| Pressemeldung

Statement des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz, bei der Pressekonferenz "Woche für das Leben" am 25. April 2001 in Berlin

Sperrfrist: 25.04.2001 - 10:00 Uhr
Die aktuelle Diskussion über das Euthanasie-Gesetz in den Niederlanden hat dem Thema unserer diesjährigen "Woche für das Leben" eine ungewollte und traurige Aktualität verliehen. Es ist zwar ein eigenes Thema, aber es hat auch einen unleugbaren Zug zur Situation. Unter dem Titel "Menschen würdig pflegen" stellen wir ein Kontrastprogramm zur Gesetzgebung in den Niederlanden, zur bewussten und aktiven Beendigung des Lebens eines Menschen, vor. Wir werben um Zuwendung und um Begleitung, wenn Menschen auf Hilfe angewiesen sind. Auf die Kälte der Todesspritze antworten wir mit menschlicher Nähe und der Hilfe zur Bewältigung auch schwierigster Lebenssituationen.
Kein Leben ist lebensunwert. Weder das eines schwer behinderten Menschen, noch das Leben, das sich auf den Tod vorbereitet. Wir können einen Menschen nicht aus unserer Gemeinschaft entlassen, indem wir ihn töten. Das ist gegen Gottes Gebot und widerspricht einer human gestalteten Gesellschaft. Die Hospizbewegung zeigt den Weg, wie eine Sterbebegleitung durch Nähe und Zuwendung möglich ist. Sie zeigt auch, dass es zusammen mit der Palliativmedizin eine echte Alternative gibt.
Die "Woche für das Leben", die in diesem Jahr zum elften Mal durchgeführt wird, wirbt für den Schutz des Lebens in allen Bereichen und unabhängig davon, in welchem Zustand das Leben sich befindet. Wir haben in den zurückliegenden Jahren den Bogen gespannt vom Anfang des Lebens bis zu seinem Ende und auch die Frage gestellt, ob das Umfeld, in dem wir leben, immer lebensfördernd ist. Wir sagen ein klares Ja zum Leben und wir wollen möglichst viele Menschen motivieren, mit uns gemeinsam diesen Weg zu gehen. Dabei verkennen wir nicht die vielfältigen existenziellen und mitunter verzweifelten Notlagen in die Menschen - verschuldet oder unverschuldet - geraten können.
Wir haben das Ziel, unsere Gesellschaft wirklich lebensfreundlich zu gestalten und dabei besonders die hilfsbedürftigen Menschen im Blick zu haben. Wahrscheinlich erreichen wir dieses Ziel nie ganz. Wir werden dieses Ziel aber ständig anmahnen. Angesichts der demographischen Entwicklung und der steigenden Kosten im Gesundheitssystem gewinnt der gesamte Bereich der Pflege eine immer größere Bedeutung. Hier wird sich zeigen, wie human wir einen Bereich gestalten können, der nicht zu den produktiven gehört, der aber darüber entscheidet, wie menschlich unsere Gesellschaft ist. Wir wollen dies noch stärker als bisher in das öffentliche Bewusstsein bringen.
Krankheit, Behinderung und Sterben gehören zu unserem Alltag. Sie führen dem Menschen seine Endlichkeit und Begrenztheit vor Augen. Häufig sind wir allerdings versucht, diesen Grenzerfahrungen zu entfliehen. Wir klammern sie aus unserem Denken und Planen so lange aus, wie es geht - dabei allerdings oft genug auch die konkreten Mitmenschen um uns herum, die unsere Nähe, unseren Zuspruch und unsere ganz alltägliche Hilfe so dringend bräuchten. Und doch wird jede und jeder von uns früher oder später mit dieser Erfahrung konfrontiert, sei es durch das Schicksal von Angehörigen, Arbeitskollegen oder Freunden, sei es durch eigenes Erleben.
Wir handeln dabei aus unserer christlichen Überzeugung heraus. Das Zeugnis Jesu ist geprägt von seiner Nähe zu den Kranken und Schwachen: "Ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht" (Mt 25,36). Jesus Christus fordert uns zu tätiger Nächstenliebe heraus. Seine Worte und Taten erweisen sich als Anzeichen der anbrechenden Gottesherrschaft. Im Heilen von Krankheiten (vgl. Joh 4, 43-54; 5,1-18; 9,1-12 u.a.), im Austreiben der Dämonen (vgl. Lk 4,33 ff.; 4,40f; 8, 26-39 u.a.) und in der Vergebung der Sünden (vgl. Lk 7, 36-50; Joh 8,1-11) macht Jesus deutlich, dass das Reich Gottes bereits gegenwärtig ist. In seiner Nachfolge zu leben, heißt folglich, im glaubwürdigen Tun die Kraft des christlichen Glaubens zu bezeugen (vgl. Jak 2,14-26). Die Nächstenliebe ist die Nagelprobe auf die Gottesliebe (Mt 22,34-40 ). Es ist daher nicht nur zu fragen: Wer ist mir der Nächste?, sondern vielmehr: Wem kann ich zum Nächsten werden? (vgl. Lk 10,25-37).
Christlicher Glaube nimmt Leid und Krankheit ernst. Gelegentlich wird uns unterstellt, Leid und Leiden zu verherrlichen. Manche fragwürdige Erklärungsversuche über die rechte Einordnung des Leides wirken bisweilen heute noch nach. Christlicher Glaube vertröstet aber nicht auf ein Jenseits, so gewiss er gerade angesichts des Todes Trost ist. Christlicher Glaube ist herausgefordert, im Sinne Jesu das Übel und das Leid hier und jetzt in dieser Welt zu bekämpfen und alles dafür zu tun, es zu mindern. Dabei ist sich gerade der gläubige Mensch der Tatsache bewusst, dass es trotz allen Fortschritts in Medizin und Technik und trotz aller menschlicher Bemühungen eine "heile Welt" niemals geben kann. Menschliches Leben ist und bleibt endlich und begrenzt.
Schon in ihren ersten Anfängen gehörte es daher zum Wesensmerkmal und Erkennungszeichen der christlichen Gemeinde, dass sie die Alten, die Witwen, die Waisen, die Kranken und Ausgestoßenen in ihre Mitte aufnahm und ihnen Hilfe und Unterstützung zuteil werden ließ (vgl. Apg 6,1-7). Im Mittelalter widmeten sich Männer und Frauen in Spitälern und Hospizen den Kranken und Ausgestoßenen, weil sie in ihnen Jesus Christus selber erkannten. Häufig bildeten diese Häuser die einzige Zufluchtsstätte. Hier erfuhren die, um die sich niemand mehr kümmerte, Gastfreundschaft und Pflege. In dieser Zeit entstanden viele Frauen- und Männerorden, die sich die Pflege Kranker und Sterbender zur Lebensaufgabe machten. Dieser Tradition sehen sich viele kirchliche, caritative und diakonische Gemeinschaften und Einrichtungen auch heute noch verpflichtet. Sie haben diese Dienste über Jahrhunderte wahrgenommen und professionell ausgestaltet. Wir schulden ihnen großen Dank.
Im Erkennen und Anerkennen seiner Geschöpflichkeit gewinnt der Mensch die Gewissheit, zu Gott zu gehören. Er hat mich erschaffen und so gewollt wie ich bin: auch mit meiner Behinderung, mit meinem Leiden und zuletzt in meinem Sterben: "Fürchte dich nicht. Denn ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!" (Jes 43,1).
Vor diesem Hintergrund lassen uns die immer schwieriger werdenden Rahmenbedingungen für kranke, behinderte und sterbende Menschen wie auch für diejenigen, die sich um sie sorgen, nicht gleichgültig. Der gesamte Pflegebereich ist zunehmenden Zwängen ausgesetzt. Der wachsende Ökonomisierungsdruck und immer mehr Vorgaben für Qualitätsstandards auf Seiten der Kostenträger drohen die Handlungsfreiheit insbesondere der ambulanten Pflegedienste zunehmend einzuschränken. Dabei bietet gerade der Bereich der ambulanten Pflege vielen Menschen ein Maß an selbstbestimmtem und eigenständigem Leben, das ohne Hilfe von außen nicht mehr möglich wäre.
Wir fordern spürbare Verbesserungen der Rahmenbedingungen besonders im Bereich der Familien, in denen immer noch der größte Anteil an Pflegeleistungen erbracht wird. Es ist erfreulich, dass derzeit sehr intensiv darüber diskutiert wird, wie die Benachteiligung der Familien aufgehoben werden kann. Wir hoffen sehr, dass es nicht nur bei der Diskussion und bei Absichtserklärungen bleibt, wie dies leider schon öfter der Fall war.
In der Bundesrepublik Deutschland werden in den nächsten zehn Jahren bis zu 1,3 Millionen Menschen unter einer altersbedingten Verwirrtheit, an Altersdemenz und anderen Krankheiten leiden. Dieses Krankheitsbild belastet Angehörige und Pflegende schwer. Altersverwirrte Menschen brauchen über Körperpflege und Ernährung hinaus auf Grund der mit der Krankheit verbundenen fortschreitenden Persönlichkeitsveränderung Begleitung in ihrer seelischen, geistigen und sozialen Lage. Dies erfordert eine zeitintensive Pflege und Betreuung, die heute durch den Ökonomisierungsdruck stark gefährdet ist.
Ich möchte aber auch keinen Zweifel lassen, dass die Kirchen sich der Notwendigkeit der Kostenbegrenzung bewusst sind. Wir brauchen einen neuen Gesprächsgang und eine Vermittlung von Ökonomie und Diakonie. Wir müssen noch stärker über die bisherigen Ansätze hinauskommen.
Der Pflege- und Betreuungsbedarf aufgrund von seelischen, geistigen oder sozialen Bedürfnissen der Menschen wird nach dem bestehenden Pflegeversicherungsgesetz jedoch nicht berücksichtigt. Altersverwirrte Menschen werden regelmäßig als nicht pflegebedürftig eingestuft. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der ambulanten und stationären Pflege geraten dabei in einen Zwiespalt zwischen den Leistungen, die abrechenbar sind, und denen, die notwendig sind. Eine besonderen Akzent setzen wir daher in der diesjährigen "Woche für das Leben" im Blick auf diejenigen Menschen, die an Altersdemenz leiden. Hier sind u.a.. folgende Veränderungen notwendig:
Der Pflegebegriff im Pflegeversicherungsgesetz für altersverwirrte Menschen ist zu erweitern;die Finanzierung der Pflegeleistungen muss auch dann sichergestellt sein, wenn der Pflegebedarf nicht durch die Pflegeversicherung abgesichert ist;der Pflege- und Betreuungsbedarf altersverwirrter Menschen ist fachlich zu begutachten;Standard- und Leistungsbeschreibungen zur umfassenden Pflege altersverwirrter Menschen sind in die Vergütungsverhandlungen aufzunehmen.
Die Realisierung dieser konkreten Forderungen ist auch ein Gradmesser dafür, wie viele und welche Ressourcen unsere Gesellschaft im Blick auf kranke, behinderte und sterbende Menschen sowie auf pflegende Angehörige bereit zu stellen willens und in der Lage ist. Wir danken allen Pflegkräften, die trotz großer zeitlicher und nicht selten auch körperlicher Belastung immer wieder versuchen, nicht abzustumpfen, sondern menschliche Zuwendung zu geben. In Krankenhäusern und Altenheimen sind viele Ehrenamtliche tätig, die den Pflegebedürftigen durch Gespräche und kleine Alltagshilfen menschliche Wärme vermitteln. Ihnen allen sagen wir einen herzlichen Dank. Sie sind ein wichtiger Teil einer humanen Gesellschaft, die die Schwachen und Hilfsbedürftigen nicht vergisst und nicht ausschließt. Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass es Pflegefälle in unterschiedlichen Lebenssituationen gibt, so z.B. durch Behinderung von Geburt an, durch später eintretende Behinderung und durch altersbedingte Veränderungen.
Die Deutschen Bischofskonferenz und der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland, der Deutsche Caritasverband und das Diakonische Werk der EKD werden diese Entwicklung auch weiterhin helfend, aber auch kritisch begleiten.

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