| Pressemeldung | Nr. 178

Stellungnahme zur Arbeitsmarktintegration ukrainischer Geflüchteter in Deutschland

Die Migrationskommission der Deutschen Bischofskonferenz hat am 30. Oktober 2024 in Berlin ein Fachgespräch zum Thema „Arbeitsmarktintegration ukrainischer Geflüchteter“ durchgeführt. Erzbischof Dr. Stefan Heße, Vorsitzender der Migrationskommission, und Bischof Dr. Bohdan Dzyurakh CSsR, Apostolischer Exarch für die Ukrainer des byzantinischen Ritus in Deutschland und Skandinavien, halten im Anschluss daran gemeinsam fest:

„Vor über zweieinhalb Jahren hat Russland seinen brutalen, groß angelegten Angriffskrieg gegen die gesamte Ukraine begonnen. Von Anfang an stand für die katholische Kirche in Deutschland fest: Wir stehen an der Seite des ukrainischen Volkes. Mehrere deutsche Bischöfe haben – auf Ebene der Deutschen Bischofskonferenz und auf diözesaner Ebene – die Ukraine besucht, um Zeichen der Solidarität zu setzen. Die Kirche engagiert sich stark, um das Leid der Menschen zu lindern, sowohl in der Ukraine selbst als auch in den Nachbarstaaten. Die Nothilfe in der Ukraine und der Einsatz für ukrainische Geflüchtete in Deutschland sind zu wichtigen Schwerpunkten kirchlichen Handelns geworden und werden es auch weiterhin bleiben.

In Deutschland leben derzeit 1,2 Millionen ukrainische Geflüchtete. Die überwiegende Mehrheit von ihnen sind Frauen und Kinder. Je länger der Krieg andauert, desto mehr denken viele geflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer darüber nach, auch längerfristig in Deutschland zu bleiben. Diese Menschen haben den Wunsch, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren und – trotz aller Schrecken in ihrem Heimatland – ein möglichst normales Leben zu führen. Damit sich so etwas wie Alltag entwickeln kann, ist es notwendig, dass deutsche Sprachkenntnisse erworben werden, ukrainische Kinder hier Kitas und Schulen besuchen, erwachsene Geflüchtete einer Arbeit nachgehen, reguläre Wohnungen an die Stelle provisorischer Unterkünfte treten und freundschaftliche Beziehungen wachsen können.

In letzter Zeit hat vor allem die Frage der Arbeitsmarktintegration ukrainischer Geflüchteter für Diskussionen gesorgt, nicht selten auch mit abwertendem Unterton. Wie aus einer Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) hervorgeht, lag die Beschäftigungsquote ukrainischer Geflüchteter in Deutschland zum Ende des 1. Quartals 2024 bei 27 Prozent. Damit bewegt sie sich im europäischen Mittelfeld. Zum Vergleich: Während die Quote in Rumänien zuletzt nur 7 Prozent und in Spanien 18 Prozent betrug, lag sie in Polen bei 48 Prozent und in Litauen sogar bei 57 Prozent(1).  Die Studie zeigt jedoch auch, dass die Beschäftigungsquoten in unterschiedlichen Ländern nur eingeschränkt miteinander vergleichbar sind. Relevante Faktoren sind etwa die demografische Zusammensetzung der Gruppe der Geflüchteten, bereits bestehende ukrainische Netzwerke, die Arbeitsmarktlage und die Bedarfe des Arbeitsmarkts im jeweiligen Aufnahmeland, institutionelle und politische Rahmenbedingungen (sei es mit Blick auf die Anerkennung von Qualifikationen, die Verfügbarkeit von Kinderbetreuung oder integrationspolitische Ansätze) sowie zu überwindende Sprachbarrieren. Wenn wir in unser Nachbarland Polen blicken, fällt beispielweise auf, dass es hier schon vor 2022 eine deutlich größere Zahl ukrainischer Arbeitsmigranten gab, weshalb Geflüchtete auch bei der Arbeitsmarktintegration stärker auf bestehende Strukturen zurückgreifen können. Hinzu kommt, dass auf dem polnischen Arbeitsmarkt ein höherer Bedarf an Beschäftigungsverhältnissen mit geringer Qualifizierung besteht und auch die sprachlichen Hürden in Polen niedriger sind.

Diese differenzierten Ergebnisse werden im öffentlichen Diskurs oft noch zu wenig rezipiert. Stattdessen ist die Debatte über die Arbeitsmarktintegration ukrainischer Geflüchteter teilweise von Vorurteilen geprägt: Die Geflüchteten seien arbeitsunwillig und der Bezug von Sozialleistungen würde dem Anreiz zur Arbeitsaufnahme entgegenstehen – so lauten zwei stereotype Begründungsmuster, die durch einschlägige Studien mittlerweile widerlegt wurden.

Uns ist es wichtig, in dieser Debatte die Menschen, um die es geht, nicht aus dem Blick zu verlieren. Hinter den Prozentzahlen stehen Menschen, die durch eine Erfahrung verbunden sind: Der traumatische Angriff Russlands auf die Ukraine ist für sie weiterhin bittere Realität, auch mit geografischer Distanz. Es braucht Zeit, bis die Wunden, die der Krieg schlägt, heilen können. Auch die Erkenntnis, dass eine Rückkehr in das alte Leben zumindest auf mittlere Sicht nicht möglich sein wird, ist mit Schmerzen verbunden. Es gilt, den geflüchteten Menschen mit Empathie zu begegnen.

Gleichzeitig wissen wir sowohl aus den praktischen Erfahrungen der kirchlichen Beratungsstellen als auch aus empirischen Erhebungen: Neben dem Bedürfnis, die ukrainische Identität zu bewahren, gibt es unter Ukrainerinnen und Ukrainern eine große Bereitschaft, sich in Deutschland zu integrieren. So sind die allermeisten Geflüchteten aus der Ukraine hoch motiviert zu arbeiten(2).  Dies spiegelt sich auch in den Zahlen wider, die die Bundesregierung zuletzt veröffentlicht hat: Neben den 213.000 ukrainischen Geflüchteten, die bereits in Deutschland arbeiten, befinden sich 100.000 erwerbsfähige Ukrainerinnen und Ukrainer in Integrationskursen. Weitere 65.000 Personen bereiten sich im Rahmen einer schulischen, beruflichen oder universitären Ausbildung auf den deutschen Arbeitsmarkt vor(3).  Ukrainische Geflüchtete haben ein überdurchschnittliches Bildungsniveau: Mehr als zwei Drittel verfügen über Hochschul- oder Universitätsabschlüsse. Gerade unter jungen Ukrainerinnen und Ukrainern gibt es eine große Bereitschaft, selbst unternehmerisch tätig zu werden. Insgesamt besteht also Anlass zur Zuversicht, dass die Mehrheit der ukrainischen Geflüchteten erfolgreich auf dem deutschen Arbeitsmarkt ankommen wird.

Klar ist jedoch auch: Arbeitssuchende Ukrainerinnen und Ukrainer sehen sich in Deutschland mit großen Herausforderungen konfrontiert. Ein wesentlicher Aspekt der deutschen Integrationspolitik besteht darin, Flüchtlinge in Arbeitsstellen zu vermitteln, die ihrem Qualifikationsniveau entsprechen. Das ist auf längere Sicht eine sinnvolle Strategie, kann aber auch Verzögerungen oder besondere Belastungen zur Folge haben. Eine Hürde bilden häufig komplizierte und langwierige Verfahren zur Anerkennung von Qualifikationen. Dass diese sich von Bundesland zu Bundesland unterscheiden, macht die Sache nicht leichter. Und: Je höher das Qualifikationsniveau einer Arbeitsstelle ist, desto wichtiger sind Kenntnisse der deutschen Sprache. Oftmals ist der Spracherwerb parallel zur Arbeitsaufnahme nicht möglich oder zumutbar, sodass zunächst Integrations- und Sprachkurse absolviert werden müssen. Da es sich bei einer großen Zahl der ukrainischen Geflüchteten in Deutschland um Mütter mit Kindern handelt, stellen ausreichende Kinderbetreuungsangebote eine Grundvoraussetzung für die erfolgreiche Arbeitsmarktintegration dar. Nicht selten erleben es auch deutsche Familien als überaus schwierig, adäquate Betreuungsplätze für ihre Kinder zu finden. Für ukrainische Familien sind die Schwierigkeiten noch einmal größer.

In dieser Situation hilft der Ruf nach vermeintlich einfachen Lösungen (wie der Kürzung von Sozialleistungen) nicht weiter. Um bestehende Probleme anzugehen und Polarisierung zu vermeiden, brauchen wir eine sachliche Debatte über wirksame Handlungsansätze. Folgende Perspektiven erscheinen uns dabei als weiterführend:

  • Der Erwerb der deutschen Sprache ist der Schlüssel zum Erfolg auf dem deutschen Arbeitsmarkt und ermöglicht eine langfristige Integration in die deutsche Gesellschaft. Da es sich bei vielen der ukrainischen Geflüchteten um Frauen mit kleineren Kindern handelt, werden Sprachkurs-Formate gebraucht, die besonders auf die Bedürfnisse dieser Zielgruppe angepasst sind. Arbeitgeber sind ebenfalls gefordert, den Spracherwerb parallel zur Berufstätigkeit aktiv zu unterstützen.
  • Die Verfahren zur Anerkennung ausländischer Qualifikationen sollten weiter vereinfacht und beschleunigt werden. Hier sind vor allem Politik und Verwaltung gefragt. Es muss darum gehen, regionale Unterschiede abzubauen und die teils mehrjährige Verfahrensdauer zu verkürzen. Wichtig ist zudem, dass Nachqualifizierungen auch berufsbegleitend erworben werden können. Dazu gehört die Möglichkeit, auch nur einzelne Kurse bzw. Unterrichtseinheiten an Berufsschulen, Fachhochschulen oder Universitäten besuchen zu können. Das System der ‚Anpassungsqualifizierungen‘ sollte insgesamt ausgebaut werden.
  • Für Geflüchtete mit minderjährigen Kindern – vor allem für alleinerziehende oder ohne Ehemann geflüchtete Frauen – ist eine gute Kinderbetreuung unerlässlich, um eine Beschäftigung aufnehmen zu können. Je nach Region und je nach Altersgruppe der Kinder ist in Deutschland keineswegs gewährleistet, dass ausreichend Betreuungsplätze zur Verfügung stehen. Für ukrainische Geflüchtete ist die Lage auch deshalb besonders herausfordernd, da sie in Deutschland in der Regel über keine familiären Netzwerke zur Kinderbetreuung verfügen. Die Verbesserung der Kinderbetreuung ist in erster Linie eine politische Aufgabe. Wir bitten aber auch kirchliche Einrichtungen, erneut zu prüfen, ob weitere Möglichkeiten der Unterstützung im Bereich der Kinderbetreuung bestehen.
  • Die Handlungsspielräume von Unternehmern und Arbeitgebern sind ebenfalls von Bedeutung. Wir wollen sie darin bestärken, ukrainischen Geflüchteten berufliche Perspektiven anzubieten und ihnen die Arbeitsmarktintegration zu erleichtern, etwa indem sie berufsbegleitende Nachqualifizierungen in ihren Betrieben ermöglichen. Auch kirchliche Einrichtungen stehen hier als Arbeitgeber in der Verantwortung.

Arbeit ist mehr als reiner Broterwerb. Sie hat stets auch eine soziale Dimension – als Handeln ‚mit den anderen‘ und ‚für die anderen‘ (wie Papst Johannes Paul II. es 1991 in seiner Enzyklika Centesimus annus ausgedrückt hat). Diese Grundüberzeugung der kirchlichen Soziallehre schlägt sich auch in den Integrationsthesen nieder, die die deutschen Bischöfe vor zwei Jahren veröffentlicht haben: ‚Unter gerechten Arbeitsbedingungen können Menschen durch ihre Arbeitskraft schöpferisch tätig werden und aktiv einen Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Entwicklung und zum Gemeinwohl leisten. ... Politik, Gesellschaft und Kirche sind aufgerufen, menschenwürdige Arbeit als Grundrecht hochzuhalten und die Integration in Arbeit unter diesem Gesichtspunkt zu fördern.‘(4)  Diese Zielperspektive gilt auch heute. Uns allen muss daran gelegen sein, den Ukrainerinnen und Ukrainern in Deutschland umfassende Möglichkeiten der Teilhabe zu eröffnen. Dies ist ein Gebot der praktischen Klugheit und zugleich Ausdruck jener größeren Solidarität, die wir dem vom Krieg geplagten ukrainischen Volk schulden.

Am Ende möchten wir uns an die Ukrainerinnen und Ukrainer wenden, die nach Deutschland geflüchtet sind: Wir wissen, wie schwer es ist, hier Fuß zu fassen, die Sprache zu erlernen und sich ein neues Leben aufzubauen. Integration braucht Zeit und Unterstützung. Zugleich wollen wir Sie dazu ermutigen, sich bietende Gelegenheiten zu ergreifen. Es besteht eine Verantwortung, berufliche Möglichkeiten auch zu nutzen. Denn auf diese Weise ergeben sich Perspektiven für echte gesellschaftliche Teilhabe. Die kirchlichen Beratungsstellen können Sie auf dem Weg der Integration begleiten. Zögern Sie bitte nicht, diese Angebote wahrzunehmen.

Und seien Sie gewiss: Auch künftig werden die Apostolische Exarchie für die Ukrainer und die gesamte katholische Kirche in Deutschland an Ihrer Seite stehen. Wir werden in unserem pastoralen und sozialen Engagement nicht nachlassen. Gemeinsam mit dem ukrainischen Volk beten wir zu Gott, dem Vater aller Menschen, dass bald ein gerechter Frieden herrschen möge.“

Fußnoten:
(1) Arbeitsmarktintegration ukrainischer Geflüchteter: Eine internationale Perspektive, IAB-Forschungsbericht 16/2024, S. 72.
(2) Laut einer Erhebung des IAB gaben im letzten Jahr 93 Prozent der nicht erwerbstätigen ukrainischen Geflüchteten an, in Deutschland eine Erwerbstätigkeit aufnehmen zu wollen, s. IAB-Kurzbericht 14/2023.
(3) https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/ukraine-gefluechtete-arbeit-2166832
(4) Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.): Anerkennung und Teilhabe – 16 Thesen zur Integration. Arbeitshilfen Nr. 331 (Bonn 2022), S. 38.


Hinweis:

Die Stellungnahme von Erzbischof Dr. Stefan Heße und Bischof Dr. Bohdan Dzyurakh CSsR ist in ukrainischer Sprache untenstehend als PDF-Datei verfügbar.