| Pressemeldung | Nr. 017

Frühjahrs-Vollversammlung in Augsburg: Predigt von Bischof Dr. Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, im Eröffnungsgottesdienst

Lesung:    Lev 19,1–2.11–18
Evangelium:    Mt 25,31–46

Liebe Geschwister im Glauben,

als ich mich fragte, welche Worte der heutigen Lesungen in mir nachklingen, da kamen immer wieder diese drei: „Was ihr für einen dieser Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan.“ – „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ – „Ich bin der Herr, euer Gott.“ Man könnte sagen, sie bilden das Grundgerüst des Glaubens. Und als biblische Orientierung stehen sie gewiss nicht zufällig am Anfang der Fastenzeit, denn in diesen Wochen wollen wir uns ja neu auf den Kern christlichen Lebens ausrichten.

Wenn die Vita des heiligen Ulrich, die kurz nach seinem Tod verfasst wurde, diesen außergewöhnlichen Bischof und Schutzpatron der Stadt und des Bistums Augsburg als Trost spendend, mitfühlend und zuhörend beschreibt, dann heißt das für mich: Er hat diese Weisungen beherzigt, die Werke der Barmherzigkeit getan, die goldene Regel mitfühlend umgesetzt und das Ohr des Herzens weit gemacht, um den Willen Gottes in der Nachfolge Jesu und im Anruf der Wirk¬lichkeit jeden Tag zu suchen und zu befolgen. „Was ihr für einen dieser Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan.“ – „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ – „Ich bin der Herr, euer Gott.“

Wenn sich so unser christliches Lebensmodell in seinen Grundkonstanten beschreiben lässt, dann müssen wir uns gleichzeitig eingestehen, dass dieses Lebensmodell heute offenbar nicht mehr besonders attraktiv ist. Die im November 2023 veröffentlichte Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung belegt, wie gering die Rolle ist, die der Glaube in der Gesellschaft hierzulande noch spielt. Wir werden uns bei einem Studientag am Mittwoch damit beschäftigen, was die Einsichten dieser Studie, an der sich mehr als 5.000 Menschen beteiligt haben, für uns bedeuten; jedenfalls können wir nicht einfach weitermachen wie bisher.

Gott ist nicht mehr geläufig. Das ist die Quintessenz eines Umfrageergebnisses, das besagt, was wir lange schon spüren: Unsere Gesellschaft wird zunehmend säkular. Und das betrifft nicht nur Menschen außerhalb der Kirche. Weder ein kämpferischer Atheismus noch die viele Jahre bemühte Gleichgültigkeit gegenüber Gott und Fragen des Glaubens beschreiben es zutreffend; wir sind vielmehr von einem post-theistischen Klima umgeben. Da können wir lange ein „Leben ohne Gott“ als defizitär beschreiben. Religionssoziologisch müssen wir wahrnehmen, dass Menschen selbst entscheiden, was sie als Verlust oder Frage oder Sehnsucht empfinden. „Jeder Mensch bleibt vorläufig sich selbst eine ungelöste Frage, die er dunkel spürt“, so hatte das Zweite Vatikanische Konzil in seiner Pastoralkonstitution (GS 21) einfühlsam formuliert, und weiter: „Auf diese Frage kann nur Gott die volle und ganz sichere Antwort geben“. Das mag aus theologischer Sicht nach wie vor seine Berechtigung haben, es entfaltet aber auf der persönlichen Ebene kaum mehr Relevanz. „Ich bin der Herr, euer Gott“ – verliert sich zunehmend wie ein Echo in den Weiten des Raumes. Und offensichtlich ist es so, dass der säkularisierende Großtrend, dass Entchristlichung und Entkirchlichung weder durch strukturelle Optimierungsprozesse in der Kirche noch durch Initiativen neuer Evangelisierung einzelner Menschen grundlegend aufgehalten werden können (obwohl beides seinen großen Wert hat).

Ich bin gespannt, wie wir die Ergebnisse der Studie in aller Ehrlichkeit und Bescheidenheit interpretieren werden. Mir sind in der Beschäftigung über die letzten Monate hin drei Aspekte wichtig geworden:

1. Was sich in den Mehrheitsverhältnissen der deutschen Bevölkerung bereits zeigt, wird weiter voranschreiten: Wir werden als Christinnen und Christen zu einer Minderheit. Das Modell der volkskirchlichen Milieus wird abgelöst von einer Diasporasituation, wie sie besonders im Osten Deutschlands bereits lange erfahren wird. „Das Christsein wird vermutlich in Zukunft immer stärker zu dem, was es zu Beginn war: eine Alternative zum Mainstream“ (Jan Loffeld). Darum finde ich es geradezu wegweisend, dass der Katholikentag dieses Jahr in Erfurt stattfindet. Denn wir können von den Glaubensgeschwistern dort lernen, wie man Christsein als Minderheit kreativ und einladend gestaltet, ohne in sektenhaft abgeschottete Überheblichkeit abzugleiten oder resignativ den großen Horizont des Auftrags für alle und für die Welt aus den Augen zu verlieren.

2. Vermutlich haben wir in den vergangenen Zeiten zu selbstverständlich angenommen, die Menschen wüssten schon, was Kirche ist und was den Glauben ausmacht. Nein, das sollten wir nicht voraussetzen und in aller Demut damit beginnen, den Menschen in all unseren kirchlichen Vollzügen und im persönlichen Leben so zu begegnen, dass sie zu fragen beginnen. Und dabei ist jede und jeder mit seinem Beitrag gefragt; niemand sollte sich zurückhalten, weil er oder sie denkt, auf mich kommt es doch nicht an, ich bin doch im Großen und Ganzen ziemlich unbedeutend.

Und 3. Unser Sprechen von Gott wird sich verändern müssen, dringend. Wir tun ja als Kirche immer noch so, als wüssten wir eindeutig, wie Gott ist und was er von uns erwartet. Doch in weiten Teilen haben unsere Bilder von Gott und unser Reden über ihn den Anschluss an das Wissen unserer Zeit verloren. So treiben wir nachdenkliche Zeitgenossen nicht selten in einen Spagat zwischen Glauben und Lebensrealität, und den hält man nicht gut auf, man löst ihn besser auf, wie es leider zunehmend viele tun. „Alles geläufige Gott-Sagen jedenfalls bedarf der Prüfung“ (Gotthard Fuchs), das gilt für lehrmäßige kirchliche Vereinnahmungstendenzen ebenso wie für alles banalisierende und trivialisierende Gerede. „Gott klingt wie eine Antwort“, hat Cees Nooteboom (*1933) vor langer Zeit in die Diskussion eingeworfen, „und das ist das Verderbliche an diesem Wort, das so oft als Antwort gebraucht wird. Er hätte einen Namen haben müssen, der wie eine Frage klingt“.

Eine weitere Einsicht verdanke ich der Beschäftigung mit dem Evangelium heute. Mir wurde klar, wie sehr die Deutung biblischer Texte beeinflusst wird von wechselnden persönlichen und gesellschaftlichen Situationen. Üblicherweise wird die Rede des wiederkommenden Menschensohnes im Sinne einer umfassenden Humanität ausgelegt. Wenn das Gericht jede und jeden trifft, dann werden alle, die nicht oder nicht ganz zum Glauben an den Erlöser Jesus Christus finden konnten, nach dem Kriterium beurteilt, ob sie ihren Mitmenschen in Not beigestanden haben. „Hier auf den Straßen der Welt findet das Jüngste Gericht statt. Die Armen werden unsere wahren Anwälte sein“ (Vincenzo Paglia). Diese Auslegung gilt, und ihr Impuls ist zutiefst christlich. In einer christlichen Mehrheitsgesellschaft kämen wir kaum auf die Idee, uns Glaubende als diejenigen zu denken, die selbst Hilfe und barmherziger Zuwendung bedür¬fen. Doch genau das war nach Meinung der meisten Exegeten die eigentliche Stoßrichtung des Evangelisten. Als Matthäus sein Evangelium schrieb, da hatten sich in vielen Städten der damals bekannten Welt bereits kleine christliche Gemeinden gebildet. Viele waren in Bedrängnis wegen ihres Glaubensbekenntnisses; Hunger, Durst, Armut, Obdachlosigkeit und Gefangenschaft gehörten zum Alltag. Auf geradezu anstößige Weise identifiziert sich der Menschensohn mit seinen Jüngerinnen und Jüngern. Sie, die er in alle Welt ausgesandt hat, sind mit den „geringsten Brüdern“ gemeint, nicht alle Notleidenden dieser Welt. Und wenn der Weltenrichter kommt, womit die frühe Christenheit bald rechnete, dann werden die anderen danach beurteilt, wie sie sich gegenüber den kleinen christlichen Gemeinschaften verhalten haben. Haben sie ihnen geholfen, dann haben sie auch Anteil am Reich Gottes.

Für unsere Ohren klingt eine solche Auslegung immer noch ungewohnt, kaum zu glauben. Sie mag ja gelten für die vielen, die in unseren Tagen wegen ihres christlichen Glaubens verfolgt und benachteiligt werden; sie dürfen aus der Rede des Menschensohnes Zuversicht schöpfen. Aber wir? Wenn es jedoch so ist, dass wir als Gläubige zunehmend zu einer Minderheit werden und die Kirche zur Diasporagemeinde, dann dürfen wir uns mit diesem Evangelium die Frohe Botschaft sagen lassen: Gott hat die Rettung der Welt an das gebunden, was er mit Abraham begonnen hat. Israel und die Kirche sind Gottes Werkzeug zum Heil aller Menschen. Und ich ahne, was das heißt: Wir selbst als Kirche brauchen die Zusage Jesu und seine mitfühlende Nähe. Von uns, den Glaubenden, verlangt die Jüngerschaft nämlich viel, ein Bekenntnis, das sich in unserem ganzen Leben buchstabiert. Als Minderheit werden wir zunehmend darauf an¬gewiesen sein, dass man uns einlädt, unseren Argumenten zuhört, mit uns zu kooperieren bereit ist in den vielen herausfordernden gesellschaftlichen Fragen, die nach Lösungen rufen. Als Einzelne und als Kirche haben wir uns längst noch nicht an diese Situation gewöhnt und die nötige Bescheidenheit gelernt. Da ist es gut, Gesprächspartnern zu begegnen, die zuhörend, mitfühlend und Trost spendend unsere Anliegen aufnehmen und unterstützen. Es hilft zu wissen, dass sich der Menschensohn auch mit uns heute identifiziert – und anderen ihre Menschlichkeit lohnt. Ja: „Das Evangelium wird von denen ganz verstanden, die es wirklich brauchen“ (Fulbert Steffensky).    

Zum Weiterdenken:
Jan Loffeld, Gott ist uninteressant, in: HerKorr 78 (2024), Heft 2, 29–3
Gotthard Fuchs, G’tt, in: CiG 74 (2022), Nr. 40, 4
Gerhard Lohfink, Die wichtigsten Worte Jesu (Freiburg – Basel – Wien 2022), 146–149

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