| Pressemeldung | Nr. 054

Predigt von Bischof Dr. Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, in der Eucharistiefeier zum Gründonnerstag

Hoher Dom zu Limburg am 14. April 2022

„Dies ist ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein gewaltiger Sprung für die Menschheit.“

Liebe Schwestern und Brüder im Glauben,

beinahe jeder Mensch kennt den berühmten Ausruf von Neil Armstrong, als er im Juli 1969 als erster Mensch den Mond betrat. Ein kleiner Schritt – ein großer Sprung: Das trifft immer dann zu, wenn es in der Geschichte der Menschheit zu einem echten Durchbruch kommt, wenn die alten Muster bisherigen Erkennens und Denkens, Glaubens oder Handelns durchbrochen werden in neue Sphären hinein, die die Zukunft dann nachhaltig bestimmen. Die Erfindung des Alphabets am Ende des zweiten Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung durch die Phönizier gehört etwa dazu oder der Durchbruch in der Buchdruckerkunst mit dem Einsatz von Einzellettern durch Johannes Gutenberg. Ähnlich bedeutsam waren die Erkenntnis, dass die Erde sich um die Sonne dreht – und nicht umgekehrt, die naturwissenschaftlich erforschte Hypothese der Evolution alles Lebendigen oder die zufällige Entdeckung des Penicillin als erstes Antibiotikum durch Alexander Fleming im Jahr 1928. Einige andere Erfindungen, wie die des Internets in unseren Tagen, haben sich vergleichbar revolutionär auf unser Leben ausgewirkt. Im religiösen Denken gehört der Durchbruch zum Monotheismus hinzu, die Erkenntnis des einen allumfassenden Gottes, die in Ägypten vorbereitet war, aber als Alleinstellungsmerkmal des Judentums weiter und weiter entwickelt jene Fundamente des Glaubens geformt hat, auf denen unsere christliche Gottesvorstellung aufruht.

„Dies ist ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein gewaltiger Sprung für die Menschheit.“ Nichts weniger ist die Zeichenhandlung der Fußwaschung, die Jesus im Abendmahlssaal vollzieht, als ein echter Musterbruch. Denn sie stellt die Verhältnisse auf den Kopf. Und das macht es dem Petrus so schwer, sich darauf einzulassen. Meister und Jünger, Lehrer und Schüler, Herr und Knecht, Messias und gläubiger Anhänger, Gott und Mensch: Bislang konnte jeder wissen, was diese Verhältnisbestimmung für das eigene Verhalten bedeutet. Jedem war klar, wer oben und wer unten steht. Jetzt plötzlich geht der Herr auf die Knie, um einen Knechtsdienst an seinen Freunden zu verrichten. Jetzt ist der Platz des Christus ganz unten beim Staub der Füße. Von nun an wird Gott nicht mehr ausschließlich und vor allem in der unerreichbaren Ferne des Himmels und des Tempels verehrt, sondern dort, wo Menschen sich anderen zuwenden.

„Ubi caritas et amor, Deus ibi est. – Wo die Güte und die Liebe wohnt, dort nur wohnt der Herr.“ Was uns – angelehnt an den 1. Johannesbrief – als Begleitgesang bei der Fußwaschung im Abendmahlsgottesdienst (GL 442) ins Ohr dringt, will als Signal unser Herz erreichen. Aufgepasst, Mensch: Hier ist Umstürzendes im Gang. Gott geht auf die Knie, er entmachtet sich um unseretwillen, weil er uns in seiner Liebe auch da nahe sein will, wo wir unansehnlich geworden sind, verletzt oder in uns selbst gefangen. Im Abendmahlssaal „nur“ ein Zeichen, aber was heißt schon „nur“? Für Jesus ist es eine Ausdruckshandlung, mit der er bündelt, was er während seines Lebens getan und verkündet hat. Was darauf folgt, ist radikale Treue zu seinem gewählten Weg: Erst gibt er sich unter den Zeichen von Brot und Wein den Seinen ganz zu eigen, um sie auf diese Weise mit sich zu verbinden. Und dann überlässt er sich dem Willen Gottes und gibt sein Leben hin. Güte und Liebe bis zuletzt überwinden sogar Hass und Gewalt. Jesus lebt die Feindesliebe und durchbricht damit ein letztes, fast wie ein ehernes Gesetz gültiges „Muster“ menschlicher Gewohnheiten. Er stirbt und wird begraben, tot mit den Toten. Unausweichliches Schicksal jedes Menschen. Nicht auszudenken, was geschieht, wenn „die Güte und die Liebe in Person“ diese undurchdringliche Mauer durchdringt, die Tod und Leben voneinander trennt. Das muss der Durchbruch schlechthin sein, Leben, das den Tod bezwingt.

Der eine Schritt Jesu auf seine Jünger zu, die eine Bewegung nach unten, das so eindrucksvolle Zeichen der Fußwaschung – es ist wahrhaftig ein gewaltiger Sprung für die Menschheit, der Sprung in eine Welt mit ganz neuen Vorzeichen. „Der tiefste Grund für die Menschwerdung Christi war der Wille Gottes, uns seine Liebe zu zeigen und sie uns nachdrücklich ans Herz zu legen“, hat der heilige Augustinus (354–430) gesagt. Ja, beides stimmt: Jesus zeigt, wie weit Gott in seiner Güte und Liebe zu gehen bereit ist. Und: Er legt uns nachdrücklich ans Herz, so zu handeln wie er (vgl. Joh 13,15). Und das muss keine völlige Überforderung sein, denn es genügt ein Schritt. Nur ein Schritt. Stellen Sie sich vor, liebe Schwestern und Brüder, es könnte gelingen, in einer anstrengenden und festgefahrenen Beziehung nur einen Schritt zu tun aus Güte und Liebe, eine Bewegung der Demut, ob sie nicht manches lösen würde? Nur ein solcher Schritt der Kriegstreiber, eine Bewegung aus der Gewaltlogik heraus, ein Zeichen von Güte und Liebe: Es könnte der Anfang des Friedens sein. Oder eine kleine Entscheidung im Kaufverhalten und in der persönlichen Lebensführung, konsequent gelebt, mit der ich meine Einstellung zur Schöpfung verändere und Verantwortung für Nachhaltigkeit und Klimaschutz übernehme, sie wäre ein Beitrag zur Rettung unseres Erdenhauses. Nur ein einziger Schritt, vielleicht der Entschluss, doch wieder am Sonntag die Gemeinschaft im Gottesdienst zu suchen und jeden Tag für ein paar Minuten persönlich zu beten, es würde von innen heraus etwas ändern am Erscheinungsbild der Kirche. Immer nur ein kleiner Schritt.

Der deutsch-iranische Schriftsteller Navid Kermani (* 1967) hat sein neues Buch Fragen nach Gott gewidmet, auf die er im Gespräch mit seiner Tochter persönlich, sensibel und meisterhaft poetisch Antworten entwickelt (Navid Kermani, Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen. Fragen nach Gott, München 2022). Schon der Titel lässt erkennen, welche Bedeutung er einer Begebenheit zumisst, die er in den Memoiren seines Großvaters entdeckte: „Als Scheich Abu Saíd, einer der berühmtesten Mystiker des elften Jahrhunderts, einmal nach Tus kam, einer Stadt im Nordosten des heutigen Irans, strömten in Erwartung seiner Predigt so viele Gläubige in die Moschee, dass kein Platz mehr blieb. ‚Gott möge mir vergeben‘, rief der Platzanweiser: ‚Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen.‘ Da schloss der Scheich die Versammlung, bevor sie begonnen hatte. ‚Alles, was ich sagen wollte und sämtliche Propheten gesagt haben, hat der Platzanweiser bereits gesagt‘, gab er zur Erklärung, bevor er sich umwandte und die Stadt verließ: ‚Jeder soll von da, wo er ist, einen Schritt näher kommen‘.“ (32 f.) Nicht auszudenken, welch neuer Lebensraum offenstünde, wenn jede und jeder nur einen einzigen Schritt aus Güte und Liebe machte!

Lesungen: Ex 12, 1 Kor 11
Evangelium: Joh 13,1–15

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