Begründung der Preis-Vergabe

Gerhard Richter (geboren 1932 in Dresden) ist einer der bedeutendsten und einflussreichsten Künstler unserer Zeit. Sein Œuvre zeichnet sich aus durch hohe Kreativität und große ästhetische Kraft, brillantes malerisches Können sowie tiefgründiges Ausloten eines innovativen, meta-empirisch orientierten Bildvokabulars. In großer stilistischer Bandbreite eröffnet er einen faszinierenden Dialog zwischen Innen- und Außenwelt und animiert den Betrachter zur intellektuellen ebenso wie zur emotionalen Auseinandersetzung mit dessen persönlichem Verhältnis zur Wirklichkeit. Richters Œuvre ist ein Zusammenspiel intellektueller Rationalität, sublimer Feinheit, kalkulierter Gestaltung und sensibler Emotion. Seine Werke eröffnen imaginative, tief gestaffelte Räume unbeengter, individuell freier Kunstkonzeption und -rezeption. Sie sind Impulse, herkömmliche Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von Welt und Existenz zu hinterfragen und scheuen auch vor einer – mitunter provokanten – Berührung empfindlicher gesellschaftlicher und politischer Fragen (Bilderflut, technische Massenreproduktion, Terrorismus etc.) nicht zurück.

Das Gesamtwerk Richters, das bei oberflächlicher Betrachtung vermeintlich in eine Vielzahl disparater gestischer Formensprachen aufgesplittet ist, weist von seinem inhärenten geistigen Angang her einen „roten Faden“ auf: Allen seinen Arbeiten – ob fotographisch „gemalte Readymades“, Farbtafeln, Landschaften, Monochromien, Abstrakte Bilder oder Glas- und Spiegelobjekte – liegt letztlich die existentiell spannungsvolle Polarität von Drang nach Wirklichkeitserkenntnis einerseits und Nicht-Erkennen-Können der unverständlichen Wirklichkeit andererseits zugrunde. Richter versteht es, diese Polarität von einer lähmend-kontradiktorischen Spannung in ein energetisch-produktives Kraftfeld zu verwandeln. Die Triebfeder seines Schaffens ist eine unablässig tiefe Sehnsucht nach dem Absoluten, die ihn auch über Krisen hinweg getragen hat. „Ich habe zwar die ständige Verzweiflung über mein Unvermögen, ein gültiges, richtiges Bild zu malen … aber ich habe gleichzeitig immer die Hoffnung, … dass sich das aus dem Weitermachen ergibt.“ (Notizen). Obwohl Richter zunehmend erkennen muss, dass das „absolute Bild“ in einem materiellen Sinn Utopie bleiben muss, reagiert er nicht mit Resignation. Er beharrt vielmehr auf seiner Sehnsucht, der Wirklichkeit substanziell gerecht zu werden, ohne sich je zu einer platten Instrumentalisierung bildlicher „Sujets“ in einem programmatischen oder gar ideologischen Sinn verführen zu lassen. Hiervor bewahrt ihn nicht zuletzt seine biographisch bedingte Abscheu gegenüber allen Doktrinen.

Richters Annäherung an das Seiende ist „asymptotisch“ ohne dass er sich dabei als Sisyphos verstände. Denn obgleich er beständig sein Ziel vor Augen hat, erlebt er bereits den Weg, d.h. die Genese seiner Werke, als erkenntnishafte Bereicherung. Er legt den Werdeprozess seiner Werke dahin gehend an, dass dieser zu einem entgrenzenden Akt wird, der über ihn und die empirisch „verstehbare“ Wirklichkeit hinaus weist: „Etwas entstehen lassen, anstatt zu kreieren, … um so an das Eigentliche, Reichere, Lebendigere heranzukommen, an das, was über meinem Verstand ist“ (Notizen 1985). Dies vermittelt sich auch dem Betrachter seiner Bilder als Steigerung des „Wahr-Nehmens“ in eine transzendente Dimension hinein, wie dies auch der Anfang jeder spirituellen Kunst und auch der Anfang von Theologie ist. Richter balanciert in seinem Schaffen auf subtile Weise mit den Widersprüchen von Präsentation und Repräsentation, Planung und Willkür, Nähe und Distanz, Präzision und Unschärfe ohne je die Hoffnung aufzugeben, dass es außerhalb seiner selbst eine diese Gegensätze im Letzten versöhnende Dimension gibt. Dieser immer wieder durchscheinende hoffnungs- und trostreiche Beiklang schwingt in vielen seiner Werke mit – gerade auch in seinen auffällig vielen Arbeiten, die das Thema „Tod“ berühren.

Gerhard Richter ist jeder auftrumpfenden Attitüde abhold – sein kompromissloses künstlerisches Selbstbewusstsein ist zugleich getragen von Bescheidenheit. Nicht das bedeutungsheischende „Große“ ist sein Gegenstand, sondern die alltägliche Wirklichkeit in ihren gegenständlichen Verobjektivierungen oder abstrakten Brechungen. Mit Taktgefühl, ja Ehrfurcht nähert sich Richters Malerei der als „Welt“ chiffrierten Realität, der er eine eigene Dignität zuerkennt, indem er sie niemals deutet, sondern ihre Unverfügbarkeit und auch Rätselhaftigkeit respektiert. Bei allem Erkenntnisdrang bescheidet sich Gerhard Richter damit, dass seine Bilder immer nur „fiktive Modelle“ des Seienden sind, „ … weil sie eine Wirklichkeit veranschaulichen, die wir weder sehen noch beschreiben können, auf deren Existenz wir aber schließen können“ (eigener „documenta“-Text 1982) – eine Haltung, die letztlich bereits dem jüdisch-christlichen Bilderverbot zugrunde liegt. Im Prozess des Malens lässt sich Richter durch das Überraschende seiner Intuition belehren „Meine Bilder sollen klüger sein als ich“ (Interview mit Sabine Schütz). In diesem außerhalb der Künstlerpersönlichkeit liegenden „Mehr“, das sich in der Werkgenese Bahn bricht, wird die Anwesenheit eines transzendenten Anderen erahnbar. Indem Richters Kunst solchermaßen zur Alteritäts-Markierung wird, reicht sie in eine metaphysische Sphäre hinein, die immer wieder auch religiöse Assoziationen weckt.

Neben den impliziten spirituellen Momenten lassen sich bei Gerhard Richter auch explizite Verweise auf christliche Inhalte finden: So zeigen etwa die „Verkündigung nach Tizian“ (1973), die Metallkreuze aus Stahl und Gold (1996), die fotorealistischen „Kerzen“ (1980er Jahre) oder die Darstellung der Stigmatisierung des Johannes „Abstraktes Bild (Rombus)“ (1998) eine ernsthafte Auseinandersetzung mit christlichen Sujets, die zugleich eine fundierte Durchdringung der Ikonographie offenbart. Dabei gelingt es Richter, die geistig-geistlichen Inhalte derart zu verdichten, dass sie in seinen Werken oft noch intensiver hervortreten als in manchen überlieferten Vorlagen der traditionellen christlichen Ikonographie. Darüber hinaus hat Richter in vielen seiner Gemälden immer wieder die besondere atmosphärische Ausstrahlung sakraler Architektur eingefangen, so z.B. in „Mailand: Dom“ (1964), „Domplatz, Mailand“ (1968), „Domecke“ (1987 ff.) oder „Hofkirche Dresden“ (2000). Dabei fokussiert der Künstler ungewohnte Ansichten oder unbedeutende Details, was beim Betrachter das vertraute Wahrnehmungsschema durchbricht und ein existentielles Sehen re-sensibilisert.

Gerhard Richter ließ sich – mitunter im direkten Gegensatz zum Mainstream – niemals davon abbringen, immer wieder auch reine Schönheit zu vermitteln: „Ich hatte Lust, etwas Schönes zu malen“ (Interview mit Rolf-Gunter Dienst 1970). Auch wenn er sich vom Erhabenheits-Pathos der romantischen Landschaftsmaler bewusst fern hält, legt er seine Landschaftsbilder auf gänzlich unaufdringliche Weise dennoch als stille Meditationsorte an: Ausdrucksformen verborgener seelischer Befindlichkeiten, dabei niemals süßlich-sentimental, sondern voller gestischer Größe und Klarheit. Die charakteristisch offenen, oft unter der Bildmitte beginnenden Himmel, steigert Richter in vielen seiner Landschaftsbilder zu transzendenten Lichtmetaphern, so dass im Sichtbaren ein dieses Sichtbare Übersteigendes spürbar wird.

Bonn / Würzburg, den 02.04.2004

Für die Jury

Dr. Friedhelm Hofmann, Bischof von Würzburg

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