„Die Insel“ – Armin Greder

Ein Fremder landet am Strand der Insel – klein, ausgehungert und nackt. Das zeigt seine Verletztheit, die Hilflosigkeit, das Ausgeliefertsein. Die Inselbewohner starren ihn an, denn er ist nicht wie sie. Am besten ist es, wenn er wieder geht. Doch der Fischer weiß, dass der Fremde auf dem Meer nicht überleben kann. Er wird in einen Stall eingesperrt. Aber der Fremde gibt keine Ruhe. Er bittet um Nahrung. Der Krämer macht sich zum Sprachrohr der Inselbewohner: „Wir können doch nicht einfach jeden durchfüttern, sonst müssen wir selbst bald Hunger leiden.“ In den Herzen und Träumen bleibt der Fremde eine Beunruhigung. Jeder warnt den anderen vor den Gefahren, die von dem hungernden Mann ausgehen. Schließlich erhebt die Zeitung das Gefühl zur Tatsache: „Fremder verbreitet Furcht“, steht es dort schwarz auf weiß. Das ist den Einwohnern zu viel. Sie rotten sich zusammen, binden den Mann und schicken ihn mit seinem Floß auf das Meer zurück. Niemals soll sich so etwas wiederholen! Niemals soll wieder etwas Fremdes auf die Insel kommen! Die Bewohner bauen eine hohe Mauer um die ganze Insel und töten vorbeiziehende Vögel, damit niemand von ihrer Insel erfährt.

„Die Insel“ ist ein Buch ohne „Happy end“, das dem gängigen Bilderbuchklischee entgegensteht: ein nachdenklicher Blick auf die Unfähigkeit des Menschen, Fremdes zuzulassen und Menschlichkeit zu praktizieren. Die Geschichte spricht über die Bilder aus schwarzer Kreide mit bewegtem Gestus. Armin Greder ist zeichnender Expressionist, dessen Illustrationen an die Kunst Edvard Munchs oder Vincent van Goghs erinnern. Mit seinem Bilderbuch gelingt ihm eine doppelte Parabel: Einerseits über die Ausgrenzung eines Fremden, andererseits zeigt sie, was sich eine Gesellschaft selbst antut, wenn sie sich von ihren Ängsten beherrschen lässt. Auch wenn die Darstellung von Hass und Gewalt zunächst erschreckt, kann man sich ihrer Botschaft nicht entziehen und wird selbst zum Fragenden: Wo bin ich Fremder, wo bin ich Bewohner der Insel? Greder hat seinem Werk deshalb den Untertitel „Eine tägliche Geschichte“ gegeben, die – obwohl sie auf einer fernen und fiktiven Insel spielt – genauso gut in der alltäglichen Welt unserer unmittelbaren Nachbarschaft passiert. Der Leser kann im Fremden Christus erkennen, der Aufbruch und Bewegung, Verwirrung in der Gesellschaft aber auch mahnende Stimmen hervorruft. Dennoch wird er nicht verstanden, ausgestoßen und geht den Weg des Todes: „Er war in der Welt ... aber die Welterkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf.“ (Joh 1, 10-11).

Mit dem Buch ist nicht nur jeder Leser zu Zivilcourage und einer uneingeschränkten Akzeptanz des Fremden von nebenan aufgefordert. Das gewohnte Leben zu verlassen, bedeutet ein Wagnis. Dieser Aufbruch ist im Wortsinn unheimlich und verursacht Angst, aus der scheinbar nur noch eine Befreiung möglich ist: der Tod des Fremden. Für die wirkliche Befreiung ist es wichtig, im hungrigen Fremden nicht nur den Bedürftigen zu sehen, sondern vor allem den, der an die Herzen der Menschen klopft. Mit ihm kommt die Chance, sich als liebenden Menschen zu entdecken und eine offenere und freiere Welt zu gestalten. „Die Insel“ erzählt von jenem seltsamen Phänomen, dass Menschen das Gute spüren und gerade deshalb das Böse tun. Am Ende aber bleibt die Hoffnung, die schon bei Jesaja grundgelegt ist: „Seht, das ist mein Knecht, den ich stütze; das ist mein Erwählter, an ihm finde ich Gefallen ... Das geknickte Rohr zerbricht er nicht, und den glimmenden Docht löscht er nicht aus. Er wird nicht müde und bricht nicht zusammen, bis er auf der Erde das Recht begründet hat.

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