Akim rennt – Claude K. Dubois
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel
Hundert Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs herrscht in Europa relativer Friede. Dennoch setzt sich jene historische Urkatastrophe der Moderne, als die der Erste Weltkrieg heute gilt, auf persönlicher Ebene für zahllose Menschen fort. Die belgische Künstlerin Claude K. Dubois versucht traumatischen Erfahrungen von Krieg und Flucht am Beispiel des Schicksals des jungen Akim für Kinder erfahrbar zu machen. Ihr Blick richtet sich dabei auf die Krisenregion des Kaukasus – dabei wird viel weniger eine konkrete zeitgeschichtliche Verortung, als vielmehr eine Lenkung des Blicks auf die Peripherien des Weltgeschehens vorgenommen.
Doch wie eine Sprache für das Unaussprechliche finden? Claude K. Dubois wählt das Mittel der Bildsprache: Sie arrangiert skizzenhaft festgehaltene Momente zu einer Bildgeschichte und folgt in deren Sequenzierung der Bewegung von Akims Flucht.
Wie eine Naturgewalt kommt der Krieg über das schlichte Leben des Jungen, als ein aschefarbener Wirbelsturm am Horizont auftaucht und ihm erste Detonationen folgen. Irritiert bleibt Akim in der Trümmerlandschaft zurück, bis er unvermittelt an die Hand genommen und von den Flüchtenden mitgerissen wird. Dann jedoch passiert, was Akims weitere Geschichte bestimmt: Er verliert die Hand des Erwachsenen, an die er sich geklammert hat und bleibt wortwörtlich mutterseelenallein zurück. Von diesem Moment an fokussieren die Bilder die Einsamkeit und das Verlorensein Akims in ganz unterschiedlichen Szenarien der Kriegsereignisse. Als würde sie das Geschehen dokumentarisch begleiten, hält die Illustratorin diese Szenen in Bleistiftzeichnungen fest, die in ihrem raschen Strich den jeweils einzelnen Moment zu fassen und zu konservieren versuchen – und ihn dennoch in seiner Flüchtigkeit belassen. Als Akim sich einer Flüchtlingsgruppe anschließen kann, werden diese Momentaufnahmen zunehmend als modernes Exodusgeschehen lesbar – wobei das Meer sich nicht teilt, sondern überfüllte Flüchtlingsboote an neue Ufer gelangen wollen.
„Rette mich, Herr, mit deiner Hand vor diesen Leuten, vor denen, die im Leben schon alles haben“, heißt es in Psalm 14. Mit den Geschehnissen im Flüchtlingslager rückt Claude K. Dubois ihre Geschichte ins Zentrum medialer Alltagserfahrungen der westlichen Welt und zeigt auf berührende Weise das Ausmaß der Trauer, die Akims Leben bestimmt: Egal ob inmitten anderer Kinder, im Spiel oder alleine in den Bildraum gesetzt – er vermisst sein früheres Leben und seine Eltern.
In der Traumatherapie ist es wichtig, seelische Erschütterungen in positiven Erinnerungen, Gedanken und Gefühle einzubetten. Und so wird auch hier Akims Erleben von einem harmonischen Beginn und einem versöhnlichen Ende umrahmt: In der letzten Bildsequenz findet Akim seine Mutter wieder – und mit ihr jene Heimat, Geborgenheit und Zugehörigkeit, auf die jedes Kind ein Recht hat.
Wenn jede Christin und jeder Christ aufgefordert ist, den Mut zu haben, an die Ränder der Gesellschaft zu gehen, wie Papst Franziskus es in Evangelii Gaudium formuliert, liegt der Beginn unseres davon bestimmten Handelns in der Fähigkeit, das menschliche Erleben zu begreifen, die aus dem geordneten Miteinander herausfallen. Das gilt auch und insbesondere für Kinder, deren ethisches und religiöses Handeln sich erst herausbildet.
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Moritz Verlag, Frankfurt/M. 2013
96 Seiten, ISBN 978-3-89565-268-4, € 12,95
ab 8 Jahren