| Pressemeldung | Nr. 059

Predigt von Bischof Bätzing in der Osternacht

Hatten Sie in den vergangenen Jahren auch schon einmal den Eindruck, von einem auf den anderen Tag in einer neuen Welt aufgewacht zu sein? Wir machen die Augen auf – und nichts ist mehr wie gewohnt. So jedenfalls ging es mir an jenem 24. Februar 2022, an dem russische Truppen die Ukraine in voller Absicht überfielen, einen souveränen Nachbarstaat auslöschen zu wollen; damit änderten sich auch die geopolitische Lage und Bedrohungssituation in Europa von einem zum anderen Tag. Oder der 16. März 2020: Da wurde der erste Corona-Lockdown für Deutschland beschlossen; eine Woche später fanden wir uns in völlig neuen Alltagsrealitäten wieder – mit kaum abzuschätzenden Folgen, wie wir heute wissen; und die wollen reflektiert und aufgearbeitet sein, wenn wir aus diesen Ausnahmeerfahrungen Lehren für die Zukunft ziehen wollen. Der 7. Oktober 2023: Szenen des Grauens, bei denen ich Tränen der Erschütterung nicht unterdrücken konnte. Extremisten der Hamas überfielen am helllichten Tag israelische Siedlungen; mit unbeschreiblicher Brutalität mordeten und plünderten sie und raubten Geiseln – bis heute ist das Schicksal vieler von ihnen ungewiss; und in der Folge haben Krieg und Zerstörung Zehntausende palästinensische Opfer gefordert und die Lebensgrundlagen in Gaza ruiniert. Für mich gehört aber auch der 20. Januar 2025 zu diesen besagten Tagen, an denen ich mich fast ungläubig gefragt habe, in welcher neuen Zeit wir wohl gelandet sind: Seitdem werden in Nordamerika die demokratischen Strukturen autoritär umgebaut, die Freiheit der Medien wird attackiert, Beamte werden unter Druck gesetzt oder gefeuert, Grenzen dicht gemacht, internationale Vereinbarungen von heute auf morgen aufgekündigt, Handelspartner mit Zöllen belegt – und ein neuer Stil internationaler Politik, der vor Lügen und öffentlicher Demütigung nicht zurückschreckt, erinnert an finstere Zeiten, da Großmächte ohne Rücksicht auf die Souveränität kleiner Staaten und die weltweiten Folgen ihre Einflusssphären miteinander absteckten; und Europa blickt wenig vorbereitet einer ungewissen Zukunft entgegen.

Zeitenwende oder Epochenwandel – wie auch immer künftige Generationen über die Dynamiken unserer Gegenwart urteilen werden, die Geschwindigkeit der Veränderungen und ihre unabsehbaren Folgen für die Zukunft überfordern, verunsichern und ängstigen heute viele.

Von Umbruchzeiten ganz eigener Güte wissen die biblischen Lesungen der Osternacht zu erzählen. Der Anspruch, den sie vermitteln, ist nicht weniger grundlegend, als wir es derzeit verspüren; doch er klingt ausgesprochen verheißungsvoll. Der Schöpfungsbericht der Bibel Israels umschreibt die Wende schlechthin: von Wirrsal und Finsternis hin zu Licht und Dasein. Zeit und Raum und alles Leben verdanken sich dem Willen Gottes und seiner Großzügigkeit; so entstand unsere wunderbare Welt. Zur Gründungsgeschichte des Volkes Israel gehört die Erzählung vom Auszug aus Ägypten: Auf Gottes Ruf hin und unter seiner Führung gelingt der migrantischen Gruppe der Hebräer ihr Ausbruch aus drückender Fremdbestimmung und der Durchzug durch ein Meer von Gefahren hinein in die Freiheit. Seither wird Gott als Garant dieser Freiheit verehrt. Jahrhunderte später brechen wieder neue Zeiten an, eine Schicksalswende, als die Zeit des Exils in Babylon für Gottes eigenes Volk zu Ende geht: Prophetische Bilder einer verlockenden Zukunft in Gerechtigkeit und Sicherheit wecken die Lebensgeister in zwei den Exilanten; es geht nach Hause! Verstörend und kaum zu glauben ist schließlich, was sich den Frauen am Grab ihres Meisters bietet: Er sei auferstanden, wie er es ihnen zu Lebzeiten vorausgesagt habe, so leuchtet es ihnen ein – und die Frauen erschrecken angesichts dieser grundstürzenden Wende. Der gekreuzigte Jesus lebt – wer will es den Aposteln verübeln, eine solche Nachricht im ersten Moment für unglaubwürdiges Geschwätz zu halten. Der Apostel Paulus bringt schließlich auf den Punkt, was wir dem Zeugnis der Frauen verdanken: Die alles entscheidende Zeitenwende hat sich längst ereignet, nämlich in der Nacht, die vor dem Ostermorgen liegt, als der Gekreuzigte auferweckt wurde. Und wir sind in eine neue Epoche übergegangen, als wir bei der Taufe mit ihm begraben wurden, um wie Christus in der Wirklichkeit des neuen Lebens „aufzutauchen“. Von der Verlorenheit zur Rettung, von der Verzweiflung zur Hoffnung, aus Fesseln zur Freiheit – Paulus ist überzeugt: Seit Ostern ereignet sich die Transformation dieser „alten“ Welt in eine neue verheißungsvolle Gestalt; und wir stehen bereits auf der österlichen Seite.

Doch Vorsicht! Der Brustton der Gewissheit passt nicht zu Ostern. Denn die Bilder, die uns in den Ostererzählungen begegnen, laufen nicht auf Eindeutigkeit hinaus. Sie bleiben schillernd, müssen gedeutet werden, fordern schließlich den Glauben heraus. An die Auferstehung glauben, das meint vor allem „die Unerträglichkeit des Todes mitten im Leben“ (Fulbert Steffensky, Schutt und Asche. Streifzüge durch Bibel und Gesangbuch, Stuttgart 2023, 123). Es bedeutet also, den Tod nicht hinzunehmen, wenn er Menschen mitten im Leben mit Hunger und Armut schlägt, mit Folter und fehlenden Zukunftsperspektiven. An die Auferstehung zu glauben heißt, nicht tatenlos zuzusehen, wenn wir unseren kostbaren Lebensraum „Erde“ eigenhändig ruinieren; wenn religiöser Fanatismus zu Krieg und Terror anstachelt, statt dem Frieden und der Verständigung unter Menschen zu dienen; nicht tatenlos zuzusehen, wenn die Stärke des Rechts in der internationalen Politik sehenden Auges durch das Recht des Stärkeren abgelöst wird. An die Auferstehung glauben bedeutet vor allem, uns dagegen zu verwehren, dass Gott mehr und mehr aus dem Alltag verdrängt wird. In der Wirklichkeit des neuen Lebens zu wandeln, wie Paulus es beschreibt, das ist sehr konkret, es fordert Konsequenzen – und ist heute mehr denn je ein Kraftakt, eine Entscheidung mit Folgen.

Der Sinn der jährlichen Osterfeier besteht für mich darin, unseren Halt suchenden Herzen und unserer wankenden Vernunft zu dieser Glaubensentscheidung aufzuhelfen. Denn wir leben heute in einer Welt ohne offensichtliche Wunder. „Aber wir haben noch die Erzählungen von den großen Taten Gottes“, davon ist der Theologe Fulbert Steffensky (*1933) überzeugt. Und weiter meint er: „Man sollte keine falschen Fragen stellen, etwa ob diese Geschichten geschehen sind, wie sie erzählt werden. Man kann sie hören wie eine große Musik der Hoffnung. Wenn man sie hört, überlässt man sich einem großen Traum, und es wird nur das kommen, wovon man schon einmal geträumt hat“ (Fulbert Steffensky, a. a. O., 79). Kein Wunder also, dass Ostern jedes Jahr unsere Sinne anregt und in wohltuende Spannung versetzt: All die Musik, die Gesänge und Lieder, das Zwitschern der Vögel – ein Ohrenschmaus; die wieder erwachte Natur mit Farbenpracht und überwältigenden Düften – Balsam für Augen und Nase. Frühlingswetter, das zum Spazieren, Laufen, Radfahren anregt und aus winterlicher Lethargie erweckt.

So wird der Lebensgeist der Hoffnung geweckt, auch dort, wo sich zuvor Ängstlichkeit und Trauer allzu breit machen wollten. Und ein Gaumenschmaus gehört natürlich auch dazu: „Halleluja“ heißt übrigens Europas Eissorte des Jahres 2025 – passend zum Heiligen Jahr. Wie es schmecken wird, darüber hat ein Rezeptwettbewerb vor vier Wochen bei einer Fachmesse im italienischen Rimini entschieden. „Halleluja“ soll ab jetzt in vielen europäischen Eisdielen angeboten werden. Was für eine schöne Idee: Ostern als Vorgeschmack. Der große Traum einer Zeitenwende, der sich erfüllt, weil Gott ihn mit uns träumt seit jener Nacht, da Jesus vom Tod erstanden ist. Amen, Halleluja!


Lesungen: Gen 1–2; Ex 14–15; Jes 55; Röm 6,3–11
Evangelium: Lk 24,1–12


Hinweis:

Die Predigt von Bischof Dr. Georg Bätzing in der Liturgie der Osternacht ist untenstehend auch als PDF-Datei verfügbar.