| Pressemeldung

Ort und Funktion des schulischen Religionsunterrichtes in der pluralistischen Gesellschaft

Vortrag des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Kardinal Lehmann, in der Akademie der Konrad Adenauer-Stiftung am 19. Juni 2001 in Berlin

I.
Der schulische Religionsunterricht ist immer wieder in der Diskussion. Dabei haben sich weniger die Zielsetzung und noch viel weniger der Grundgehalt verändert. Vielmehr ist es das Verständnis des Ortes und der Funktion im Kontext der staatlichen Schule, der modernen Schule überhaupt und nicht zuletzt der gesellschaftlichen Wandlungen. Die unterschiedlichen Positionen haben dabei streckenweise auch zu Krisen geführt, die jedoch immer wieder auch dem schulischen Religionsunterricht eine vertiefte und überzeugende Begründung gebracht haben. Darum gibt es in der Religionspädagogik, aber auch von Seiten der Kirchenleitungen in regelmäßigen Abständen grundlegende Verlautbarungen, die klärend wirkten und über eine längere Zeit Bestand und Gültigkeit hatten. Ich möchte dabei nur zwei Texte nennen, die eine solche Bedeutung erlangt haben, nämlich den Beschluss "Der Religionsunterricht in der Schule" der Gemeinsamen Synode der Bistümer der Bundesrepublik Deutschland (vgl. Offizielle Gesamtausgabe I, Freiburg 1976 u.ö., 123 - 153) und das Dokument "Die bildende Kraft des Religionsunterrichtes. Zur Konfessionalität des katholischen Religionsunterrichts", verabschiedet von der Deutschen Bischofskonferenz am 27. September 1996 und veröffentlicht in der Reihe "Die deutschen Bischöfe" als Nr. 56. Gerade der letzte Text nennt noch manche Dokumente, die zwischenzeitlich verabschiedet worden sind (vgl. S. 5 ff, 87).
Dabei waren die jeweils diskutierten Hauptprobleme immer wieder recht verschieden. Es gab mehr kirchlich-theologische Fragestellungen, wie etwa das Verhältnis von Katechese und Religionsunterricht, die Beziehung zum Verkündigungsauftrag sowie zur Glaubensunterweisung und der Bezug zur Fachwissenschaft Theologie. Viele Fragen nach den verwendeten Methoden teilte man sich mit der allgemeinen Pädagogik, z. B. im Blick auf die Curriculum - Forschung. Es gab aber Themen, die über den eigenen kirchlichen Religionsunterricht hinausgingen, wie sein grundlegender Ort in der modernen Schule, die ökumenische Öffnung, das Verhältnis zur Ethik und zur Religionswissenschaft. Die deutsche Einigung brachte angesichts der großen Zahl von Kindern und Jugendlichen, die nicht getauft waren und keiner christlichen Kirche angehörten, die Beschleunigung einer auch sonst im Westen Deutschlands diskutierten Problemstellung, ob es denn eine Moral- und Werteerziehung als eigenes Fach neben dem schulischen Religionsunterricht im Sinne der Verfassung geben könne (vgl. Art. 7 Abs. 3 GG). Dies wäre am Ende auch kein Ersatzfach, wie es die Ethik darstellt.
Während in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen der konfessionelle Religionsunterricht im Sinne des Grundgesetzes und zum Teil ein Ethikunterricht in den Landesverfassungen verankert wurde, entschloss sich die Landesregierung von Brandenburg, statt des konfessionellen Religionsunterrichts einen Lernbereich neu zu errichten, der zuerst (1990) den Namen "Unterricht in Religions- und Lebenskunde", später (1996) die Bezeichnung "Lebensgestaltung - Ethik - Religionskunde" erhielt. Nach dem brandenburgischen Schulgesetz vom 12.04.1996 sollte dieses Fach "Schülerinnen und Schüler in besonderem Maße darin unterstützen, ihr Leben selbstbestimmt und verantwortlich zu gestalten, und ihnen helfen, sich in einer demokratischen und pluralistischen Gesellschaft mit ihren vielfältigen Wertvorstellungen und Sinnangeboten zunehmend eigenständig und urteilsfähig zu orientieren" (§ 11 Abs. 2). Dieses Fach sollte bekenntnisfrei, religiös und weltanschaulich neutral unterrichtet werden (vgl. Abs. 3). Neu ist an diesem Fach "LER" nicht die didaktisch-methodische Konzeption, wie gelegentlich immer wieder behauptet wird, sondern viel eher die Monopolstellung. Noch im selben Jahr 1996 haben darum bekanntlich 279 Abgeordnete der damaligen Bundestagsfraktion der CDU/CSU ein Normenkontrollverfahren beim Bundesverfassungsgericht beantragt. Das Erzbistum Berlin und die Bistümer Görlitz und Magdeburg, die Evangelische Kirche in Berlin-Brandenburg sowie 67 katholische und evangelische Eltern sowie Schüler haben gegen die §§ 9, Abs. 2 und 3, 11, Abs. 2 und 3 sowie 141 eine Verfassungsbeschwerde erhoben.
Im Zusammenhang der damit verbundenen bundesweiten religionspädagogischen Diskussion ist auch die nähere Struktur des schulischen Religionsunterrichtes, wie er im Grundgesetz gewährleistet ist, immer wieder angefragt worden. Da es dabei auch um die Fähigkeit des schulischen Religionsunterrichts ging, in einer zunehmend "multikulturellen" und pluralistischen Gesellschaft Legitimation zu finden, soll in diesem Beitrag die genannte Perspektive stärker in den Vordergrund gestellt werden.
II.
Der Begriff einer "multikulturellen" Gesellschaft hat gewiss mehrere Dimensionen, die oft ungeschieden nebeneinander stehen. Die Vermischung der einzelnen Bedeutungsnuancen bringt manche Verwirrung. Es gibt zunächst eine zeitdiagnostische Bedeutung, wenn zur Analyse einfach auf das Phänomen aufmerksam gemacht wird. Zugleich versucht der Begriff einen empirisch-analytischen Befund festzuhalten, der zeitdiagnostische Annahmen genauer überprüfen lässt. Schließlich aber geht es nicht nur um das faktische Feststellen, sondern das Wort "multikulturelle Gesellschaft" wird auch als Norm-Aussage gebraucht, um einen Zustand zu umreißen, der aufgrund einiger bestimmter Optionen vorherrschend sein soll. Wenn man eine generelle Umschreibung multikultureller Gesellschaft versucht, könnte man formulieren: Es sind Gesellschaften gemeint, in denen Menschen unterschiedlicher sozio-kultureller Prägung und Staatsangehörigkeit zusammenleben. Die soziokulturelle Prägung erstreckt sich zunächst einmal auf die volksmäßige, ethnische Zugehörigkeit, Sprache, moralische Anschauungen, Religion und Lebensstil. Die normative Verwendung zielt auf eine Sozialordnung, die auf der Grundlage der Menschenrechte und gemäß dem Toleranzgebot auf der wechselseitigen Anerkennung verschiedener sozio-kultureller Eigenheiten besteht. Damit ist zugleich auch die Forderung enthalten, dass man in dieser Sicht jede Form einer zwanghaften Anpassung der unterschiedlichen kulturellen Prägungen an eine bisher vorherrschende Tradition grundlegend ablehnt.
Man hat darauf aufmerksam gemacht, dass dieser Begriff vor allem aus dem nordamerikanischen Kontext stammt und gewiss auch eine Prägung erfahren hat, die mit den historischen Entwicklungen dieses Raumes zusammenhängt. Das Wort ist auf weite Strecken der deutschen sozialwissenschaftlichen Begrifflichkeit fremd geblieben, wie ein Blick in soziologische Lexika und Wörterbücher bezeugt. In Kanada wurde der Begriff schon früher für das Miteinander der englischen und französischen Bevölkerungsgruppen verwendet. Dort sprach man eher von "Bikulturalismus". Die amerikanische Tendenz zu einem Relativismus der Kulturen und die Diskussion in den klassischen Einwanderungsländern haben den Begriff ausgeweitet. Nach 1980 ist "multikulturelle Gesellschaft" eine Leitkategorie der politischen Debatte um die Verschiedenheit des sozialen Lebens geworden, wobei Modernisierung und besonders Globalisierung hier eine eigene und besondere Schubkraft entwickelt haben. Dabei geht es besonders um die Frage, wie komplexe Gesellschaften mit ihren sozial-kulturellen Ungleichheiten zu einer Integration und zu einer Identität kommen können.
An diesem immer stärkeren Vordringen des Begriffs "multikulturelle Gesellschaft" ist vor allem die internationale Migration beteiligt. Dies sind einerseits die Wanderungen, die durch Armut und Suche nach Arbeit bedingt sind; hinzu kommen politische Flüchtlinge und Asylbewerber. Es geht aber andererseits auch um eine zunehmende internationale Verflechtung von Politik und Wirtschaft. Nicht zufällig hat man das vergangenen Jahrhundert als ein Jahrhundert der Flüchtlinge bezeichnet. Es gibt nicht wenige Prognosen, die uns ein noch stärkeres Aufbrechen verarmter Völker ankündigen.
Dabei handelt es sich nicht einfach um ein allgemeines gesellschaftliches Problem. Vielmehr entsteht die Frage, wie sich die einzelnen sozio-kulturellen Prägungen zueinander verhalten. Bei der schiedlich-friedlichen Koexistenz oder auch bei einer am Anderen grundsätzlich uninteressierten Gleichgültigkeit oder einer vielleicht leicht unterdrückten Distanzierung und Feindseligkeit wird es nicht bleiben. Darum ist für die Zukunft der Menschheit immer wieder ein Krieg bzw. ein Konflikt der Kulturen prognostiziert worden. Jedenfalls ist die Bewegung von Menschen über Grenzen, die Herrschaft von Grenzen über Menschen und die Begegnung der Kulturen ein Kernproblem unserer Gegenwart. Der größer gewordene Anteil an Freizeit und Tourismus hat zusätzlich die Voraussetzungen geschaffen, dass uns eine solche "multikulturelle Gesellschaft" stets im Blick steht und von vielen - wenigstens global - akzeptiert wird.
Meist bleibt es bei einer relativ oberflächlichen Verwendung des Begriffs. Dennoch wird ein Grundproblem erkennbar, nämlich welche Grundorientierungen des Zusammenlebens in einer Gesellschaft gültig sind. Denn die verschiedenen Lebensmuster einzelner Kulturen stehen ja nicht selten auch in Spannung zueinander. Gerade bei der Freiheit von Religion und Weltanschauung entsteht die Frage, ob es gemeinsame Überzeugungen gibt oder ob eine solche Gesellschaft durch die auseinanderstrebenden Kräfte wie auf einem Pulverfass sitzt. Dabei konnten wir z. B. vor allem in Bosnien feststellen, wie rasch ein erstaunlich geglücktes, lange Zeit einigermaßen funktionierendes Zusammenwohnen z. B. von Muslimen und Christen einerseits möglich war, anderseits aber bei den geringsten Störungen des offenbar prekären Gleichgewichts aus den Fugen kam und rasch verletzt werden konnte. Man darf sich also über die "Friedlichkeit" multikultureller Erscheinungen nicht täuschen.
Es besteht kein Zweifel, dass diese Differenzen in den Lebensgewohnheiten und in den ihnen zugrundeliegenden Entscheidungen eine große Rolle spielen. Dies gilt besonders für die Zugehörigkeit zu einer Nation, den Zusammenhang mit der Religion und die emotional-affektive Verwurzelung dieser Grundentscheidungen in der Tradition einer Gruppe, aber auch im Lebensentwurf einzelner Menschen. So wächst die Tiefe und Schwierigkeit der Frage, was sich nun hinter mancher Diskussion, z. B. über Asylbewerber, verbirgt. Welche Ängste und Konflikte belasten das Zusammenleben z. B. von einheimischer Mehrheit und zugewanderten Minderheiten? Dies ist heute ein in unseren Gesellschaften nicht zu vernachlässigender Horizont, an dam auch die Frage nach dem Religionsunterricht nicht vorbeikommt.
III.
In diesem Zusammenhang muss nun auch genauer nach dem Sinn des Wortes "Werte" gefragt werden. Die Rede von den Werten hat dabei in den letzten Jahrzehnten, besonders auch im Blick auf das Stichwort "Grundwerte", geradezu inflationär zugenommen, aber nur mit einem geringen Fortschritt in der Sache.
Zunächst sind mit "Werten" in diesem Sinn normative Leitlinien, die uns im Alltag orientieren, gemeint. Werte sind relativ stabile, in der Persönlichkeit verankerte allgemeine Überzeugungen und Vorstellungen dessen, was in einer Gesellschaft und für Einzelne wünschenswert oder evtl. auch notwendig ist. Dabei scheint es wichtig zu sein, dass Werte immer in Konkurrenz zu Alternativen stehen. Es besteht geradezu eine Art von Zwang, sich zu entscheiden. Sodann sind Werte in der Persönlichkeit von Individuen verankert und haben deswegen immer auch eine Struktur, die mit Wahl, Option und Entscheidung des Einzelnen gegeben ist. Zugleich erweisen Werte jedoch eine hohe Verbindlichkeit für ganze Personengruppen, ja für die gesamte Gesellschaft. In diesem Sinne wurzelt die Lebendigkeit von Werten sehr im Einzelnen, aber sie gehören auch zur Sozialstruktur einer Gesellschaft. In diesem Sinne sind Werte Leitlinien, an denen die Menschen ihr Leben für sich und in der Gesellschaft orientieren. Dabei sind gewisse Freiheitsgrade eingeräumt, denn gelegentliche Abweichungen von der Norm werden nicht zwangsläufig mit Sanktionen belegt, wie dies eher bei der formellen Verletzung von Normen der Fall ist.
Der Wertbegriff ist in der Philosophie, der Theologie, den Rechts- und Sozialwissenschaften nicht gerade beliebt. Dadurch entsteht eine ambivalente Situation. Auf der einen Seite ist der Begriff der "Werte" kaum zu ersetzen, da er die Verbindlichkeit solcher Leitlinien in eben der Offenheit formuliert, wie sie in einem pluralistisch verfassten Gemeinwesen unvermeidlich ist. Wenn der Begriff in diesem Sinne auch etwas unbestimmt und konturlos wirkt, so hat dies mit dieser Offenheit und Freiheit bei der Entscheidung über solche Leitlinien zu tun. Deshalb kann ein solcher Begriff auch nicht identisch sein mit einem einzelnen Denksystem. In diesem Sinne kann man den Begriff, gerade wenn man um seine Grenzen weiß, wiederum durchaus verwenden. Es ist freilich nicht zu übersehen, dass er auch erhebliche Schwächen hat. Diese bestehen zunächst darin, dass das Wort in seiner Vieldimensionalität unbestimmt und wolkig erscheint. Der Begriff, der ursprünglich ja eher aus der Ökonomie stammt (vgl. z. B. "Mehrwert"), ist darum sehr stark mit einer Wertung verbunden, d. h. einer Einschätzung, die weitgehend die etwas willkürliche Handschrift eines einzelnen Subjektes aufweist. Deshalb hat man immer wieder versucht, sogenannte Fakten von Werten zu unterscheiden. Es gibt verschiedene Auseinandersetzungen um so etwas wie Wertfreiheit in den einzelnen Wissenschaften. Aber dieses Zerreißen der Zusammengehörigkeit von dem, was ist, und dem, wie es sein oder werden soll, isoliert den Wertbegriff nur noch stärker. Es sieht so aus, als ob er bloß nachträglich schon bestehenden Dingen eine Einschätzung zuerkenne, die eben aufgepfropft und aufgesetzt erscheint. Für nicht wenige ist der Wert-Begriff darum auch ein Ersatzwort für hehre Begriffe eines metaphysischen Denkens, das aber als überholt erscheint.
Für die einen ist dies Grund genug, sich vom Wertbegriff überhaupt zu verabschieden, andere halten ihn trotz dieser Einwände für geeignet und wollen auf ihn nicht verzichten. Dies gilt gerade angesichts der Beweglichkeit und der Offenheit weltanschaulicher und religiöser Positionen, wie sie in einem pluralistischen Gemeinwesen unabdingbar sind. Die multikulturelle Gesellschaft ist ja darüber hinaus durch einen Austausch, eine Vermischung und einen starken Wandel der jeweiligen Werte gekennzeichnet. Deswegen glauben nicht wenige, der Begriff Werte könne bei aller Kontinuität und Bestimmtheit gerade diese Offenheit und Wandelbarkeit gut festhalten.
Gerade hier liegen aber auch die Gründe, warum nicht wenige den Begriff einer multikulturellen Gesellschaft ablehnen. Sie fürchten eine Überfremdung der eigenen sozio-kulturellen Prägung. Gleichzeitig nehmen sie an, es käme in Wahrheit gar nicht zu einer Begegnung und Integration des Fremden, sondern gerade die Zuwanderer würden sich mehr und mehr in einem Getto abschließen und verlieren. Durch die verbleibende Fremdheit - so glauben sie - bestünde auch eine große Gefahr, dass fremde Ideologien importiert werden, die auf die Dauer die innere Stabilität einer Gesellschaft verletzen oder gar aushöhlen könnten. Vor diesem Hintergrund kann man auch begreifen, warum es bei der heutigen Mobilität in manchen Gesellschaften zu solchen Ängsten und auch zu einer beträchtlichen Fremdenfeindlichkeit kommen konnte. Demgegenüber versucht man an einer Homogenität von Volk und Kultur im Sinne einer Identität bzw. einer Identifikationsmöglichkeit festzuhalten.
"Werteerziehung" ist vor diesem Hintergrund ein besonders schwieriger Auftrag. Wie sollte es im offenen Pluralismus vielgestaltiger und widersprüchlicher Werte eine gemeinsam verpflichtende Hinführung zu so etwas wie einer tragfähigen Mitte geben können? Kann die öffentliche Schule bei ihrer Verpflichtung auf Neutralität gegenüber Weltanschauungen und Religionen überhaupt auf ein Ziel hin erziehen, wenn man dieses Wort ernst nimmt? Damit ist das Dilemma vollständig formuliert. Es erscheint ausweglos.
IV.
Eine Antwort kann hier nur im Sinne einer Skizze und einer holzschnittartigen Vorzeichnung entworfen werden. Vieles ist auch an anderer Stelle schon gesagt worden.
Die erste Notwendigkeit im Versuch einer solchen "Werteerziehung" besteht in der Anerkennung dessen, was verschieden ist und bleibt. Es ist nicht erlaubt, alles nur unter den Bedingungen bloß des eigenen Verstehens zu sehen. Bei allem Festhalten an den eigenen Überzeugungen sind Absolutheitsansprüche, die anderen müssten gleich oder ähnlich sein, unerlaubt. Anerkennung heißt immer auch, dass man dem anderen seine Eigenheit lässt und auch die damit gegebene Fremdheit aushält. Anerkennung schließt ein, dass man dem anderen Rechte zubilligt, die man für sich selbst in Anspruch nimmt. Dies gilt wenigstens für die Menschenrechte. Es ist bereits ein hohes Ziel der Erziehung, trotz verbleibender Andersheit und Fremdheit den Anderen anzuerkennen. Damit ist aber auch deutlich, dass diese Anerkennung wiederum - der Blick geht auf die andere Seite - Allmachtsansprüche anerkannter Partner wohl zur Kenntnis nehmen, aber nicht annehmen kann. Der Anerkennende und der Anerkannte sind jeweils partikulare Identitäten, die einen jeweils eigenen Respekt erfordern. Dies ist eine elementare Voraussetzung für Toleranz und Religionsfreiheit.
Mit dieser Anerkennung ist nicht bloß eine formelle Zuerkennung z. B. im Sinne der Menschenrechte gemeint. Diese Anerkennung ist letztlich nicht möglich, wenn man nicht den Fremden und das Fremde auch - wenigstens in gewissen Grenzen - verstehen will. Dafür gibt es verschiedene Stufen. Aber es gibt gewiss auch eine minimale gemeinsame Basis, wenn man jemand anerkennen will. Es ist jedenfalls nicht förderlich, wenn man das Neue und Andere einfach in seiner Fremdheit stehen lässt, ja es sogar darin regelrecht einschließt. Man kann auf die Dauer die Identität und Relevanz des Fremden nur respektieren, wenn man das Anderssein kennenlernen und ein Stück weit erkennen kann. Es gibt dabei oft eine hohe Unwilligkeit, sich auf das Unbekannte einzulassen. Man lässt nur das zu, was man kennt. Es gehört aber zum Menschlichen des Menschen, dass man seinen eigenen Horizont immer wieder in Frage stellen lässt. Der Mensch ist nicht mehr Mensch, wenn er in diesem Sinne für immer "fertig" wäre, seine Neugierde vollständig verlöre und keine Kraft zur Veränderung mehr aufbringen könnte. Der Mensch möchte Fremdes regelrecht erobern. Er will es dabei nicht zerstören oder nur in seine Gewalt bringen, in einem schlechten Sinne missionieren und indoktrinieren, sondern er möchte in der Andersheit des Fremden auch dessen Stärke und Überlegenheit spüren. Nur wenn sich das Eigene und das Fremde so begegnen, gibt es ein wirkliches Verstehen im ursprünglichen Sinne des Wortes. Die Fremdheit wandelt sich dann, indem man sich nicht mehr vor ihr ängstigt, sondern man erblickt in ihr etwas für uns selbst Hilfreiches, weil es uns etwas anderes bringt als das, was wir immer schon kennen. Das Fremde als das Andere kann uns in diesem Sine in ungewöhnlicher Form bereichern und sogar befreien. Wir können dann auch unsere eigene Identität mit ihren Besonderheiten besser verstehen.
Es ist selbstverständlich, dass jeder schulische Religionsunterricht diese Leistungen der Anerkennung des Anderen und des Versuches, Fremdes zu verstehen, wenigstens ansatz- und stufenweise verwirklichen muss. Es darf nicht bei der uninteressierten Distanz bleiben, denn sie kann rasch umkippen: von der Gleichgültigkeit über die Angst bis zur Zerstörung durch Gewalt. Es ist selbstverständlich, dass es dafür vom Kindergarten bis zur Universität in allen Institutionen des Lernens sehr verschiedene Intensitätsgrade gibt. Der Religionsunterricht in der Schule nimmt hier nicht nur teil an einem öffentlichen Auftrag zur Vermittlung von Toleranz und Achtung vor dem Anderen, sondern diese Aufgabe ergibt sich auch, wie noch zu zeigen sein wird, aus dem eigenen Anspruch und Selbstverständnis der christlichen Religion.
Dieses Interesse für einen anderen besteht aber nicht nur gleichsam in einem nackten Respekt. Es ergeben sich in der Begegnung mit Fremdem auch Entdeckungen wenigstens partieller Gemeinsamkeit. Hinter den Verschiedenheiten werden auch am Horizont gewisse Gemeinsamkeiten erkennbar. Sie haben mindestens eine doppelte Gestalt. Auf der einen Seite gibt es z. B. über die Würde des Menschen eine minimale Ähnlichkeit der Überzeugungen, was man z. B. in einer Übereinkunft festlegen kann. Es kann aber auch sein, dass sich hinter den Verschiedenheiten eine universale Gemeinsamkeit zeigt, die noch weitergehen und andere einschließen kann. Man muss also nicht in der eigenen runden Identität stecken bleiben oder den Anderen in seiner Eigenheit ignorieren. Es bedeutet einen Gewinn, wenn man die eigene Identität nicht einfach überspringt und sich nur oberflächlich einem Anderen letztlich ausliefert. Es macht aber auch keinen Sinn, wenn man nur seine eigene Identität akzentuiert. Verstehen ist immer Auseinandersetzung in Form von Prozess und Diskurs/Dialog.
Dies setzt voraus, dass man bei der Anerkennung des Anderen nicht einfach bloß ein formales Recht ausübt oder verschiedene Deutungsmuster der Welt, des Menschen und Gottes gleichsam katalogisiert. Man darf und soll von der eigenen Religiosität her ein erstes, offenes Vorverständnis mitbringen, das man gerade wegen der eigenen Bindung nicht aufzugeben braucht und das durchaus schöpferische Zugänge zum anderen schafft. Ein solches Verstehen ist Voraussetzung und Grundlage jeder Kommunikation. Der Fremde ist nicht nur Spiegel meiner selbst. Er darf nicht als Umweg zur Selbstfindung missbraucht werden. Das Interesse muss sich auch auf sein Anderssein richten. Dies ist die oft unerkannte Stärke der Hermeneutik und der von ihr erschlossenen Tradition.
V.
Es gibt nach heutigen Erkenntnissen kein menschliches Verstehen ohne Voraussetzungen. Wir sind immer schon von einem Vor-Verständnis geleitet. Es ist auch nicht schlimm oder ein Schaden, dass es ein solches Vor-Verständnis gibt. Es ist die Art und Weise, wie wir endliche Wesen auf die Menschen und Dinge zugehen, indem wir schon ein Stück weit unser Verständnis mitbringen. Aber darüber kann man sprechen. Man kann diesen Standort, den man einnimmt, aufhellen und beim Namen nennen. Es ist dann kein Vor-Urteil im schlechten Sinne des Wortes, sondern man stellt sich und offenbart, wer man selbst ist und was man denkt. Aufklärung vollzieht sich nicht nur darin, dass man alles, was einen von Geschichte und Tradition her bestimmt, über Bord wirft, sondern auch darin, dass man den Geltungsanspruch unserer bisherigen Anschauungen und Überzeugungen thematisiert und im Gegenüber zu anderen Auffassungen gleichsam überprüfen lässt. Es kann sich auch bewähren.
Dies ist sehr wichtig für den eigenen Standort, den man einnimmt. Ich will dies noch ein wenig verdeutlichen. In einem Gemeinwesen, in dem durch den Pluralismus gegenüber allen Weltanschauungen und Religionen Toleranz und Religionsfreiheit vorherrscht, muss man diese Achtung sicher zuerst als Grundhaltung, aber auch als Methode des Umgangs miteinander einüben. Dies ist nicht leicht, da man immer wieder auch eigenen oder fremden Vorurteilen erliegen kann. Man ist deshalb auch in der Versuchung, sich auf einen Boden zu begeben, der möglichst nur "Gemeinsames" aufweist, das anderen auch zu eigen ist. Man glaubt, dass das spezifisch Eigene eher störend und verletzend wirkt. Also ist man oft geneigt, dieses Besondere zurückzudrängen, wenigstens in seinem unmittelbaren Anspruch einzuklammern, manchmal aber auch zu verschweigen. Man meint dann, dies sei die wahre Rücksicht auf den Anderen. In Wirklichkeit verbleibt man bei einem abstrakten Allgemeinen, das nur ein fader Absud ist.
Wenn man das Besondere im Allgemeinen einfach ausschaltet, besteht die Gefahr, dass man im schlechten Sinne abstrakt wird und das vielfarbige, bunte, konkrete Leben ausblendet. Wir erleben heute viele Versuche z. B. im ökumenischen Gespräch, im Dialog der Religionen und Kulturen, aber auch unter den Parteien, das Trennende zu verschweigen und den gemeinsamen Rest als das Eigentliche darzustellen. Dies vermeidet Ärger und schafft - wenigstens für einige Zeit - eine Gemeinsamkeit. In Wirklichkeit dürfen wir es uns nicht so einfach machen. Wenn wir das Andere und Fremde, das Herausfordernde nicht zur Kenntnis nehmen und zu verstehen suchen, verkürzen wir das Abenteuer des Geistes und den wahren Reiz des Gesprächs. Wir beschäftigen uns dann am Ende doch nur mit uns selbst.
Darum gilt es auch gerade heute im Gespräch mit anderen Christen und anderen Religionen, unseren vollen, eigenen Standort klar erkennbar zu markieren und zur Sprache zu bringen. Wir haben in einem pluralistischen Gemeinwesen auch keine andere Wahl. Andernfalls stimmen wir nur in eine abstrakte Gemeinsamkeit ein, die kein konkretes Gesicht mehr erkennen lässt. Wenn es kein ausführlicheres, bestimmtes, gemeinsames Ethos in der pluralistischen Welt gibt, dürfen wir nicht bei einer Gemeinsamkeit bleiben, die von allen Besonderheiten absieht. Es wären fast immer "Minimalia", die uns bei diesem Subtraktionsverfahren bleiben - mit denen aber bekanntlich kein Staat zu machen ist. Nun hat das andere Vorgehen, nämlich voll und ganz nur den eigenen Standort deutlich zu machen, gewiss auch unleugbare Gefahren. Sie bestehen darin, sich selbst ungebührlich aufzublähen und dem Anderen und gerade dem Fremden die Luft zum Atmen zu nehmen. Wenn ich mich mit dem unverkürzten Umfang meines Denkens und Glaubens präsentiere, verlasse ich nicht einfach die Bereitschaft und die Herausforderung zum Dialog. Triumphalismus, Fanatismus und Fundamentalismus verstoßen je in ihrer Weise dagegen.
Auf diese Weise kommt der eigene Standort in seiner ganzen Überzeugungskraft und Evidenz zum Einsatz. In der pluralistischen Gesellschaft verliert man seine eigene Stimme, wenn man auf das Proprium verzichtet. Man kann zwar wissenschaftlich, z. B. historisch oder soziologisch, über Religion handeln. Die Theologie macht sich dies auch zu eigen. Aber die biblisch-christliche Botschaft ist damit in ihrem Selbstverständnis nicht getroffen. Sie strebt von sich aus nach der Kommunikation mit anderen Sprachen und Kulturräumen. Sie erhebt den Anspruch, auch für gegenwärtige und künftige Situationen zu gelten. Dies ist aber nur möglich, wenn es außerhalb aller wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Phänomen "Religion", was hier gar nicht bestritten werden soll, einen je aktuellen Träger gibt, der diesen lebendigen Anspruch der biblisch - christlichen Botschaft nicht nur weitergibt, sondern auch jeweils im geistig - gesellschaftlichen Kontext einer Zeit vernehmlich macht. Anders lässt sich auch die Aktualität einer Religion nicht vermitteln. Ein vermeintlich wertungsfreier Religionsunterricht mag manchem angesichts der zunehmenden Individualisierung und Pluralisierung von Religion als zeitgemäß erscheinen. Ein wirklich bildender Unterricht, der nicht nur neutrales abgepacktes Detailwissen weitergibt, kann sich jedoch nicht mit der Vermittlung von bloßem Wissen begnügen. Er muss gleichzeitig eine wertbezogene Haltung und Einstellung zum erworbenen Wissen vermitteln. Man kann am Ende nicht sachgemäß von Religion sprechen und den ihr eigenen Wahrheitsanspruch ausblenden. Konkurrierende Wahrheitsansprüche müssen im Übrigen aufgearbeitet und gewichtet werden, sonst führen sie zur Desorientierung und zu einer Einstellung, dass alle Religionen gleich wahr oder gleich falsch sind. Religiöse Entscheidungen werden in dieser Hinsicht beliebig. Die heutige Mentalität neigt aus vielen Gründen einer solchen Auffassung von Religion zu. Sie kommt einer postmodernen Mentalität entgegen, die marktförmig aus dem breiten religiösen Angebot das auswählt, was der individuellen Selbstentfaltung dienlich erscheint.
Ich möchte aber in diesem Zusammenhang, wo der Geltungsanspruch von Religion für heute betont wird, mit aller Klarheit sagen: Gerade diese Position verlangt auch eine volle und uneingeschränkte Bereitschaft zum Dialog, um das eigene Selbstverständnis möglichst gut zu präsentieren und zu explizieren, aber auch um im Diskurs die Gemeinsamkeit gegebener Positionen aus anderen Religionen zu eruieren.
VI.
Im Übrigen ist es keineswegs so, dass dem kirchlichen Religionsunterricht Rationalität und Überzeugungskraft abgeht. Gerade das katholische Verständnis des Glaubens hat bei allem Wissen um das Paradox und die "Torheit des Kreuzes" stets verteidigt, dass der Glaube seine Sicht der Welt von innen heraus aufhellen, mit der Vernunft durchdringen und kommunizierbar machen kann. Deshalb übersteigt das biblische Ethos auch alle Beschränkung auf partikuläre Adressaten. Der christliche Glaube birgt in sich ein universalistisches Ethos, das also auf alle Menschen bzw. die ganze Menschheit ausgerichtet ist. Es ist kein Gruppenethos nur für einen beschränkten Adressatenkreis. Auch da, wo das christliche Ethos einzigartig ist, wie z. B. im Fall des Gebotes zur Feindesliebe, hat es wenigstens potentiell universalisierbare Elemente, die gleichsam abstrahlen können. Unter dieser Voraussetzung ist ein solcher Dialog gerade in einer multikulturellen Gesellschaft notwendig und, wenigstens in Ansätzen, auch fruchtbar.
Ähnliches kann man im Zusammenhang der Werte- und Moralerziehung spezifizieren. Das christliche Ethos enthält viele Elemente humaner Sittlichkeit, wie es selbst wiederum in den weltlichen Bereich hinein viele Anstöße dazu gegeben hat. Dies zeigt auch die Fernwirkung des christlichen Ethos in der säkularen Welt, wo nämlich viele ethische Erwartungen und Einschätzungen irgendwie auf biblisch-christliche Anstöße zurückgehen, z. B. Mitleid, Barmherzigkeit. Von da aus ist ein Dialog in den multikulturellen Raum hinein sinnvoll. So hat z. B. der Dekalog vieles aus dem Ethos und dem Erfahrungsbereich der Stämme, des Hofes, der Beamten usw. aufgenommen, aber es ist nicht zuletzt die Kraft der Bibel, diese Aussagen für alle Menschen als unbedingt gültig zu verkünden. Man denke hier auch an Paulus und seinen Umgang mit dem Ethos seiner Zeit, besonders mit der Stoa: "Prüfet alles, das Gute behaltet."
Dabei muss man heute im Blick auf den kirchlichen Religionsunterricht nüchtern die Grenzen dessen sehen, was bei der Vermittlung geleistet werden kann. Hier gibt es viele falsche Anklagen und Anschuldigungen, z. B. Schule versus Elternhaus und umgekehrt. Der schulische Religionsunterricht hat seine Stärke dadurch, dass er sich im Rahmen der Bedingungen der modernen Schule durch Information und Argumentation an viele Schüler richten kann, die eine sehr unterschiedliche Nähe zum religiösen Vollzug haben. Für die einen ist der Unterricht eine grundlegende Vertiefung dessen, was sie selbst angenommen haben und auch lebendig praktizieren. Für andere ist es eine Einladung, sich anfänglich einmal auf ein solches Sinnangebot einzulassen. Für manche andere ist es eine Gelegenheit, Missverständnisse und Vorurteile über Religion zu erkennen und mindestens zu verringern bzw. abzubauen. Aber der Religionsunterricht selbst kann heute nicht zu dem einzigen Lernort des Glaubens werden, wie er es - abgesehen von der Familie als der bleibenden Basis - über lange Zeit sein konnte. Dadurch, dass ihm die volle existentielle Beziehung zum Lebensvollzug des Glaubens ferner liegt, kann er nicht das ersetzen, was man an anderen Stellen hinsichtlich des Glaubens lernen kann. Wir sprechen schon lange in der Religionspädagogik von den verschiedenen Lernorten des Glaubens, die beinahe so etwas wie einen Verbund einzelner Zugänge zum Glauben bilden, wobei jeder Lernort seine spezifische Stärke, vielleicht auch seine Schwäche hat. Unersetzlich ist auf jeden Fall die Basis "Familie". Die Erneuerung der Familienkatechese zeigt dies auch heute noch deutlich. Solche Lernorte sind: Kindergarten, Jugendarbeit, Gemeindekatechese und Gemeindeleben mit gottesdienstlichen Erfahrungen, religiöse Erwachsenenbildung. Der schulische Religionsunterricht braucht, gerade wenn er seinen Geltungsanspruch für heute aktualisiert, diese Ergänzung.
Aber wenn diese Ergänzung im Kosmos der Lernorte nur unzulänglich oder gar nicht gegeben ist, bleibt der schulische Religionsunterricht dennoch sinnvoll, weil er - gerade auch im Unterschied zu den anderen Lernorten - ein ausgezeichneter Ort des Kennenlernens des Glaubens, seiner Sinnstiftungen und auch der Auseinandersetzung mit Religion im Modus der Begründung ist. Deswegen leistet der schulische Religionsunterricht im Sinne des Grundgesetzes auch für die Moral- und Werteerziehung sehr viel mehr, als vielerorts angenommen wird. Es bleiben im Übrigen bei nicht wenigen Schülern, die sich vielleicht im Augenblick eher indifferent oder abständig verhalten, geheime Reste des religiösen Wissens, die eines Tages wiederum erweckt werden können. Dies hängt von der Erfahrung und Verarbeitung vieler Lebenssituationen ab (z. B. Erfahrung des plötzlichen Todes geliebter Menschen). Dies ist nicht nur eine Utopie oder ein kirchliches Wunschdenken, denn empirische Untersuchungen des bekannten Salzburger Religionspädagogen Anton Bucher über die Wirkung des Religionsunterrichtes in der Bundesrepublik Deutschland haben z. B. für den Großraum Dresden gezeigt, dass 28 % Schüler im Religionsunterricht nicht getauft sind, aber durchaus ein konkretes Interesse am schulisch-kirchlichen Religionsunterricht haben. Die Konzepte der Lebens- und Religionskunde nähren oft den falschen Verdacht, als ob ein kirchlich gebundener Religionsunterricht keine oder nur eine geringe Bedeutung hätte für die Lebensgestaltung junger Menschen. Eher ist das Gegenteil der Fall, denn der Religionsunterricht fordert durch seine Struktur eben auch zur Auseinandersetzung mit Religion auf, bei der es immer auch - vielleicht manchmal zunächst verborgene - Fragmente und Elemente der Aneignung gibt. Der authentische Religionsunterricht hat also ein großes Potential für Lebensgestaltung und Ethik. Dies gilt auch dann, wenn manches nur fragmentarisch rezipiert wird, z. B. ein ökologisches Interesse vorherrscht.
VII.
Eine multikulturelle und pluralistische Gesellschaft kann den Anschein erwecken, alle ethischen Sinnentwürfe seien gleichberechtigt und ebenbürtig. Nach dem formalen Rahmen der Weltanschauungs- und Religionsfreiheit mag dies als richtig erscheinen. Aufgrund der europäischen Geschichte und der Stellung des Christentums sowie der Kirchen in ihr hat jedoch der christliche Glaube eine besonders prägende Kraft erwiesen. Wir sind überzeugt, dass dies nicht nur mit seiner geschichtlichen Beharrungs- und gesellschaftlichen Prägekraft, sondern noch mehr mit seiner inhaltlichen Gestaltungskraft zusammenhängt. Darum erachten wir es aber auch als legitim, dass der Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach in den öffentlichen Schulen seinen Platz hat. Unter gewissen Voraussetzungen können und sollen auch andere Religionen an dieser Stellung partizipieren. Wir sollten die darin liegende Chance voll nützen und im schulischen Religionsunterricht die spirituelle und ethische Kraft des christlichen Glaubens so voll zur Geltung bringen, dass sein Anspruch auch für heute deutlich erkennbar wird. Dies unterscheidet den schulischen Religionsunterricht von Religionskunde, Ethik, LER und ähnlichen Versuchen.
Im Blick auf die Werteerziehung bedarf diese grundsätzliche Ausführung wenigstens thesenförmig noch der Entfaltung. Dabei wird hier nur eine knappe Synthese versucht werden können. Dies ist umso eher akzeptabel, weil die eingangs erwähnten Dokumente weitere Präzisierungen enthalten. Für die Kooperation der Kirchen untereinander sind im Haupttext "Die bildende Kraft des Religionsunterrichts" 10 wichtige Thesen zu finden. Grundlegend lässt sich jedoch folgendes zusammenfassen:
Werte schweben nicht abstrakt in einem idealen Reich, sondern werden in der Regel dem Einzelnen durch eine konkrete Gemeinschaft erhellt und vermittelt. Sie werden durch diese Gemeinschaft gestützt, vor allem aber auch bezeugt und gelebt.
Deshalb ist der schulische Religionsunterricht zugleich ein kirchlicher Religionsunterricht, der in der konkreten Lebenswelt einer Glaubensgemeinschaft verwurzelt ist und von ihr gestützt wird ("konfessioneller Religionsunterricht").
Die lebendige Vermittlung der Werte braucht den konkret gelebten Raum der Glaubensgemeinschaft. Der ökumenische Gesichtspunkt kommt dabei nicht nachträglich hinzu, sondern gehört wesentlich zu jedem Religionsunterricht im Geist des christlichen Glaubens.
"Konfession" darf dabei nicht primär defensiv - abgrenzend und abwehrend - verstanden werden, wie es oft geschieht, sondern meint die konkret geprägte kirchliche Lebenswelt, die vom Bekenntnis des Glaubens lebt und sich dadurch unterscheidet, aber so auch sich öffnet und mitteilt.
Ethische Erziehung als Element des schulischen Religionsunterrichtes verlangt eine intensive Kooperation mit den anderen Lernorten des Glaubens, die eine ganzheitliche Hinführung zu christlichen "Werten" mitermöglichen. Davon war im Rahmen und in den Grenzen dieses Beitrags schon die Rede.
Heute wissen wir, dass gerade bei der Werteerziehung, bei der konkreten Einübung in das praktisch gelebte Christentum affektive und emotionale Momente eine große Rolle spielen. Der Religionsunterricht kann dies allein nur bedingt leisten.
Die Hinführung zu christlich gelebten und zu lebenden Werten bedarf der Mithilfe durch Erzählungen gelungenen Lebens und die Veranschaulichung an konkreten Biographien. Das christliche Ethos ist nämlich keine ferne Utopie, sondern kann, wie Geschichte und Gegenwart erweisen, entschieden und glaubwürdig gelebt werden. Die Hinführung zu den Werten braucht deshalb pädagogisch produktive Vorbilder, die uns nicht zuletzt in großen Christen, herausragenden Zeugen des Glaubens und den kanonisierten und (noch) nicht-kanonisierten Heiligen begegnen können.
Zur Erziehung auf christliche Werte hin gehört auch die Erfahrung des Scheiterns, des Versagens und des Sichversündigens. In diesem Zusammenhang bedarf es auch einer Hinführung zu den konkreten Formen der Umkehr und der Versöhnung. Dies gilt für das individuelle und das gesellschaftliche Leben. Ich denke hier nur an die religiös motivierte Erziehung zur Friedfertigkeit und zur Gewaltlosigkeit bzw. Gewaltminderung.
VIII.
Der Wichtigkeit halber sei es im Sinne eines kleines Exkurses erlaubt, für die ökumenische Dimension des schulischen Religionsunterrichtes noch abschließend, wiederum thesenartig, einige Ausführungen zu machen:

Ich habe diese Regelungsvorschläge bewusst wörtlich zitiert, weil ich nicht sicher bin, ob diese überall ausreichend wahrgenommen worden sind. Der Text weist nach vorne. Wir haben auch ökumenisch viel zu tun, aber nicht in eine falsche Richtung.
IX.
Nach meinem Urteil erlaubt der schulische Religionsunterricht in einer lockeren Vernetzung, mit den anderen Lernorten des Glaubens, aber auch schon für sich allein, eine lebendige und fruchtbare Erziehung auf humane und christliche Werte hin. Deshalb hat der schulische Religionsunterricht, der dies in der öffentlichen Schule und mit seinen Mitteln fördert, in der konkreten, auch verfassungsmäßig verbürgten Gestalt eine große Chance. Je besser er veranstaltet und abgehalten wird, um so mehr erfüllt er auch vor allem die ethischen Anforderungen, die zum Zusammenleben in einer multikulturellen und pluralistischen Gesellschaft notwendig sind. Es wird sich dann auch zeigen, dass nicht wenige inhaltliche ethische Regelungen den Religionen trotz ihrer Verschiedenheiten gemeinsam sind.
Dabei ist mir immer wieder die "Goldene Regel" ein wichtiges Beispiel, die sich in vielen Kulturen, Religionen und ethischen Lebensentwürfen findet: Was du nicht willst, was man dir tut, das füge auch keinem anderen zu. Damit kann man wenigstens einmal beginnen. Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang nicht vergessen zu sagen, dass man auch zunächst einmal einig sein kann in dem, was man ethisch ablehnt. Wenn wir dies mutig im Eintreten gegen Unmenschlichkeit gemeinsam vollbringen, könnten wir vieles vermeiden. Aber auch ein solches Verhalten lebt freilich insgeheim von einem positiven Gegenentwurf, wie es - dies ist die andere Seite - die Goldene Regel ebenfalls formuliert: "Alles, was ihr also von anderen erwartet, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten." (Mt 7,12, vgl. Lk 6,31).
Der schulische Religionsunterricht leistet auch heute für die Moral- und Werteerziehung in unserer Gesellschaft sehr viel mehr, als viele annehmen. Leider haben manche jedoch immer noch eine Zerrform oder Schwundstufe von Religionsunterricht vor Augen, die es praktisch nicht mehr gibt. Eine Gesellschaft, die immer wieder, besonders wenn moralische Skandale offenbar werden, nach einer Erziehung auf Werte hin schreit, kann sich nicht mit dem kleinsten gemeinsamen Nenner begnügen. Der Pluralismus verlangt zwar Toleranz und Religionsfreiheit, aber er gibt auch den Raum frei, gelebte Überzeugungen, die werthaltig sind, entschieden und bestimmt in aller Öffentlichkeit zu vertreten, und zwar nicht nur aus der distanzierten Sicht allein des Wissens, sondern in der durchaus reflektierten, als plausibel zu erhellenden Einsatzbereitschaft für die christliche Botschaft. Zur individuellen Religionsfreiheit gehört auch die korporative, zur negativen die positive. Darum kann ich mir nicht vorstellen, dass Teile der Gesellschaft und einzelne Länder auf diese Unterstützung in der Werte- und Moralerziehung auf die Dauer gänzlich verzichten, obgleich die christliche Religion sich nicht auf diese Aufgabe beschränkt. Schon gar nicht kann ich, auch von der geltenden Verfassung her, verstehen, dass dafür ein neues Fach geschaffen werden muss, das ohnehin viele Fragen aufwirft. Wenn es aber schon eingerichtet wird, richten sich unser Unbehagen und die erwähnte Verfassungsklage nicht zuerst und vorwiegend gegen das Fach LER als solches, sondern gegen die Vorenthaltung eines grundgesetzlich verbürgten Rechtes auf Erteilung von schulischem Religionsunterricht und vor allem gegen die dadurch mitbedingte Monopolstellung. Dies und nichts anderes steht demnächst endlich beim Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung an.

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