Der Traum von Olympia – Reinhard Kleist

Kein Pressefoto sorgte im Jahr 2015 für so viel Entsetzen und Betroffenheit wie jenes eines an den türkischen Strand gespülten, syrischen Jungen. Mit Aylan fand eine Individualisierung dessen statt, was bis dahin nur als „Massenflucht“ nach Europa und einem damit verbundenen, anonymisierten „Massensterben“ wahrgenommen wurde, sich nun aber in einem Bild „fortgespülter Menschlichkeit“ verfestigte.

Der deutsche Comic-Künstler Reinhard Kleist verzichtet auf den drastischen Realismus einer ähnlichen Szenerie und changiert am Ende seiner Graphic Novel zwischen der bedrängenden Enge auf einem viel zu kleinen Flüchtlingsboot und der Ausgesetztheit dieses Bootes in den Weiten des Mittelmeeres. Die bis dahin aus der Sicht der Protagonistin erzählte Geschichte wechselt in die Darstellung eines Nachrichtenformates und zeigt den somalischen Leichtathletikweltmeister Abdi Bile, der vom Tod der jungen Samia berichtet. Wie auch Bile war die Protagonistin Samia Yusuf Omar Läuferin und auch sie hat an den Olympischen Spielen teilgenommen. Als Außenseiterin zwischen hochtrainierten Vertreterinnen westlicher Leistungsgesellschaften ist sie in Peking mit größtmöglichem Zeitabstand zu allen anderen ins Ziel gegangen. In ihrem Antreten lag der Kern der Hoffnung auf ein erfülltes Leben.

Doch in einem Land, in dem seit mehr als zwei Jahrzehnten ein radikal geführter Bürgerkrieg tobt, stoßen die Träume einer jungen Frau rasch an ihre Grenzen: In mit schwarzem Tuschestift gezeichneten Panels fallen Schatten auf die Gesichter der Figuren und beengen deren Handlungsräume. Indem in der Architektur der einzelnen Seiten das Aneinanderstellen dieser gerahmten Panels immer wieder durchbrochen wird, scheinen sich die Figuren Freiräumen zu schaffen, stoßen jedoch stets an die Grenzen des Raumes und damit an die Grenzen ihrer Möglichkeiten.

Die Bedrohung durch die militante islamistische Al-Shabaab-Bewegung erhält in dieser Bildgestaltung körperlich-bedrohlichen Charakter und verdeutlicht, wie zwingend Samias Aufbruch ist. Die sequenzielle Bildanordnung verdeutlicht von da an die einer Flucht implizite Bewegung durch den (geografischen) Raum: Das Vorankommen wird parallelisiert mit den zahllosen Hürden des beschwerlichen Weges. Angst und Gewaltakte werden in der plastischen Mimik der Gesichter verdichtet, Samias Einsamkeit und Verzweiflung in den vielfach entleerten Szenerien einzelner Panels sichtbar. Die genutzte Schwarz-Weiß-Technik sorgt dabei für das Gefühl, dass es letztlich kein Entkommen gibt – für Samia ebenso wenig, wie für den Betrachter. Wegschauen, wie im Alltag der Nachrichtenflut, ist hier jedoch nicht möglich. Denn der Blick fällt nicht nur auf ein weltpolitisch oftmals vergessenes Kriegsszenario, sondern auch auf die weltwirtschaftliche Verantwortlichkeit westlicher Wohlstandsgesellschaften für die Ausbeutung der Ressourcen afrikanischer Länder.

Reinhard Kleist gestaltet auf eindringliche Weise eine Biografie im Comic-Format und fordert damit Mitgefühl und christliche Handlungsnotwendigkeit heraus. Er wählt das authentische Schicksal eines somalischen Mädchens, das auf der Flucht umgekommen ist. Letztlich bleibt Samia nur die Hoffnung auf einen Zieleinlauf in einen paradiesischen Urzustand. Gerade in diesem Schlussbild verfestigt sich die Mahnung an unser christlich verantwortetes Handeln.