum Ende der Aussprache den Referenten und Diskussionsteilnehmern für ihre Beiträge. ------------------------------------------------------------------------------------- Bischof Dr. Josef Homeyer: Schlußwort Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir stehen am Ende unserer Studientagung "Kann Kirche Politik möglich machen?". Gestatten Sie mir abschließend einfach einige Bemerkungen, Anmerkungen. Zu Beginn der Tagung sprach ich gestern von der ekklesiologischen Schlüsselstellung der Sozialethik. Ich dachte das natürlich auch als Ermutigung und bin nun, am Ende unserer Tagung selber ermutigt. Die ekklesiologische Schlüsselstellung der Sozialethik ist auf dieser Tagung in äußerst dichter Weise in allen Beiträgen und Diskussionen anschaulich geworden. In der Tat ging es ja nicht nur um eine konventionalistisch eingeengte Perspektive sozialethischer Diskussion, sondern um eine Standortbestimmung des Christentums in dieser Gesellschaft. Die Pole der gesellschaftlich-politischen Diskussion, die unsere Debatte gestern und heute mit dem ihnen eigenen Magnetismus prägten, waren "Markt" und "Zivilgesellschaft". Die doch allzu groben Etikettierungen, die Kirchen seien entweder die "strukturkonservativen Verteidiger des status quo" oder auf der anderen Seite die "Systemwechsler", die den Ausstieg in die privatisierte Religion tarnen, treffen beide nicht, auch wenn diese Etiketten kritische Indikatoren für die äußerst produktive Spannung der Kontexte "Sozialethik-Gesellschaft" und "Sozialethik-Kirche" sind. Gerade deshalb - aus der produktiven Spannung unterschiedlicher Diskurse - kann, so glaube ich, Kirche mindestens katalytisch Politik möglich machen. Sie leistet nämlich aus dieser Spannung einen Beitrag zur Standortbestimmung der Politik in der Gesellschaft. Die scheint mir nämlich mindestens ebenso im Übergang wie die Standortbestimmung des Christentums. Worin besteht dieser katalytische Beitrag? Die Kirche widersteht mit ihrer Sozialethik auch der Erledigung von Politik, indem sie darauf pocht, daß die politische Praxis sich an ethischen Fragen nicht vorbeischleicht: Weder die Zivilgesellschaft noch der Markt nimmt der Politik Fragen ethischer Orientierung ab. Wo Kirche diese Orientierungen einbringt, ermöglicht sie Politik. Das Programm der demokratischen Aufklärung, der demokratischen Neugründung des Sozialstaates, das Dubiel entfaltete, ist ohne grundlegende ethische Orientierungen und das fermentierende Vorbild nicht zu haben, zumal das politische Spiel im Pluralismus - ob in Markt oder Zivilgesellschaft - ja nicht schlechthin die Affirmation von Humanität bedeutet. Kirchen können nicht schon deshalb Politik möglich machen, weil sie sich im Besitz der Wahrheit meinen. Sie können Politik möglich machen, weil sie die Spannung von "theologischer" Herkunft und weltlicher "Aufgabe", gleichsam die holistische Erinnerung in fragmentierter Welt, nicht aufgeben. Diese Treue zur Herkunft braucht, so ist mir deutlich geworden, neue Formen der Einmischung in den politischen Prozeß: Ein sacramentum mundi, das sich auf das experimentum mundi nicht einläßt, wird zur blutleeren Fassade. Die Tagung hat deshalb wohl immer wieder den Konsultationsprozeß als zivilgesellschaftliches Experiment, das die Innengestalt der Kirche, ihre Theologie und ihre Verkündigung verändern kann, hervorgehoben und Werbicks Ausführungen signalisieren ein reichliches Entwicklungspotential. Kirche kann Politik katalytisch möglich machen. Sie kann aufklären, Anwaltschaft übernehmen, ideologisch intervenieren und Orientierung anbieten. Dabei wird sie alte institutionelle Arrangements ergänzen müssen durch mehr zivilgesellschaftliche. Institutioneller Systemwechsel wäre meines Erachtens politische Romantik mit der Tendenz, politische Konflikte aufs übersichtlich-zivilgesellschaftliche Maß zu verkleinern. Herr Professor Ebertz hat seine Ausführungen gewiß nicht so gemeint! Neue Formen der Einmischung, neue Sprachen der Einmischung müssen gefunden werden. So richtig und wichtig es ist, daß unsere Sprache auch von denen verstanden werden muß, die unsere religiösen Grundüberzeugungen nicht teilen, so richtig ist meiner Meinung nach auch, daß wir eine neue oder besser erneuerte Theologie im Rücken der sozialethischen Verkündigung brauchen. Müssen nicht insbesondere Sozialethik und Fundamentaltheologie enger zusammen gesehen werden, wie Höhn betonte? Auf der Suche nach neuen Formen politischer Einmischung und sozialethischer Bildungsverkündigung waren diese beiden Tage für mich Anschub. Vertrauen wir auf die Sensibilität der Sozialethiker auch für einen kirchlichen und theologischen Aufbruch! Dank an die Damen und Herren, die referiert, vorbereitet und diskutiert haben; Frau Heimbach-Steins und Herrn Kaufmann; Herrn Remling; Herrn Sikora mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Was folgt aus dieser Studientagung? - werden wir alles bedenken müssen! - Einen Wunsch habe ich, den ich unserer Kommission unterbreiten werde: Sollte eine solche Studientagung nicht jedes (oder jedes 2.) Jahr stattfinden? Guten Heimweg! Dafür und für Ihre Arbeit und Zukunft Gottes Segen! ------------------------------------------------------------------------------------- Mitwirkende an der Tagung Alois Baumgartner: Professor für Christliche Sozialethik an der Katholisch-theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Helmut Dubiel: Professor für Soziologie an der Universität Gießen. Michael Ebertz: Professor für Sozialpolitik, Freiwilligenwohlfahrtspflege und kirchliche Sozialarbeit in Freiburg an der katholischen Fachhochschule. Marianne Heimbach-Steins: Professorin für Christliche Soziallehre und Allgemeine Religionssoziologie an der Fakultät Katholische Theologie der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Hans-Joachim Höhn: Professor für Systematische Theologie an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln. Thomas Hoppe: Professor für Katholische Theologie unter besonderer Berücksichtigung der Sozialwissenschaften und der Sozialethik im Fachbereich Pädagogik an der Universität der Bundeswehr in Hamburg. Ilona Riedel-Spangenberger: Professorin für Kirchenrecht, kirchliche Rechtsgeschichte und Staatskirchenrecht an der Universität Mainz. Michael Schramm: Professor für Christliche Sozialwissenschaft am Philosophisch-Theologischen Studium Erfurt und Rektor. David Seeber: Publizist, ehem. Herausgeber der Herder-Korrespondenz. Carl Christian von Weizsäcker: Professor für Wirtschaftliche Staatswissenschaften an der Universität Köln. Jürgen Werbick: Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Münster. Michael Zöller: Professor für politische Soziologie an der Universität Bayreuth. ------------------------------------------------------------------------------------- 51 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland. Eingeleitet und kommentiert von Marianne Heimbach-Steins und Andreas Lienkamp, München 1997, 12. 52 Ebd., 29. 53 Vgl. hierzu: H. Fries, Gibt es ein Lehramt der Gläubigen, in: Concilium (D) 21 (1985), 288-293. 54 Vgl. meinen Artikel "Hörende Kirche" in LThK, 3. Auflage, Bd. 5, Freiburg-Basel-Rom-Wien 1996, Sp 274f. 55 K. Koch, Verbindliches Christsein - verbindender Glaube, Freiburg/Schweiz 1995, 260. Koch verweist für sein Konzept eines dialogisch praktizierten kirchlichen Lehramts auf Erfahrungen der nordamerikanischen und österreichischen Bischöfe bei der Erarbeitung von Hirtenbriefen, die ja wohl auch "Vorbild" waren für den Prozeß der kommunialen Erarbeitung des Sozialworts. 56 Vgl. von ihm: Das Volk Gottes als aktives Glaubenssubjekt in der Kirche, in: Concilium (D) 21 (1985), 281-287, hier 283. 57 Ebd., 282. 58 Vgl. ebd., 283 ff. Hier wäre wohl ein Ansatzpunkt für eine theologische Einlösung des während der Tagung wiederholt geltend gemachten Desiderats, die Lehre von der Kirche nicht länger vor allem an "staatsförmigen", sondern auch an "zivilgesellschaftlichen" Kategorien zu orientieren. 59 Vgl. J. Sobrino, Die "Lehrautorität" des Volkes Gottes in Lateinamerika, in: Concilium (D) 21 (1985), 269-274, hier 272. 60 Insofern ist die seit dem 19. Jahrhundert üblich gewordene Ableitung des kirchlichen Lehramts vom Prophetenamt Christi wenigstens teilweise im Recht. 61 Vgl. dazu die eindrucksvolle Darstellung bei R. Albertz, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, 2 Bde., Göttingen 1992, 245 ff., 387 ff. 62 Vgl. den Überblick in meinem Buch: Kirche. Ein ekklesiologischer Entwurf für Studium und Praxis, Freiburg u.a. 1994, 351 ff.; vgl. auch die zentrale Bezugnahme auf dieses Prinzip in der sogenannten "Kölner Erklärung" vom 5. Januar 1989. 63 So von Papst Pius XII in einer Ansprache am 20. Februar 1946 (vgl. H.F. Utz - J.F. Groner, Aufbau und Entfaltung des gesellschaftlichen Lebens. Soziale Summe Pius' XII., Bd. 2, Freiburg 1954, 4080-4111, hier 4094). 64 Man mag sich fragen, warum die Sozialethik bisher keine Ethik innerkirchlicher Kommunikation und Machtausübung entwickelt hat. Geschichtliche "Vorbilder" dafür gäbe es durchaus; man denke nur an die Briefe Bernhard von Clairvaux' an Papst Eugen III (Über die Besinnung an Papst Eugen, in: Bernhard von Clairvaux, Bd. 1, Innsbruck 1990, besonders einprägsam: 729ff.). Daß ethische Normierungen gesetzliche Festlegungen in dem genannten empfindlichen Bereich der Zuständigkeitsregelungen nicht ersetzen können, das sei freilich ausdrücklich unterstrichen. 65 Besonders problematisch sind hier der Versuch, die Ablegung der Professio fidei von 1989 kirchenrechtlich zu urgieren sowie die im Text der Professio erkennbare Strategie, immer weitere Teile kirchlicher - in der Kirche durchaus kontrovers diskutierter - Glaubens- und Sittenlehre mit einer Quasi-Unfehlbarkeit auszustatten. ------------------------------------------------------------------------------------- Teilnehmer: Apel, Udo Arntz, Klaus Baadte, Günter Batz, Roland Baumgartner, Prof. Dr. Alois Becker, Dr. Alois Bedford-Strohm, PD Pfr. Dr. Heinrich Biesalski, Arthur Birkmann, Dr. Andreas Boscheinen, Walter Bowald, Béatrice Bürgstein, Wolfgang Dabrowski, Dr. Martin Däggelmann, Günter Deckers, Daniel Driesch, Dr. Paul Dubiel, Prof. Dr. Helmut Ebertz, Prof. Dr. Michael N. Emunds, Bernhard Endres, Gerhard L. Engels, Henny Estor, Dr. Marita Feiler, Victor Feldhaus, Dr. Stephan Fischer, Wolfgang Foitzik, Alexander Frey, Klaus Fuchs, Dr. Gotthard Gabriel, Professor Dr. Karl Geiger, Gunter Goertz, Dr. Hajo Heimann, Artur Heimbach-Steins, Prof. Dr. Marianne Hener, Wolfgang Hengsbach, P. Prof. Dr. Friedhelm Herr, Prof. Dr. Theodor Hilpert, Prof. Dr. Konrad Höhn, Prof. Dr. Hans-Joachim Hoffmann, Dr. Herbert Homeyer, Bischof Dr. Josef Hoppe, Prof. Dr. Thomas Hübenthal, Dr. Christoph Jackels, Reinhold Kaufmann, Prof. Dr. Franz-Xaver Klein, Prof. Dr. Wolfgang Koecke, Dr. Christian Krämer, PD Dr. Werner Kruip, Dr. Gerhard Kurth, Willibert Langhorst, Dr. Peter Lidgens, Heinz Lob-Hüdepohl, Prof. Dr. Andreas Lochbühler, Dr. Wilfried Ludwig, Hans Lüpke, Jens Mack, Dr. Elke Marx, Weihbischof Prof. Dr. Reinhard Meyer, Dr. Matthias Michalke, Doris Michels, Reinhold Möller, Pfr. Dr. Ulrich Mrytz, Dr. Barbara Nacke, Ordinariatsdirektor Bernhard Naß, Martin Nothelle-Wildfeuer, Dr. Ursula Nothof, Karl Nuß OFM, P. Simeon Ockenfels, Prof. Dr. Wolfgang Pankoke-Schenk, Dr. Monika Pompey, Prof. Dr. Heinrich Pospischil, Dr. Hans Thomas Reichert, Burkhard Remele, Dr. Kurt Remling, MDg. a.D. Elmar Rethmann, Dr. Albert-Peter Reuter, PD Dr. Hans-Richard Riedel-Spangenberger, Prof. Dr. Ilona Roth, Prof. Dr. Albert Rottländer, Dr. Peter Schallenberg, Dr. Peter Schmidt, Dr. Susanna Schmitz, Bernhard Scholten, Alfons Schramm, Prof. Dr. Michael Schumacher, Rolf Schwab, Norbert Seeber, Dr. David Sellmann, Matthias Sikora, Joachim Staudacher, Hubertus Sternberg, DDr. Thomas Steuer, Albert Suntum, Prof. Dr. Ulrich van Tessmer, Johannes Thomé, Martin Tiemann, MdB, Prof. Dr. Susanne Ulrich, Prof. Dr. Günter Van Vlodrop, Monika Vogt, Dr. Markus von Weizsäcker, Prof. Dr. Carl Christian Voß, Weihbischof Dr. Josef Wehrle, Weihbischof Dr. Paul Weinrich, Ordinariatsrat Winfried