Bischof Dr. Friedhelm Hofmann – Laudatio auf Gerhard Richter

Laudatio anlässlich der fünften Verleihung des „Kunst- und Kulturpreises der deutschen Katholiken“ am 20. November 2004 in der Bundeskunsthalle Bonn Bischof Friedhelm Hofmann

Sehr geehrter Herr Kardinal Lehmann, sehr geehrter Herr Präsident Professor Meyer, liebe Mitbrüder, verehrte Mitglieder der Jury, meine Damen und Herren,

„Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin.“ Ein mystisches Wort, selbst in der deutschen Übersetzung des griechischen Originals noch von großer Suggestionskraft. Autor ist Paulus von Tarsus und was er schreibt: mitnichten ein erbaulicher literarischer Erguss, sondern eine theologisch bedeutsame Einsicht. Adressatin: Die von ihm in Korinth gegründete christliche Gemeinde im Jahr 55 nach Christus. In dieser Gemeinde gab es weltanschauliche Streitigkeiten. Es gab Gemeindemitglieder, die behaupteten, die endgültige Vollendung der Welt sei bereits eingetreten und sie, die von Gott Bevorzugten, seien bereits jetzt im Besitz der unumstößlichen Wirklichkeitserkenntnis. Diese irrationale Überheblichkeit korrigiert der Apostel versöhnlich, aber ohne jede Missverständlichkeit: Der irdische Mensch kann die ihn umgebende Wirklichkeit zeitlebens niemals auch nur annährend erkennen. Der weitaus größte Teil bleibt immer rätselhaft verborgen. Gott ist der einzige, der alles bis in den tiefsten Grund erkennt.

Kenner des heute preisgekrönten Werkes sind vielleicht schon bei einigen Stichworten der paulinischen Metapher hellhörig geworden: Spiegel – rätselhafte Umrisse – erkennen ... mit diesen Begriffen kann man sich an das Schaffen Gerhard Richters herantasten. Dieser Künstler hat sich ähnlich wie Paulus immer vehement gegen jenen Habitus zur Wehr gesetzt, der für sich die absolut gültige Wirklichkeitsdeutung reklamiert. Wohin solch doktrinäres Gebaren führt, hat Richter schon als Kind im Nationalsozialismus und später in der DDR erfahren müssen. Seitdem ist er allem Ideologischen gegenüber äußerst kritisch eingestellt, sei es in politischen, weltanschaulichen oder ästhetisch-künstlerischen Fragen. Auch die Kunstgeschichtsschreibung kennt solche Ideologien: Die traditionellen kunsthistorischen Theorien sind vielfach von einer Fortschrittsideologie getrieben, die aus dem Axiom einer vermeintlichen Gesetzlichkeit des geschichtlichen Fortschritts erwächst. Es besteht eine gewisse Affinität zwischen einer evolutiv-darwinistischen Naturgeschichte und einer evolutiven Ideengeschichte. Ein solch geschichtsteleologisches Gesetz gibt ausschließlich dem Recht, was sich durchsetzt. Und die Kunstrichtung, die sich durchsetzt, hat automatisch auch den Hoheitsanspruch für die Wirklichkeitsdeutung. Und da tritt nun mit Gerhard Richter ein Künstler an die Öffentlichkeit, der seine Malerei unter das Motto stellt „Alles sehen und nichts begreifen“ . Ein Künstler, der sich dazu bekennt, vor der erkenntnishaften Unzulänglichkeit der Malerei zu kapitulieren. Ein Künstler, der sich dem Dilemma ausgeliefert weiß, dass uns zwar unser Sehen die Dinge sinnenhaft perzipieren lässt, dass aber die Subjektivität und Beschränktheit dieses Sehens zugleich noch nicht die Erkenntnis der Wirklichkeit möglich macht. Für dieses Dilemma hat Gerhard Richter mit seinen Glas- und Spiegelobjekten Gleichnisse geschaffen. Schon in den 1960er-Jahren präsentierte er seine ersten Arbeiten mit Glasscheiben. Später sind diese teils farbigen Scheiben spiegel-beschichtet oder emailliert. Die Objekte spiegeln ihre Umgebung, ohne sie zu interpretieren. Sieht der Betrachter in den Spiegeln sein eigenes Bild, so ist es doch nur eine neutrale Verdoppelung der Wirklichkeit, deutungslos, aus dem perspektivischen Raum heraus in die Fläche reduziert. Die Wirklichkeit verliert in ihrer Spiegelung nichts von ihrer Rätselhaftigkeit, sondern verweist geradezu erst auf diese.

Ich habe viele Kunstwerke gesehen, die ihre „Message“ – dem Betrachter schon von ferne wie ein ätzendes Gift entgegenschleudern. Bei den Werken Richters habe ich das nicht erlebt. Es gibt keinen Künstler, der weniger belehrend als Gerhard Richter auftritt. Auf der ganzen Welt gibt es nur wenige Künstler, deren Œuvre ihre Betrachter auf solch existentiell bereichernde Weise belehren. Genau das aber vollbringt nur der echte Künstler: Beredt zu schweigen und schweigend zu reden – eine Haltung, die letztlich bereits dem jüdisch-christlichen Bilderverbot zugrunde liegt. Gerhard Richter besitzt die Demut, zuzulassen, dass seine Kunst eine Eigendynamik entwickelt, die weit über sein persönliches Vermögen hinausreicht. „Meine Bilder sollen unbedingt klüger sein als ich“ sagt er. „Ich muss nicht mehr ganz mitkommen, sie müssen etwas sein, was ich nicht mehr so ganz verstehe.“ Und an anderer Stelle: Viele meiner „ ... Bilder sind fiktive Modelle, weil sie eine Wirklichkeit veranschaulichen, die wir weder sehen noch beschreiben können, auf deren Existenz wir aber schließen können. (...) Natürlich haben auch gegenständliche Bilder diese transzendentale Seite; weil jeder Gegenstand als Teil einer im Letzten, Ersten, Grundsätzlichen unverständlichen Welt diese auch verkörpert, zeigt er im Bilde dargestellt umso eindringlicher alle Rätselhaftigkeit, je weniger ‚Funktion‘ die Darstellung hat.“

Ist Gerhard Richter ein moderner Sisyphos? Einer, der sich immer wieder mühsam an die Wirklichkeit heran tastet, damit sie dann unter seinen Händen zu Fragmenten zerfällt? Es mag Phasen in seinem Leben gegeben haben, wo ihm dies so schien. In vielen persönlichen Gesprächen hat mir Gerhard Richter aber auch immer wieder von der anderen, gegenteiligen Erfahrung erzählt: Momente, in denen er diese unnennbare Sehnsucht nach einer absoluten Wirklichkeit, das Ausstrecken nach dem großen ANDEREN als beflügelnd empfindet. Das sind jene Momente, die sein Schaffen im Innersten motivieren. Am 20. Februar 1985 schreibt er in sein Tagebuch: „Ich habe zwar die ständige Verzweiflung über mein Unvermögen, ... ein gültiges, richtiges Bild zu malen ... aber ich habe gleichzeitig immer die Hoffnung, ... dass sich das aus dem Weitermachen einmal ergibt, und diese Hoffnung wird ja auch oft genährt, indem stellenweise, ansatzweise, tatsächlich etwas entsteht, was an das Ersehnte erinnert oder es ahnen lässt ...“ Obwohl Gerhard Richter zunehmend erkennen muss, dass das absolute, will heißen: schlechthin „gültige“ Bild in einem materiellen Sinn Utopie bleiben muss, reagiert er nicht mit Resignation. Er beharrt vielmehr auf seiner Sehnsucht, der Wirklichkeit substanziell gerecht zu werden, ohne sich je zu einer Instrumentalisierung herkömmlich inszenierter „Sujets“ in einem plakativ programmatischen Sinn verführen zu lassen. Das Gesamtwerk Richters, das bei oberflächlicher Betrachtung vermeintlich in eine Vielzahl disparater gestischer Formensprachen aufgesplittet ist, weist von seinem inhärenten geistigen Angang her einen „roten Faden“ auf: Allen seinen Arbeiten – ob fotographisch „gemalte Readymades“, Farbtafeln, Landschaften, Monochromien, Abstrakte Bilder oder Glas- und Spiegelobjekte – liegt letztlich die existentiell spannungsvolle Polarität von Drang nach Wirklichkeitserkenntnis einerseits und Nicht-Erkennen-Können der unverständlichen Wirklichkeit andererseits zugrunde. Richter versteht es, diese Polarität von einer lähmend-kontradiktorischen Spannung in ein energetisch-produktives Kraftfeld zu verwandeln. Richters Annäherung an das Seiende ist „asymptotisch“ und er ist sich dessen voll bewusst. Trotzdem schlummert im innersten Innern seines Schaffens die Ahnung, dass die Asymptote sich einmal in eine eindeutig gerichtete Linie transformiert und die Zielgerade erreicht, irgendwann, irgendwann ... das ist die seltsame Macht der Hoffnung, die sich nicht rational begründen lässt: „Ich habe kein Motiv, nur Motivation“ hat Gerhard Richter dies einmal umschrieben. Die Genealogie seiner Werke ist meist ein Weg mit vielen Etappen. Nach einer Phase intensiver Beschäftigung lässt er die Arbeit oft im unfertigen Stadium einige Zeit ruhen, damit sich in der Zwischenzeit wieder ein Hauch von Fremdheit darüber legen kann. Werkgenese heißt bei Richter: nichts planen, nichts komponieren, nichts herbeizwingen. Sondern dem Rätselhaften Raum geben. So wird der Werdeprozess seiner Bilder zu einem entgrenzenden Akt, der den großen Wurf gebiert, ohne je Bedeutung zu erheischen. Dazu möchte ich nochmals aus dem Tagebuch des Künstlers zitieren: „Etwas entstehen lassen, anstatt kreieren, ... um so an das Eigentliche, Reichere, Lebendigere heranzukommen, an das, was über meinem Verstand ist.“

Dies vermittelt sich auch dem Betrachter seiner Werke als Steigerung des im Wortsinn zu verstehenden Wahr-Nehmens in eine transzendente Dimension hinein, wie dies auch der Anfang jeder spirituellen Kunst und auch der Anfang von Theologie ist. Richter balanciert in seinem Schaffen auf substile Weise mit den Antinomien von Präsentation und Re-Präsentation, Planung und Willkür, Nähe und Distanz, Präzision und Unschärfe ohne je den Gedanken aufzugeben, dass es eine übersteigende Ontität gibt, welche diese Gegensätze im Letzten versöhnt. In diesem außerhalb der Künstlerpersönlichkeit liegenden „Mehr“, das sich in der Werkgenealogie Bahn bricht, wird die Anwesenheit jenes transzendenten ANDEREN erahnbar. Indem Richters Kunst solchermaßen zur Alteritäts-Markierung wird, reicht sie in eine metaphysische Sphäre hinein, die immer wieder auch religiöse Assoziationen weckt.

Allerdings Kunst als heiliges Schauspiel des Göttlichen zu inszenieren, birgt mitunter die Gefahr der Verführung in sich, zur Macht des Suggestiven. Macht aber ist etwas, wovor Richter eine geradezu seismographisch sensible Abscheu empfindet. In diesem Zusammenhang möchte ich auf die Stahkugel verweisen, die hier vorne sehr unprätentiös liegt: Bei einem meiner Besuche im Atelier Gerhard Richters sah ich auf dem Boden liegend eine etwa handballgroße Edelstahlkugel. Auch diese Kugel wieder ein Spiegel, hochglanzpoliert, bei näherem Hinsehen lies sich der eingravierte Name eines Berges im Engadin entdecken. Der Hintergrund dieser Arbeit ist nur wenigen bekannt, er verrät gleichwohl sehr viel über Richters Einstellung zu Macht und Ideologie. Im Jahr 1968 schuf er zusammen mit Sigmar Polke die bekannte Offsetlitographie „Umwandlung“. Das Blatt zeigt in fünf fotographischen Reproduktionen die allmähliche Auflösung und Umwandlung eines zerklüfteten Bergmassivs in eine Kugelform. Die betont dokumentarisch wirkende Bildunterschrift beschreibt den Vorgang mit präzisen Angaben zum Zeitpunkt und zur Dauer des vorgeblichen naturwissenschaftlichen Ereignisses: „5 Phasen einer von Polke und Richter vorgenommenen Umwandlung. Das Massiv wurde am 26. April 68 für die Dauer von 2 Stunden in eine Kugel verwandelt“. Das Ganze wirkt verblüffend authentisch. Die Künstler beanspruchen hier für sich megalomanische Kräfte, die es ihnen erlauben, die Naturgesetze kurzfristig außer Kraft zu setzen. Die Ironie dieser Darstellung besitzt eine überaus kritische Note. Sie wendet sich gegen jene Künstlerkollegen, die sich als allmächtige Spieler der Gefühlsklaviatur geben, die meinen, wenn man die Gesetze des Kunstmarktes beherrscht, beherrsche man auch die Kunst selbst. Oder die letztlich glauben, die Gesetzlichkeiten des Daseins für ihre Effekte beliebig hinbiegen zu können. Natürlich hat der Ideologiekritiker Richter hier nicht nur die Künstler im Blick, sondern auch alle anderen Allmachtsphantasten. Auch Terroristen sind Allmachtsphantasten, deren ideologische Verirrungen schließlich in perverse Zerstörung ausarten. Richters weltberühmter Bilderzyklus „18. Oktober 1977“, der sich mit der dramatischen Zuspitzung des RAF-Terrors auseinandersetzt, ist ja leider immer wieder als politisches Manifest für diese oder jene Gruppierung missverstanden worden. Dabei wollte der Künstler diesen Zyklus niemals nur im historisch-punktuellen Mikrokontext gelesen wissen. Der überwiegend stark verwischte Gestus signalisiert, dass es dem Künstler hier nicht um Historienmalerei ging. Aus seiner sprachlosen Ergriffenheit heraus hat er vielmehr einen eindringlichen Appell gegen jeden Fanatismus geformt. Die Stahlkugel, die der Künstler später als Erinnerung an die Gemeinschaftsarbeit mit Polke zusammen mit zehn weiteren Kugeln fertigen ließ, will letztlich auch dies versinnbildlichen. Ich schätze Gerhard Richters feine Ironie sehr. Sosehr er Zelebrationen wie die heutige scheut, sosehr ist er doch im unmittelbaren Kontakt ein zutiefst liebenswürdiger, hintergründig kommunikativer Mensch. Er ist jeder auftrumpfenden Attitüde abhold – sein kompromissloses künstlerisches Selbstbewusstsein ist zugleich getragen von echter Bescheidenheit. Nicht das Bedeutung heischende „Große“ ist sein Gegenstand, sondern die alltägliche Wirklichkeit in ihren gegenständlichen Verobjektivierungen oder abstrakten Brechungen. Mit Taktgefühl, ja Ehrfurcht nähert sich Richters Malerei der als „Welt“ chiffrierten Realität, der er eine eigene Dignität zuerkennt, indem er sie nicht deutet, sondern ihre Unverfügbarkeit und auch Rätselhaftigkeit respektiert. Richters „fotographische Readymades“ haben mich schon früh stark fasziniert. Was bewegt einen Maler, mit fast obsessiv-virtuoser Präzision Fotographien alltäglicher, scheinbar nichts sagender Szenen abzumalen? Immer dachte ich, es muss hier doch eine verborgene persönliche Affinität dahinter stecken, dass er ausgerechnet dieses oder jenes Foto als Vorlage gewählt hat. Und dann immer die stereotypen Beteuerungen Richters, er habe nichts dabei empfunden, beabsichtigt, gedacht, das dargestellte Sujet bedeute ihm überhaupt nichts. Es hat mich geradezu erleichtert, als Richter vor einigen Jahren öffentlich zugegeben hat, dass er sich durch die damaligen Behauptungen nur gegen indiskrete Übergriffe aufdringlicher Neugierde schützen wollte, dass das Abmalen von Fotographien einer Flüchtlingsfamilie, Bomben werfender Militärflugzeuge oder der Vogelperspektive einer zerstörten Stadt sehr viel mit seiner eigenen Biographie zu tun hat und dass das Verstecken hinter der vermeintlich leidenschaftslosen Objektivität der Bilder oft ein Stück persönliche Therapie war. Aber auch dieses totale Zurücknehmen der eigenen Person hinter dem Werk ist letztlich wieder nur Ausfluss jener Maxime, niemals die künstlerische Arbeit durch Selbstdarstellung zu überlagern und damit letztlich ihrer Eigendynamik zu berauben. Richters Werk ist deshalb bei aller zeitbedingten Experimentierfreudigkeit so „zeitlos“ gültig, weil er sich nie an den Zeitgeist verrät, sondern sein künstlerisches Geheimnis vor unberechtigtem Zugriff bewahrt: „Sag es niemand, nur den Weisen, weil die Menge gleich verhöhnet“ , möchte man ihn da mit Goethe bestärken. Gerhard Richter hat es geschafft, sich in all den Jahrzehnten niemals vom Mainstream mitreißen zu lassen, was nicht heißt, dass er nicht auch auf geistvoll-provokante Weise hier und da mit ihm gespielt hätte. Mitunter hat er die direkte Gegenrichtung eingeschlagen, mutig, aber ohne das Spektakuläre zu suchen. So konnte ihn niemand davon abbringen, immer wieder auch reine Schönheit zu vermitteln: „Ich hatte Lust, etwas Schönes zu malen“ , hat er dies einmal lapidar und provokant kommentiert. Möglicherweise war es zunächst eine Willensbekundung, aus der darwinistischen Fortschrittsgläubigkeit der künstlerischen Avantgarde einfach auszusteigen. Eine Verweigerungsgeste gegen jene, die mit dem Gesetzbuch in der Hand befehlen: Ab jetzt darf nur noch so und so oder dies und jenes gar nicht mehr gemalt werden. Ich glaube aber, Gerhard Richter so gut zu kennen, dass ich in seinen Landschaftsbildern mehr als nur eine manifeste Geste vermuten darf. Diese Bilder, die teilweise von fast bestürzender Schönheit sind, gründen in einem sehr intimen, privaten Gefühlskosmos. Bei manchen seiner Landschaftsbildern lässt sich erahnen dass er hier den Nukleus seiner Persönlichkeit hineingelegt hat. Auch wenn er sich vom Erhabenheits-Pathos der romantischen Landschaftsmaler bewusst fern hält, legt er seine Landschaftsbilder auf unaufdringliche Weise dennoch als stille Meditationsorte an: Ausdrucksformen verborgener seelischer Befindlichkeiten, dabei niemals süßlich-sentimental, sondern voll gestischer Größe und Klarheit. Die charakteristisch offenen, oft unter der Bildmitte beginnenden Himmel, steigert Richter in vielen seiner Landschaftsbilder zu transzendenten Lichtmetaphern, so dass auch hier im Sichtbaren ein dieses Sichtbare Übersteigendes spürbar wird. Gerhard Richter hat sich immer gegen Versuche gewehrt, ihn auf eine bestimmte Richtung festzulegen. Dezidiert verwahrt er sich dagegen, als „moderner“, „politischer“ oder „sozialkritischer" Künstler bezeichnet zu werden, weil er jederzeit für alles offen bleiben möchte. Andererseits besitzt er wie gesagt die innere Größe, einzugestehen, dass sein Werk sich bis zu einem gewissen Grad verselbstständigt. Dass aus seinem Schaffen unbekannte Kräfte hervorbrechen, die ihn selbst überraschen. Aus dieser Haltung heraus kann er auch zulassen, dass die Betrachter seiner Werke etwas assoziieren, was er kognitiv-willentlich zunächst gar nicht intendiert hat. In einem Interview anlässlich seiner großen Werkschau in New York 2002 hat er gesagt: „Ich freue und ich wundere mich, dass ganz Fremde ähnlich betroffen sind von meinen Bildern, mehr sehen, als ich zu sehen in der Lage war oder bin. Ich lerne ja auch mit der Zeit besser verstehen, was ich da eigentlich gemacht habe." Vielen Menschen wurde und wird das Œuvre Gerhard Richters zum spirituellen Evidenzerlebnis. Neben den implizit spirituellen Momenten lassen sich bei ihm aber auch explizite Verweise auf christliche Inhalte finden: So zeigen etwa die „Verkündigung nach Tizian“ (1973), die Metallkreuze aus Stahl und Gold (1996), die fotorealistischen „Kerzen“ (1980er Jahre), die Darstellung der Stigmatisierung des Padre Pio „Abstraktes Bild (Rombus)“ (1998) oder die vielen Vanitas-Motive eine ernsthafte Auseinandersetzung mit christlichen Sujets, die zugleich eine fundierte Durchdringung der Ikonographie offenbart. Dabei gelingt es Richter, die geistig-geistlichen Inhalte derart zu verdichten, dass sie in seinen Werken oft noch intensiver hervortreten als in manchen überlieferten Vorlagen traditioneller christlicher Ikonographie. Darüber hinaus hat Richter in vielen seiner Gemälden immer wieder die besondere atmosphärische Ausstrahlung sakraler Architektur eingefangen, so z.B. in „Mailand: Dom“ (1964), „Domplatz, Mailand“ (1968), „Domecke“ (1987 ff.) oder „Hofkirche Dresden“ (2000). Dabei fokussiert der Künstler ungewohnte Ansichten oder unbedeutende Details, was beim Betrachter das vertraute Wahrnehmungsschema durchbricht und ein existentielles Sehen re-sensibilisiert. Als langjähriger Dompfarrer und Weihbischof in Köln ist mir Richters „Domecke“ besonders lieb. Diese Ansicht scheinbar unbedeutenden Mauerwerks gewinnt der von Großstadt umtosten Kathedrale eine Facette von Beständigkeit und Innerlichkeit ab, die in dieser atmosphärischen Dichte etwas tief Anrührendes hat.

Der Religionsphilosoph Romano Guardini hat in seiner berühmten „Gegensatzlehre“ dargelegt, wie der Mensch mit den in allen Wesenheiten indispensabel angelegten Gegensätzen umgehen kann. Das Gleichgewicht im Spannungsfeld zweier starker Pole zu halten, die einen bald dahin, bald dorthin zerren wollen, erfordert immense Kraft. Gerhard Richter ist einer, der diese Kraft nicht nur besitzt, sondern sie auch zu nutzen weiß. Das Aushalten der polaren Spannung birgt nach Guardini großen Gewinn, es ist für ihn das Urprinzip des „Konkret-Lebendigen“ schlechthin. Ich zitiere: „Von der Gegensatzlehre her geformte Haltung ... weiß um die Tatsache der Spannung, und wie immer eines das andere trägt. [...] Heil sein, innerlich unversehrt, bedeutet Spannung, Zucht und die Fähigkeit, immerfort zu schreiten, immerfort ‚hindurchzugehen‘“ . Ein Gegensatz, unter dem Gerhard Richter mitunter leidet, besteht zwischen dem Bedürfnis, sein Gefühlsleben vor der Öffentlichkeit zu schützen, ungestört von der Welt arbeiten zu dürfen und andererseits dem Wunsch, von den Menschen in seiner individuellen, persönlichen Unverwechselbarkeit wahrgenommen zu werden. Es ist dies der Wunsch „unbedingt erkannt zu werden“ , wie er es einmal ausgedrückt hat. Die Sehnsucht nach Versöhnung dieses Widerspruchs ist die Triebfeder seines Schaffens. Das In-Eins-Fallen der Gegensätze, die „Coincidentia oppositorum“ – um mit Nicolaus Cusanus zu sprechen – ist keine Utopie, sondern ein Ziel christlicher Hoffnung. Gerhard Richters Werke sind Metaphern dieser Hoffnung: Dass unsere vorläufige Erkenntnis an der absoluten Erkenntnis teil haben darf. Dass wir bis ins Innerste erkannt werden und sich dann alle Widersprüche auflösen. „Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin.“

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Anmerkungen

1) 1 Kor 13,12 2) G.R, in: Jürgen Harten: Der romantische Wille zur Abstraktion, in: Gerhard Richter. Bilder 1962-1985 (Kat.), Städtische Kunsthalle Düsseldorf, 1986, S. 33. 3) G.R.: Interview mit Sabine Schütz 1990, in: Gerhard Richter. Text, Frankfurt am Main und Leipzig 1993, S. 203. 4) G.R.: Text für Katalog „documenta 7“ 1982, in: Gerhard Richter. Text, Frankfurt am Main und Leipzig 1993, S. 92 f. 5) G.R.: Notizen 1985, zitiert nach: Wieland Schmid (Hg.), GegenwartEwigkeit. Spuren des Transzendenten in unserer Zeit (Katalog der gleichnamigen Ausstellung vom 07.04.-24.06.1990 in Berlin), Stuttgart 1990, S. 276. 6) G.R.: Notizen 1985, zitiert nach: Wieland Schmid (Hg.), GegenwartEwigkeit. Spuren des Transzendenten in unserer Zeit (Katalog der gleichnamigen Ausstellung vom 07.04.-24.06.1990 in Berlin), Stuttgart 1990, S. 276. 7) G.R.: Notizen 1985, in: Gerhard Richter. Text, Frankfurt am Main und Leipzig 1993, S. 111. 8) Johann Wolfgang von Goethe, Selige Sehnsucht (Gedicht) 9) G.R.: Interview mit Rolf-Gunter Dienst 1970, in: Gerhard Richter, Text, Frankfurt am Main und Leipzig 1993, S. 59. 10) Interview zitiert nach: Achim Podak, Selbstbegegnung eines Weltstars: Der Maler Gerhard Richter und seine phantastische Werkschau in New York, in: Das Erste Online“ (Kulturweltspiegel) vom 24.02.2002. 11) Romano Guardini, Der Gegensatz. Versuche zu einer Philosophie des Lebendig-Konkreten (Romano Guardini. Werke. Sachbereich Anthropologie und Kulturkritik. Hg. von Franz Henrich), 41998 12) G.R.: Gespräch mit Jan Thorn Prikker 1989, in: Gerhard Richter. Text, Frankfurt am Main und Leipzig 1993, S. 186. 13) Nicolaus Cusanus, De coniecturis I, 43, Ausgabe von Joseph Koch (Hg.), Nikolaus von Kues. Opera omnia Bd. 3: De Coniecturis, Hamburg 21988, 98.

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