| Pressemeldung

Zeit für Familie!

Fachtagung zur Vorbereitung des Siebten Familienberichts am 11. Februar 2004 in Berlin
Vortrag von Professor Dr. Hans Bertram Humboldt-Universität zu Berlin

Zeit für Kinder









1. EinleitungFamilie ist wieder zu einem aktuellen Thema geworden, und zwar unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten. Zum einen wird bei der demografischen Entwicklung in Deutschland gefragt, warum wir nicht genug Kinder für die Sicherung der Renten bekommen. Wahrscheinlich denken die meisten Eltern, die sich für Kinder entscheiden, nicht über diese Frage nach, das heißt hier wird auf der Makroebene argumentiert, die aber natürlich mit den subjektiven Entscheidungen der Personen nichts zu tun hat. Das zweite große Diskussionselement betrifft die Entwicklung des Humankapitals in modernen Gesellschaften, nämlich die Frage, ob sich unsere Kinder eigentlich so entwickeln können und ob sie so ausgebildet werden, dass sie den Anforderungen der Zukunft gewachsen sind. Diese Themen werden jetzt zu Anfang gestreift, um die demografische Entwicklung zunächst nur unter der Perspektive von Zeit zu betrachten. 2. Der demographische WandelDer Blick auf die demografische Entwicklung in Deutschland zeigt bei den Frauen, die 1965 geboren wurden, also den jetzt knapp 40-jährigen, dass sich in dieser Geburtskohorte von 1000 Frauen 80 Frauen für 4 Kinder entscheiden, 110 Frauen für 3 Kinder, 311 Frauen für 2 Kinder und 175 Frauen für 1 Kind; dazu kommen aber 320 Frauen in diesem Altersjahrgang, die sich, nach den Daten der amtlichen Statistik, für kein Kind entscheiden: Ein Drittel der Frauen des Geburtsjahrgangs 1965 bleibt kinderlos. Vom Geburtsjahrgang 1940, also eine Generation vorher, waren nur 100 Frauen kinderlos geblieben, vermutlich aufgrund medizinischer Gründe, die es hier auch zu beachten gilt. Bei einer statistischen Kehrtwendung, wenn wir die 320 Frauen ohne Kinder nicht mehr betrachten, sondern nur noch die Frauen, die sich für Kinder entschieden haben, dann können wir feststellen, dass heute 1000 Mütter zusammen 2141 Kinder großziehen. Wenn wir das jetzt auf die Perspektive der Kinder beziehen, wachsen immerhin 476 Kinder in einer Vier-Kinder-Familie auf, immerhin 489 Kinder in einer Familie mit 3 Kindern, 918 in Zwei-Kinder-Familien und nur 258 als Einzelkind. Das Statistische Bundesamt zählt seit 1957 die Zahl der Kinder in Ein-Kind-Familien als unverändert; anders ausgedrückt wachsen fast die Hälfte aller Kinder in Deutschland mit 2 oder 3 Geschwistern auf. Das führt zur ersten These, die von dem Bielefelder Soziologen Kaufmann stammt: Offensichtlich gibt es in Deutschland eine Polarisierungstendenz zwischen einer Gruppe von Frauen, die sich aus welchen Gründen auch immer kinderlos bleiben, und einer anderen Gruppe von Frauen, die sich für Kinder entscheiden. Und diese Gruppe von Frauen, die sich heute für Kinder entscheiden, scheinen sich nicht viel anders zu verhalten als die Mütter früherer Altersgruppen. Für die Kinder hat das eine klare Konsequenz, da fast die Hälfte aller Kinder in Drei- und Vier-Kinder-Familien aufwachsen (wenn 100 Mütter je 4 Kinder haben, sind das 400 Kinder gegenüber 100 Einzelkindern von 100 Müttern). 3. Rollenmuster für Familie und BerufDie Frage, wie es in einer modernen Gesellschaft zu einer solchen Polarisierung kommt, ist außerordentlich umstritten, weil es europaweit einen Geburtenrückgang gibt, der jedoch unterschiedlich ausgefallen ist. Italien oder Spanien haben ähnliche Zahlen wie Deutschland, aber in Russland und vielen osteuropäischen Ländern ist die Geburtenrate inzwischen niedriger als in Italien und liegen nur noch bei 1,0. Das ist extrem niedrig, und man muss sich nach den Ursachen fragen. Nun sagen die durchschnittlichen Geburtenraten wenig über die eigentlichen Entwicklungen aus, weil diese in den einzelnen Ländern sehr unterschiedlich sind. Beispielsweise bekommen in Italien fast alle Frauen ein Kind, anders also als bei uns mit dem kinderlosen Drittel der Frauen. Dazu gibt es verschiedene Theorien, und ich skizziere Ihnen eine Theorie, die die unterschiedliche europäische Geburtenentwicklung auf kulturelle Differenzen zurückführt und die ich für recht plausibel halte. Eine junge Frau in Italien, die eine qualifizierte Ausbildung hat, einen Beruf ausüben und selbständig sein möchte, kann das eigentlich nur ohne Kinder erreichen. Sobald sie heiratet und ein Kind bekommt, tritt sie wieder in das traditionelle italienische Familiensystem ein; das heißt die vorhandene Emanzipationsphase wird mit der Geburt eines Kindes beendet und die Frau ist wieder in die traditionelle italienische Familie integriert. So versuchen viele junge Frauen sich zu qualifizieren und sind lieber arbeitslos, wenn sie keinen Arbeitsplatz finden, als dass sie sofort heiraten, weil sie wissen, dass dahinter ein traditionelles Lebensmuster steht, das sie möglicherweise in dieser Form nicht leben wollen. In Nordeuropa gibt es ein ganz anderes Muster, und zwar nicht nur in den skandinavischen Ländern, sondern beispielsweise auch in England. Hier bedeutet ein Kind häufig Emanzipation vom Elternhaus: Wenn eine junge Frau ein Kind bekommt, kann sie sich in diesem Sinne von der Herkunftsfamilie abgrenzen. Als Konsequenz dieses Modells gibt es auf der einen Seite viele ledige Mütter, zum Zweiten aber auch viele sehr junge ledige Mütter, weil auch ein Teenager mit 16 Jahren sich auf diese Weise vom Elternhaus abgrenzen kann. Zum Dritten gibt es ein mitteleuropäisches Modell, mit Ausnahme von Frankreich, das ich noch gesondert erwähne. Im mitteleuropäischen Modell ist zwar die Emanzipation der jungen Frauen möglich, aber dann mit der Entscheidung für Kinder entsteht ein extremer Druck aufgrund einer ganz spezifischen kulturellen Tradition, dass nämlich eine gute Mutter eine ganz bestimmte Perspektive auf ihre Kinder einnimmt. Nicht nur für Deutschland, sondern auch für die Niederlande oder Österreich gilt, dass sich eine gute Mutter den Bedürfnissen und Wünschen der Kinder "unterordnet". In unserer Kultur, so die These eines französischen Demographen, versuchen wir die Frage der Kinderbetreuung stark normativ über ein bestimmtes Rollenmodell der Frau in unserer Gesellschaft zu regulieren. Das ist anders als in Italien oder in Nordeuropa, und bestimmte kulturelle Lebensmuster lassen sich nicht einfach wegschieben, weil wir natürlich alle Teil einer bestimmten Kultur sind. Wenn diese These richtig ist, und vieles spricht dafür, hat das mehrere Konsequenzen. Als erste Konsequenz wird eine junge Frau, die sich in der modernen Gesellschaft entsprechend entwickeln will, beispielsweise die Geburt des ersten Kindes möglichst lange aufschieben, weil sie sich subjektiv mit dem Problem konfrontiert sieht, mit der Entscheidung für ein Kind in eine Situation der Unverträglichkeit zu kommen zwischen den Erwartungen in Bezug auf das Kind und denen in Bezug auf den Beruf. Das lässt sich in Deutschland am Bildungssystem gut verdeutlichen. Vermutlich gibt es weltweit kein Bildungssystem, das nicht nur so lange dauert, sondern auch so abgeschottet gegenüber Familien und Kindern ist wie das deutsche Bildungssystem. Bei einer akademischen Bildung muss man in Deutschland davon ausgehen, bis zum 26. oder 28. Lebensjahr ökonomisch abhängig zu sein, ohne selbstständig über sein Leben zu entscheiden. Gleichzeitig ist damit zu rechnen, nach Abschluss einer solchen Ausbildung etwa sieben Jahre für die berufliche Etablierung zu brauchen, so dass man etwa Mitte 30 ist. Nach einer Zeitreihe zur Menge der Berufswechsel nach der Ausbildung bis zum 30. Lebensjahr der 1910 geborenen Frauen bis zu den 1970 geborenen Frauen lässt sich zeigen, dass erst bei den Frauen, die nach 1950 geboren wurden, die Zahl der Berufswechsel bis zum 30. Lebensjahr wieder auf durchschnittlich fünf Berufswechsel ansteigt, wie bei der ältesten Frauengruppe. Die Integration ins Erwerbsleben wird offensichtlich auch in der Gegenwart zunehmend schwieriger mit der Konsequenz, dass es eine Diskrepanz gibt zwischen den Lebensvorstellungen in Bezug auf das Privatleben auf der einen und die berufliche Integration auf der anderen Seite, und in dieser Schärfe ausgeprägt vermutlich nur in Deutschland. Eine weitere Konsequenz sind schlicht biologische Faktoren, die man nicht außer Acht lassen kann. Wenn eine Frau von 35 Jahren mit einem Mann von 35 bis 37 Jahren ins Bett geht, ist die Wahrscheinlichkeit, dass dann ein Kind entsteht, etwa 15 Prozent; wenn beide Mitte 20 sind, liegt die Wahrscheinlichkeit bei 50 Prozent, denn die biologische Uhr gibt es nicht nur bei Frauen, sondern auch bei Männern. Als Konsequenz wird mit zunehmendem Lebensalter die Wahrscheinlichkeit für Kinder, selbst wenn man sie haben will, immer geringer. Hier liegt vermutlich auch eine Erklärung für den unglaublichen Boom der Reproduktionsmedizin. Darin liegt aber auch eine Erklärung, warum in Deutschland ausgerechnet die akademisch gebildeten Frauen relativ wenig Kinder bekommen: Auf der einen Seite schließt das Bildungssystem das quasi aus, selbst wenn die junge Frau es wollte, dann ist die berufliche Etablierungsphase bei uns relativ lang mit der Konsequenz, dass man nicht mehr in der Lage ist, die Kinder zu bekommen, die man gern haben möchte. 4. Bildung, Beruf und FamilieDaher geht die erste Forderung: nach Zeit für Kinder paradoxerweise an den Staat und das Bildungssystem, nämlich sich so umzuorganisieren, dass sich neue und unterschiedliche Lebenswünsche auch realisieren lassen. Der Unterschied in den Bildungssystemen macht deutlich, dass es keine Utopie ist. In den angelsächsischen Ländern bis zu den USA, aber auch in Frankreich sind die Studiengänge alle gestuft, das heißt man kann beispielsweise nach einem BA-Abschluss mit 22 bis 23 Jahren zunächst mit diesem Examen arbeiten gehen, was auch vielfach geschieht, um dann später wieder einzusteigen in einen MA-Studiengang, um eine weitere Qualifikation zu erwerben. Frankreich hat sein Bildungswesen als ein Concourssystem organisiert, das heißt mit einem ersten Concours kann man etwa Grundschullehrer oder Grundschullehrerin werden, um gegebenenfalls später einen weiteren Concours zu machen, um Gymnasiallehrer zu werden, oder einen weiteren Concours machen, um Professor zu werden. Auch dieses System ist gestuft und ermöglicht es den Menschen, zwischen den Stufen immer wieder aus- und neu einzusteigen. Unser Bildungssystem ist hingegen rigoros nur auf die Erstausbildung angelegt. Das führt zu der These, dass man das, was man nicht in den ersten 30 Jahren des Lebens gelernt hat, später nicht mehr lernen kann. Wenn wir also in Deutschland mehr Zeit für die Familiengründung haben wollen, müssen sich der Staat und die Bildungseinrichtungen überlegen, ob unser deutsches System wirklich sinnvoll ist oder ob wir nicht Modelle anderer Länder übernehmen müssen, sei es das französische Concourssystem oder das angelsächsische BA/MA-System. Daran lässt sich noch eine weitere Betrachtung anschließen. In Deutschland sind, auch deutlich unterschiedlich zu vielen anderen Ländern, die typischen Dienstleistungsberufe im Wesentlichen so organisiert, dass sie eigentlich keine Vereinbarkeit von Familie und Beruf zulassen, sondern ganz anders strukturiert sind. Wenn eine Frau Erzieherin oder auch Krankenschwester wird, geht man von aus, dass sie sich für diese beruflichen Aufgaben voll einbringt, das aber vielleicht nur für fünf oder sechs Jahre und sich dann in das Privatleben zurückzieht. Dies sind keine Karriereberufe, sondern Berufe, die eine Arbeitszeit von wenigen Jahren vorsehen ohne darauf aufbauende Anschlusstätigkeit. In unseren Universitäten, Fachhochschulen und sonstigen Bildungseinrichtungen denkt fast niemand darüber nach, wie eigentlich Bildungsangebote organisiert sein könnten, dass jemand etwa fünf Jahre berufstätig ist, sich dann drei oder vier Jahre für ein Kind entscheidet, dann entsprechende Bildungsangebote bekommt, um mit 35 Jahren noch mal etwas ganz Neues zu machen. Ein solches Muster ist in unserer Gesellschaft einfach nicht vorgesehen, und solange das so ist, bleibt auch der Gegensatz bestehen, den ich beschrieben habe. 5. Ökonomie und FamilieNun könnte man schlussfolgern, dass sei überhaupt nicht schlimm, weil die Mütter, die sich für Kinder entscheiden, gar nicht arbeiten wollen, sondern sich eigentlich um ihre Kinder kümmern wollen. Hier ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Ökonomie in unserem Lande auch eine Rolle spielt. Nach den ökonomischen Fakten wird in den neuen Bundesländern ungefähr 40 bis 50 Prozent des Haushaltseinkommens durch des Einkommens der Ehefrau oder Lebensgefährtin erwirtschaftet, und auch in den alten Bundesländern liegt dieser Anteil zwischen 25 und 45 Prozent. Wenn ein Elternteil sich jetzt nur den Kindern widmen wollte, würde das für einen großen Teil der Haushalte bedeuten, dass schlicht 25 bis 45 Prozent des Einkommens entfallen, was in der Regel gar nicht geht. Im Unterschied zur Müttergeneration lässt sich nachvollziehbar zeigen, dass die Haushalte in dem Maße mehr Geld brauchen, in dem in einer Ökonomie immer mehr Leistungen über den Markt abgewickelt werden. Bei einem großen Garten irgendwo auf dem Lande kann ein Großteil des Haushaltes mit nicht marktkonformen Mitteln erwirtschaftet werden. Sobald das nicht mehr möglich ist, steigt die Nachfrage nach Geld auch in einem Familienhaushalt.Hinzu kommt, und darüber denkt die Familienpolitik in der Regel nicht nach, dass der unglaubliche Wandel der modernen Gesellschaft von einer Industrie- zu einer Dienstleistungsgesellschaft notwendigerweise dazu führt, dass immer mehr Leistungen, die traditionellerweise im Haushalt erwirtschaftet wurden, heute "outsourced" werden: Immer mehr Produkte werden über den Markt abgewickelt, die bisher im Haushalt erwirtschaftet wurden. Dieser Trend ist auch nicht zurückzudrehen. Ob sich das so entwickelt wie in den Vereinigten Staaten, wo sich ein Menü mit mehreren Gängen innerhalb einer Viertelstunde produzieren lässt, weil alle Halbfertigprodukte im Supermarkt zu kaufen sind, mit denen sich in der Mikrowelle ein individuell zusammengestelltes Menü erzeugen lässt, sei dahin gestellt. Aber es ist völlig klar, dass ein Teil dieser Produktion über den Markt abgewickelt wird. Als Konsequenz davon ist mehr Geld erforderlich. Dieser Prozess hat nichts mit dem Wünschen und Wollen der einzelnen Subjekte zu tun, sondern ist ein ökonomischer Prozess, den wir im Augenblick weltweit beobachten können. Auch in Deutschland können wir uns dem nicht widersetzen, weil alle Ökonomen davon ausgehen, dass die zukünftigen Gesellschaften den größten Teil ihrer Güterproduktion über Dienstleistungen abwickeln. 6. ZeitmusterMit diesen Überlegungen als Ausgangspunkt kommen wir gleich zu dem nächsten großen Thema, das wiederum direkt mit der Zeit für Kinder zu tun hat. Die zunehmende Ausweitung von Dienstleistungsprodukten führt unweigerlich zum Zerbrechen der klassischen Zeitmuster. Die Industriegesellschaft hatte ganz klassische Zeitmuster geschaffen: wer wie ich in der Nähe des Ruhrgebietes aufgewachsen ist, weiß noch ganz genau, wie die Siemens-Martins-Birne den Zeitrhythmus des Alltags im Einzelnen bestimmt und einen klaren Zeittakt vorgegeben hat. Wenn um 6 Uhr die Frühschicht begann und um halb 7 der Anstich, dann mussten um 6 Uhr alle Stahlwerker da sein, folglich war um 8 Uhr Schulbeginn: erst fing der Vater an, dann mussten die Kinder in die Schule und entsprechend war der Bürobeginn. 13 Uhr war Schulschluss, um 14 Uhr kam der Vater nach Hause. Dieser Zeittakt lässt sich bis zu den U-Bahn-, S-Bahn- und Straßenbahnplänen verfolgen, und auch wenn wir das heute antiquiert finden, war es eine ganz große kulturelle Leistung, die private Zeit und die berufliche Zeit so zu organisieren, dass die Menschen diesem Zeittakt entsprechend auch organisiert sein konnten. Heute lächeln wir vielleicht darüber, dass die Gewerkschaften in den 50er Jahren Plakate klebten mit dem Argument "samstags gehört Papi mir". Dahinter stand die Vorstellung, dass die kontinuierliche Warenproduktion bei der Stahlverformung doch so organisiert sein sollte, dass es hier auch Zeit für die Familie gab.Die Industriegesellschaft hatte ein bestimmtes kulturelles Muster entwickelt, wie Zeit und Familienzeit organisiert sein konnten. Nun ist die Zeit in einer Dienstleistungsgesellschaft völlig anders organisiert und folgt nicht mehr einem klaren Rhythmus. Das hat aber ganz erhebliche Konsequenzen. Von den Produkten, die eine große deutsche Telefonfirma heute am Markt hat, gab es ungefähr 90 Prozent dieser Produkte Mitte der 90er Jahre noch nicht. 90 Prozent sind ganz neu auf den Markt gekommen, und zwar nur deswegen, weil diese Firma sich radikal umgebaut hat. Das bedeutet, dass jemand, der bestimmte Güter anbieten oder bestimmte Arbeitsleistungen erbringen will, gezwungen ist, zwischen 16 und 20 Uhr präsent zu sein oder möglicherweise am Wochenende, nicht aber zwischen 8 und 15 Uhr. Die amerikanische Firma IBM macht heute mehr als 50 Prozent ihres Umsatzes mit so genannten Dienstleistungen. Diese Dienstleistungen werden aber rund um die Uhr und weltweit angeboten. Wer als Broker in einem Handelshaus arbeitet, richtet seinen Zeitrhythmus nach den Uhren in Tokio und New York und nicht mehr nach den Produktionszeiten. Als Konsequenz daraus sind die klaren gemeinsamen Zeitstrukturen in modernen Gesellschaften vollständig zerbrochen, so dass plötzlich in einer ganz unglaublichen Weise Berufszeit oder auch öffentliche Zeit in die Familienzeit eindringt. Wir stehen heute vor dem Problem, dass die Alltagszeit nicht mehr klar strukturiert ist und wir unsere Alltagszeit jetzt plötzlich ganz neu und individuell organisieren müssen. 7. Das Zerbrechen der AlltagszeitNun kann man sagen, dass sei überhaupt kein Problem, weil Gesellschaften es immer geschafft haben, sich dem Wandel der ökonomischen Struktur anzupassen. Das ist sicher so, nur haben wir heute mit weiteren Hinterlassenschaften der Industriegesellschaft zu kämpfen, die unsere Zeitstrukturen noch mehr verkomplizieren. Bekannterweise wollen Eltern zumeist für ihre Kinder einen Sandkasten haben, damit die Kinder dort unbeaufsichtigt spielen können. In Zeitkategorien ausgedrückt heißt das: Kinder, die im Erdgeschoss oder in einem Einfamilienhaus wohnen, haben am Tag rund 70 Minuten unbeaufsichtigte Spielzeit; mit zunehmender Geschosszahl der Wohnung sinkt die unbeaufsichtigte Spielzeit: Im dritten Stock sind es nur noch 20 Minuten pro Tag. Als Konsequenz dieses Elternwunsches ziehen die Familien immer weiter ins Grüne. Die Arbeitsplätze wandern aber nicht in der gleichen Weise mit. Das heißt, macht man etwas für die Kinder, ist ein zusätzliches Zeitbudget zu bewältigen, weil zusätzliche Anfahrtszeiten zu leisten sind, ein ganz einfaches Problem, das sich nicht direkt lösen lässt. Dieses simple Problem wird aber sozialpolitisch noch komplizierter, weil es in in den urbanen Zentren nicht nur die Arbeitsplätze gibt, sondern auch die Infrastruktur für Kinder. Weil die Kinder nun aber nicht notwendigerweise dort leben, wo die Infrastruktur ist, transportieren die Eltern ihre Kinder morgens zur Infrastruktur, anschließend sich zur Arbeit und abends das Gleiche wieder zurück. Und um die Gemengelage noch komplizierter zu machen, werden Sie mit Blick auf die demografische Entwicklung feststellen, dass die Infrastruktur durch die zurückgehenden Kinderzahlen immer schwerer mit Kindern zu füllen ist. Als Konsequenz werden die Wegstrecken beispielsweise zur Kinderbetreuung oder zur Schule immer größer, stimmen nicht mehr mit den Berufsstrecken überein und führend zu einem Zeitpuzzle, das kaum noch organisierbar ist. In ihrem Buch "The Overworked America", das es auf die Bestsellerliste der New York Times geschafft hat, was für soziologische Bücher eher selten ist, beschreibt meine amerikanische Kollegin Schor genau diesen Prozess, der in Amerika noch ein Stück weiter ist, was man bei uns auch beobachten kann. Wenn die Einkaufszentren noch woanders sind, ist man permanent unterwegs. Dieses Problem bestand in einer traditionellen Industriegesellschaft nicht, wo die Arbeitsorte zumeist in einem Bereich konzentriert waren und die Wohnorte in anderen Stadtbereichen und man zwischen Wohnen und Arbeiten hin- und herpendelte. Ein Kernproblem moderner Gesellschaften besteht also darin, dafür zu sorgen, dass die private Zeit in einer Weise organisiert werden kann, dass unterschiedliche Zeitbedürfnisse koordinierbar sind. Und wenn darüber hinaus, nach den Unterlagen des ISO in Bonn, 80 Prozent aller Arbeitnehmer in Deutschland nicht mehr mit fester Arbeitszeit arbeiten, sondern schon in irgendeiner Form von flexibler Arbeitszeit, ist absehbar, dass die hier beschriebenen Tendenzen sich weiter entwickeln. 8. Veränderte LebensläufeNun könnte man angesichts der beschriebenen Entwicklungen zur Dienstleistungsgesellschaft und zur Zeitauflösung sagen, dass der Geburtenrückgang doch dann dazu führt, mehr Zeit zu haben. Jedoch gibt es einen weiteren Wandel, der den Zeithaushalt noch weiter begrenzt. Die Menschen werden heute immer älter: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren etwa. 5 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre. Wir hätten heute bei solchen Zahlen keine Rentenprobleme zu lösen, denn für Bismarck war das kein Problem, weil es keine Rentner gab, so konnte er also großzügig sein. Jedoch passiert als Folge der allgemeinen höheren Lebenserwartung auch etwas mit den Familienbeziehungen. Diese dauern plötzlich ein Leben lang, und das heißt für eine Mutter, dass sie davon ausgehen kann, etwa 60 Jahre gemeinsame Lebenszeit mit ihrem erstgeborenen Kind zu haben. Der Vater bringt es wegen der geringeren Lebenserwartung nur auf 55 Jahre.Zur Zeit des ersten Weltkriegs war die gemeinsame Lebenszeit des Vaters mit seinem Erstgeborenen knapp 20 Jahre, so dass 35 Jahre an gemeinsamer Lebenszeit hinzugekommen sind. Das hat nicht nur Einfluss auf die Familienbeziehungen in den Zeiten der aktiven Kindererziehung, sondern wirkt sich auch auf die Zeiterwartungen aus, da nun 55 bis 60 Jahre gemeinsamer Beziehungen gestaltet werden müssen, selbst wenn man nicht unter einem Dach lebt. Das heißt nun müssen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern auch mittel- und langfristig ausgehandelt werden. Gegenüber früheren Generationen ist die Zeiterwartung an die Familien und an die Familienbeziehungen gestiegen und nicht gesunken, was durch die demografische Entwicklung noch verstärkt wird und das Zeitmanagement in der Familie zunehmend verkompliziert, nicht nur wegen der externen Änderungen, sondern auch wegen der internen familienstrukturellen Veränderungen. Angesichts der Geburtenentwicklung wird sich dieses Problem eher noch verschärfen. Die Großelternrolle ist ein historisch neues Phänomen dieser Generation, und man muss sich vorstellen, dass ein Kind zu seinen beiden Eltern vier Großeltern hat, mit denen es sich in irgendeiner Weise arrangieren muss. Das bedeutet eine Umdrehung von Beziehungsmustern, die historisch völlig anders gelaufen sind, und wir wissen noch gar nicht, wie diese Beziehungsmuster wirklich angemessen zu bewältigen sind, weil wir in solchen Gesellschaften noch nicht gelebt haben. Das heißt wir müssen auch unsere klassische Vorstellung von Familie in Frage stellen. Die klassische Familienvorstellung war nämlich die Kernfamilie von Vater, Mutter und Kindern in einem Haushalt. Aber natürlich gehören die Großeltern oder die alt gewordenen Eltern irgendwie auch zur Familie, weswegen die Soziologie von multilokalen Familien spricht: Die Familien sind nicht mehr an einem Ort, sondern in mehreren Orten situiert und müssen dies jetzt zusätzlich noch irgendwie bewältigen. Diese Multilokalität gilt allerdings nicht nur für Familien mit Großeltern, sondern häufig auch für junge Paare: Zwei junge Leute lernen sich bei der Bank in der Lehre kennen; dann schlägt die Bank den beiden als ersten Arbeitsort Frankfurt an der Oder und Frankfurt am Main vor, was zu einem leicht absehbaren Ergebnis führt: Die beiden Partner werden sich ihr Leben so organisieren, dass sie sich am Wochenende irgendwie in Berlin oder wo auch immer treffen, um sich eine gemeinsame Lebensführung zu ermöglichen. Bei den jungen Erwachsenen wird diese Lebensform inzwischen auf fast 20 Prozent geschätzt, die nicht da ist, weil man mit dem anderen nichts zu tun haben will, sondern weil offenkundig die Organisation des Lebens besonders komplex geworden ist. Und auch hier ist Deutschland, aus welchen Gründen auch immer, ein Schlusslicht. Denn bei den unter 30-jährigen Frauen in Deutschland geben nur die Hälfte einen festen Partner an, während es etwa in Frankreich 90 Prozent sind. Offensichtlich führt die Gesellschaftsformation, die wir gerade in Deutschland erleben, auch dazu, dass es zunehmend schwierig wird, dauerhafte Bindungen einzugehen, weil die Mobilitätsstrukturen dem entgegenstehen. Daher gibt es zusätzlich das Problem zu lösen, wie sich unter solchen Bedingungen überhaupt dauerhafte Bindungen organisieren und wie sich auch die Obligationen etwa gegenüber den alt gewordenen Eltern in angemessener Weise befriedigen lassen. Multilokalität führt eben auch zu zusätzlichen Zeitproblemen.Jetzt stellt sich die Frage, wie wir damit umgehen können, welche Möglichkeiten es gibt, mit dieser Art von Zeitorganisation zu leben, oder wir dem hilflos ausgeliefert und darauf angewiesen sind, auf Dauer quasi Singles und Nomaden zu werden. Offensichtlich ist, wie mein Kollege Richard Münz meint, der moderne Nomade - ohne Bindungen, hoch qualifiziert und dreier Sprachen mächtig - für die postmodernen Gesellschaften optimal vorbereitet. Als Soziologe sehe ich das eher skeptisch, denn sowohl das Humankapital wie auch das Sozialkapital moderner Gesellschaften nähmen dann nicht nur großen Schaden, sondern es würde sich ein in meinen Augen problematischer Trend verstärken, wie er sich bereits bei manchen Firmen abzeichnet. In einer solchen Gesellschaft kann natürlich die Firma Ersatz für externe soziale Beziehungen werden, indem die Firma mit ihren Mitarbeitern wie in einem Mönchsorden lebt und alle Aktivitäten an Sport und Unterhaltung in der Nähe der Firma anbietet. Bei einigen amerikanischen Firmen ist es offensichtlich die Vision, dass die Firma in der Mitte platziert ist und die Mitarbeiter um die Firma herum wohnen, und vom Golfplatz über den Segelplatz bis zum Fitness-Zentrum alles da ist. Man kann eigentlich ständig in der Firma bleiben und alle Kontakte in der Firma organisieren, ohne aus diesem Leben heraustreten zu müssen. Diese moderne Form mönchischen Lebens, bei der alles auf eine bestimmte Organisation bezogen ist, kann jedoch in meinen Augen keine angemessene Zukunftsvision sein. Wir müssen uns für die Zukunft mit dieser Zeitfrage so auseinandersetzen, dass wir Visionen entwickeln können, wie wir in unserer Gesellschaft nicht nur Mönchsorden bilden, sondern wie sich soziale Beziehungen, nämlich Sozialkapital und Humankapital, entwickeln können. Die öffentlich vorherrschende Vorstellung für Kinderbetreuung durch eine flächendeckende Infrastruktur birgt das oben benannte Problem, dass möglicherweise die Kinder dann nicht da sind, wo die Infrastruktur ist. In der zu erwartenden langen Debatte lohnt es sich, nach Frankreich zu schauen. Der französische Präsident Mitterand hatte zu Beginn seiner ersten Amtsperiode 300.000 neue Plätze im Bereich der Kinderkrippen versprochen, doch am Ende seiner 14-jährigen Amtszeit waren es nur 20.000 geworden. Der Grund liegt in einem ähnlichen Problem wie in Deutschland: Die Kommunen fanden das Programm toll, hatten aber kein Geld. Die Franzosen haben aber daraus gelernt, und es lohnt sich,die Lösung genauer anzuschauen. Sie haben nämlich einen neuen Beruf gebildet, den wir in dieser Form gar nicht kennen: die Tagesmutter mit akademischer Qualifikation oder die lizensierte Tagesmutter: Wer in Frankreich als Tagesmutter tätig sein will, braucht die gleiche Ausbildung und die gleiche Qualifikation wie die Leiterin einer Ecole Maternelle. Mit diesen außerordentlich gut qualifizierten Frauen ist ein neuer Berufszweig entstanden, mit dem die Gesellschaft auf die demografische Entwicklung in Frankreich flexibel reagieren konnte. Der Grundgedanke waren ein neues Berufsbild und neue Qualifikationen. Ohne das gleich als Modell für Deutschland zu übernehmen, kann darin aber eine Möglichkeit bestehen, die Betreuung von kleinen Kindern auch anders zu organisieren.Für Deutschland gibt es in dieser Hinsicht eine grosse Vielfalt von Möglichkeiten, die man nutzen kann. Möglicherweise sehen die Lösungen in Großstädten wie Hannover und Berlin, wo die Wege zu den Infrastrukturen nicht weit sind, anders aus als in den ländlichen Regionen. Die Kultusministerkonferenz führt aktuell eine intensive Debatte über Zwergschulen. Dabei besteht die Gefahr, dass sich die eher reichen Länder Zwergschulen leisten und die eher armen Länder diese Zwergschulen abschaffen mit der Konsequenz, dass in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg die Kinder vom Dorf noch größere Strecken zu bewältigen haben, weil die Schulen und die Lehrer zentral zusammengezogen werden. Der Ausbau der Infrastruktur wird also als Antwort nicht genügen, wir brauchen vielmehr auch neue Modelle aufgrund der massiven gesellschaftlichen Veränderungen. 9. Work-Life-BalanceDiese neuen Modelle können nicht allein vom Staat und von den Eltern geschaffen werden. Es gibt hier einen dritten Partner, den man in die Verantwortung nehmen muss, weil das ja auch Geld kostet, nämlich die Industrie und die Unternehmen. Als Beispiel beschreibe ich eine große amerikanische Softwarefirma mit etwa 5.000 Angestellten, von denen, was in diesem Feld ganz selten ist, fast die Hälfte Frauen und Mütter sind. Der Firmenchef gehört mit oder trotz dieser Firmenpolitik zu den vierzig reichsten Amerikanern, was für ein ganz gut funktionierendes System spricht. Als zentralen Aspekt seiner Politik holte er die Kinder in die Firma. Die amerikanischen Tagesschulen schließen in der Regel um 15 Uhr; hier können die Kinder aber auch schon zum Mittagessen gemeinsam mit den Eltern in der Firma sein und sie können nachmittags alle Sporteinrichtungen der Firma nutzen. Die Mitarbeiter können so ihre privaten, persönlichen Bedürfnisse, die sich aus den Zeitproblemen ergeben, als Teil der Firmenkultur interpretieren. Hier gibt es keine klare Trennung mehr zwischen Privat und Firma, aber der Unternehmer ist bereit, die privaten Bedürfnisse auch zu akzeptieren. Aus diesem Grundgedanken ist das Modell der so genannten Work-Life-Balance entstanden, das heute auch in Deutschland intensiv diskutiert wird, wie sich nämlich die unterschiedlichen Lebensbedürfnisse der Menschen, die sich manchmal mit den Firmeninteressen brechen, so organisieren lassen, dass beide Bedürfnisse im Grundsatz gleich berechtigt nebeneinander stehen. Und die Geschichte dieser Firma zeigt weiterhin, dass sie nicht nur ökonomisch erfolgreich ist; die Fluktuation der Mitarbeiter liegt unter 5 Prozent, trotz der bei amerikanischen Computerfirmen dieser Art normalerweise üblichen 25 Prozent, weil hier offensichtlich, statt der Maximierung des Einkommens, diese ganz andere Politik wirkt, die danach fragt, wie sich eigentlich die Dinge so organisieren lassen, dass bestimmte Lebensbedürfnisse einfach berücksichtigt werden. Das steigerte nicht nur den Output der Firma, sondern offensichtlich auch die subjektive Zufriedenheit der Menschen, die in dieser Firma arbeiten. Nun kann man einwenden, das könnten nur große Firmen machen, weil kleine Firmen zu solchen Angeboten nicht in der Lage seien. Eine Stiftung in Deutschland zeichnet Firmen nach ihrer "Work-Life-Balance" aus, und erstaunlicherweise gibt es da häufig kleine Firmen mit 100 bis 150 Mitarbeitern, oder etwa die Firma eines Steuerberater mit 5 Mitarbeiterinnen, der ein sehr kreatives Modell entwickelt hat, wie sich unterschiedliche Zeitbedürfnisse auf die Firma und die Familie beziehen können. Das Wichtigste in unserer Gesellschaft ist heute, dass wir viele neue und unterschiedliche Modelle denken. Historisch hatten wir in der Industriegesellschaft eine klare Differenzierung von Zeit über Beruf und Familie organisiert, die heute aus vielerlei Gründen zusammenbricht. Dieses Zusammenbrechen wird, wenn wir nichts ändern, unser Sozialkapital und unser Humankapital in Frage stellen. Wir müssen eine neue Zeitorganisation schaffen, die möglicherweise in einem Punkt ganz altmodisch ist wie in der Agrargesellschaft. In der Agrargesellschaft war es üblich und notwendig, dass die Produktionsbedingungen des Betriebes und die privaten Lebensbedingungen der Subjekte aufeinander bezogen waren, weil sonst das Überleben der jeweiligen Gemeinschaft nicht möglich gewesen wäre. Wir können keine heile Welt zurückholen, aber wir können zumindest davon lernen, die rigorose Trennung der verschiedenen Lebenswelten, wie wir sie heute kennen, nicht zwangsläufig aufrecht zu erhalten. Das lässt sich theoretisch in zwei Linien durchdenken. Zum einen müssen wir uns den Lebensverlauf anschauen und uns fragen, ob die dreiteilige Organisation des Lebensverlaufs, wie wir sie heute haben, wirklich angemessen ist mit Lernen im ersten Drittel, Arbeiten im zweiten Drittel und danach Erholen. Eine große Volkspartei hat genau dieses Muster noch auf ihrem Parteitag Anfang der 90er Jahre als Ziel formuliert. Abweichend davon lassen sich Lebensverläufe vorstellen, die viel bunter sind, die Lernen, Arbeiten, Familie im Lebensverlauf in wechselnden Phasen angemessen miteinander verbinden. Das bedeutet allerdings für unsere sozialen Sicherungssysteme eine große Umstellung, denn diese sind genau auf diese Dreiteilung eingerichtet und nicht auf eine Vermischung. Ein gutes Beispiel für solche bunten Lebensverläufe gibt es beispielsweise bei der Bundeswehr. Wenn ein junger Mann Offizier werden will, verpflichtet er sich für 12 Jahre bei der Bundeswehr, davon sind 3 Jahre Ausbildung, 3 Jahre Militärtechnik, dann 6 Jahre Militärdienst; nach 2 Jahren Übergang, ist es dann in der Regel 33 bis 35 Jahre und wechselt in einen ganz anderen Beruf. Offensichtlich geht das in diesem Bereich, und die Gesellschaft kann hier scheinbar so viel Geld ausgeben. Man könnte sich vorstellen, das wäre in anderen Bereichen auch so. Bei der Übertragung dieses Modells auf das Bildungssystem könnte man sich vorstellen, die Eingangsvoraussetzung für ein Jurastudium wäre etwa Justizangestellter in einer Vollzugsanstalt, die für ein Medizinstudium die Pflegeausbildung, so dass erst eine einfachere Ausbildung, und möglicherweise später eine höhere Qualifikation absolviert wird. Das hört sich im Augenblick fast revolutionär an, aber das haben uns andere Länder bereits vorgemacht. Und eine größere Buntheit im Lebensverlauf führt möglicherweise zu einer Entspannung der Zeitbedürfnisse.Die zweite Perspektive betrifft die Alltagszeit. Ich persönlich halte bei der Alltagszeit folgende Entwicklung für möglich: Wir müssen bereit sein zu akzeptieren, dass diejenigen, die im Bereich des Sozialkapitals besondere Leistungen erbringen, und das sind nun mal Eltern und Familien, nicht diejenigen sind, die die Zeitprobleme allein zu lösen haben, vielmehr brauchen wir zur Lösung dieser Zeitprobleme die Kommunen, die Länder und den Bund, und wir brauchen die Industrie. Auch dafür gibt es ein plausibles Beispiel: Der Bürgermeister von Boston, einer relativ großen amerikanischen Stadt und einer der großen Finanzdienstleistungssektoren Amerikas, hat ein After-School-Movement gegründet. Alle führenden Chefs der örtlichen Industrie von Boston denken sich aus, wie sie ihre Manager dazu bringen, sich beispielsweise nach der Schule um Kinderbetreuung zu kümmern, also in sozial benachteiligten Gebieten mit den schwarzen Kindern, die vielleicht nicht mehr in die Schule gehen wollen, Baseball oder sonst was zu spielen. Diese so genannte Sozialzeit müssen die Manager ohne Bezahlung erbringen und sie müssen die Zeit irgendwie reinholen. Es gehört aber zu den beruflichen Erwartungen, die dann jährlich bewertet werden, es wird geprüft, ob jeder solche Formen von Sozialzeit erbracht hat. Dahinter steht die Vorstellung, dass man auch von den führenden berufstätigen Menschen Sozialzeit erwarten sollte. Erst dann, wenn in einer Gesellschaft klar ist, dass sich alle Gesellschaftsmitglieder, männlich oder weiblich, in dieser Weise gesellschaftlich verbindlich engagieren, und es auch in der Industrie klar ist, dass diese Form von Sozialzeit Teil der Lebenszeit sein muss, erst dann lassen sich die beschriebenen Zeitprobleme lösen. Gerade der Öffentliche Dienst hat in meinen Augen einen besonderen Nachholbedarf, weil er so etwas überhaupt nicht macht. Man stelle sich unsere Bundesverfassungsrichter vor, die ihre Sozialzeit ableisten, indem sie in der Schuldnerberatung arbeiten. Wenn wie diesen Wechsel zu einem bunteren Lebensverlauf mit der Mischung von unterschiedlichen Phasen und mit unterschiedlichen Aktivitätsbereichen nicht schaffen, schreiben wir tradierte Strukturen fort mit der Konsequenz, dass unser Humankapital und unser Sozialkapital weiter abnehmen werden.  

Cookie Einstellungen

Wir verwenden Statistik Cookies um zu verstehen, wie Sie mit unserer Webseite interagieren.

Anbieter:

Google

Datenschutz

Matomo

Datenschutz

Diese Cookies sind für den Betrieb der Webseite zwingend erforderlich. Hier werden bspw. Ihre Cookie Einstellungen gespeichert.

Anbieter:

Deutsche Bischofskonferenz

Datenschutz