| Pressemeldung | Nr. 146

Predigt von Bischof Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, in der Eucharistiefeier zur Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz

Liebe Schwestern und Brüder,

mal erwartbar und mal völlig unerwartet – so gehen uns die biblischen Texte heute an. Und sie beschreiben damit zwei Dynamiken, die mir aus meiner Lebens- und Glaubenserfahrung wohlbekannt sind.

Um leben zu können, braucht es Verlässlichkeit. Wer meint, die Welt und sich selbst immer neu erfinden zu müssen, der wird bald außer Atem geraten. Wiederholungen, gute Gewohnheiten, Zeremonien und Riten verleihen Stabilität. Das gilt für den Alltag, und es gilt auch im Glaubensleben.

Im Buch der Sprichwörter wurden im Laufe von beinahe 500 Jahren Lebensweisheiten zusammengetragen, die aller Erfahrung nach zutreffen und mit gesundem Menschenverstand erwartbar sind. 13 davon wurden uns eben vorgetragen. 35 dieser Aphorismen werden im Neuen Testament aufgegriffen. Wahre Weisheit behält eben ihren Wert in alten und neuen Zeiten. Was die Sprichwörter insgesamt verbindet und wie eine Art Wasserzeichen für die Verlässlichkeit der von Gott geschaffenen Welt spricht, das ist der sogenannte Tun-Ergehen-Zusammenhang, kurz: Wer Gutes tut, der erfährt Glück und Segen; wer böse handelt, der holt sich die Folgen ins eigene Haus. Ob stehenden Fußes oder irgendwann in einer länger gedehnten Zeit oder erst im Gericht vor Gottes Angesicht, darauf legt die Weisheit des Alten Testamentes sich nicht fest. Im Angesicht der großen weltweiten Krisenphänomene unserer Zeit spricht viel für die Zuverlässigkeit dieses Grundgedankens. Unsere Art zu denken und zu leben, unsere innersten Impulse prägen uns und bestimmen auch unsere Zukunft – positiv wie negativ. Was also erwartbar und aus einzelnen Erfahrungen längst zu Überzeugungen geronnen ist, das darf, ja das sollte uns als Orientierung dienen.

„Jeder meint, sein Verhalten sei richtig, doch der Herr prüft die Herzen“ (Spr 21,2). Wenn wir Bischöfe in diesen Tagen miteinander diskutieren, wenn wir uns offen begegnen und auch Kontroversen nicht verbergen, dann mag diese Weisheit uns leiten, einander aufmerksam zuzuhören und die Wahrheit im Sprechen des anderen eher groß zu machen und retten zu wollen, als sie ungeschätzt zur Seite zu legen. Ignatius von Loyola, der Meister der geistlichen Unterscheidung und gemeinsamen Vergewisserung, regt dazu an.

Das Buch der Sprichwörter ist aber nicht nur eine Sammlung von bewährten Lebensweisheiten, die für jeden und überall gelten. Sie rechnen mit der Unverfügbarkeit Gottes und mit seinem Handeln in der Geschichte. Gläubige Weisheit rechnet mit Gott. Sie akzeptiert die Grenzen menschlichen Tuns, unserer Möglichkeiten und unserer Macht. Sie rechnet damit, dass Gott die erwartbaren Verhältnisse auch einmal auf den Kopf stellt und auf diese Weise die Gottesherrschaft mitten in der alten, auch von Schuld und Scham und Sünde gezeichneten Welt aufrichtet. Im Magnifikat besingt Maria diesen wunderbaren unverfügbaren Gott.

Dass dieser Gott für sie selbst nicht bloß kleine schöne Überraschungen bereithält, sondern manche Irritation und große Zumutungen, die die Zukunftsvorstellungen einer jungen jüdischen Frau völlig durcheinanderwirbeln, das wurde ihr bereits beim ersten überraschenden Eintreten Gottes im Haus von Nazaret deutlich; heute trifft es Maria in der Szene des Evangeliums erneut ziemlich unerwartet. Distanziert sich Jesus hier von seiner Mutter und seiner Familie? Weist er sie schroff ab? Oder trägt er nicht die Zumutung des Glaubens auch und gerade an die heran, die ihm Familie sind, damit sie in die Gottesherrschaft einbezogen, zur Nachfolge eingeladen, als Hörerinnen und Hörer des Wortes aufbrechen in die neue Zeit, in der Gott alles daransetzt, Menschen zur Freiheit zu befreien (vgl. Gal 5,1)? Offensichtlich ist es Jesus bei seiner Mutter und seinen Brüdern ja gelungen, aus erwartbaren Konstellationen und Konventionen heraus seine überraschende Einladung auszusprechen. Denn die Mutter und einige seiner Brüder gehören ja zur Keimzelle der Kirche, der Hörerin des Wortes.

Erwartbar und überraschend, so gehen uns die biblischen Texte heute an. So wirkt der christliche Glaube auf unser Leben ein und verändert uns.

Vor drei Wochen war ich während der Visitation wie üblich an einem Abend mit einer Gruppe ehrenamtlicher Gremienmitglieder im Gespräch. Sorge und Bedrückung bei diesen engagierten Frauen und Männern waren für mich förmlich zu spüren. Alle Kraftanstrengungen, alles Nach- und Vordenken scheint den grassierenden Zerfall einer zu Ende gehenden Kirchengestalt nicht aufzuhalten. Es ist frustrierend und geistlich zermürbend, dagegen anzukämpfen. „Wie stoppen wir die Krise, damit es wenigstens wieder ein bisschen wird wie früher? Was wird denn sonst aus uns? Wie könnten wir Interessierte in neuen Bibelkreisen sammeln?“ Selten habe ich hinter den vielen Fragen den Druck so gespürt, der auf den Gläubigen lastet. Und irgendwann kam mir der Geistesblitz: „Wenn wir, wenn Sie in diesem Gremium nicht der Bibelkreis sind, dann wird es in Zukunft in dieser Pfarrei auch keinen geben.“ Im weiteren Verlauf des Gespräches war deutlich zu spüren: Damit habe ich die Engagierten nicht noch zusätzlich belastet, sondern die Last des Machen-Müssens und des Weiterlaufens im Hamsterrad unterbrochen. Es gibt in unserer Kirche die Gefahr der „Selbstverholzung“. Denken und wollen, was wir immer gedacht und gewollt haben. Tun, was wir immer getan haben. Es leuchtet im Grunde das am meisten ein, was immer schon war. Wen wundert es, dass um uns herum so wenig Lebendigkeit blüht, wenn wir doch offensichtlich auf dem Holzweg sind. Jesus bestätigt uns nicht in den alten Konventionen. Die Heilige Schrift hält viel von Kontinuität, Treue und Verlässlichkeit. Aber offensichtlich hält sie noch mehr von Wachstums- und Weggeschichten; sie zeigt nicht selten sogar eine Vorliebe für Veränderung aus Brüchen und Aufbrüchen heraus, wenn es dem Heil der Menschen dient. Warum sonst sollte Gott das Opfer eines zerschlagenen Herzens gefallen (vgl. Ps 51,18; Joel 2,13), warum sonst verspricht er wieder und wieder ein neues Herz und einen neuen Geist (vgl. Ps 51,11)? Umkehr, das erste Predigtwort Jesu, bedeutet sicher nicht nur für den einzelnen Gläubigen die Herausforderung, sich von sich selbst zu verabschieden. Auch die Kirche steht bei aller Verlässlichkeit ihres Glaubensbekenntnisses nur dann in der Linie der Treue Gottes, wenn sie sich selbst unterbrechen lässt und neu zu denken und zu handeln lernt, um mit den Menschen und an ihrer Seite nach echter Freiheit zu streben.

Liebe Schwestern und Brüder, ich finde die Frage falsch gestellt: Wie stoppen wir die Krise? Mir scheint, in der Logik Jesu werden wir umgekehrt fragen lernen: Worin stoppt die Krise uns? Denen, „die das Wort Gottes hören und danach handeln“ (Lk 8,21), wird dabei nicht Angst und Bange werden, sondern Mut und Freude in größerer Gemeinsamkeit zuwachsen. Das gebe Gott, denn so ist es seine Art.

Lesung:    Spr 21,1–6.10–13
Evangelium:     Lk 8,19–21

Hinweis:

Die Predigt von Bischof Bätzing ist unten auch als pdf-Datei verfügbar.

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