| Pressemeldung

Zukunft der (Pfarr-)Seelsorge

Referat von Bischof Joachim Wanke beim Studienhalbtag der Deutschen Bischofskonferenz am 7. März 2001 in Augsburg

Thematische Einführung
Beim Ständigen Rat im August 2000 wurde beschlossen, bei dieser Frühjahrskonferenz über die Situation der Pfarrseelsorge angesichts der sinkenden Zahl der zur Verfügung stehenden Priester und den daraus sich ergebenden pastoralen Problemen für die Bistümer zu sprechen. Dieses Problemumfeld hat die DBK schon mehrfach beschäftigt und zu verschiedenen Stellungnahmen bzw. Erklärungen geführt. Die Situation verschärft sich freilich immer mehr. Wir müssen damit rechnen, dass in manchen Diözesen die Zahl der Priester in 10 bis 20 Jahren sich auf die Hälfte der jetzt zur Verfügung stehenden aktiven Priesterseelsorger (einschließlich Ordensgeistlicher in der Pfarrseelsorge) reduziert.
Dieses Problem ist in den Diözesen erkannt. Derzeit wird nahezu in allen Bistümern nach Wegen gesucht, wie die dadurch auftretenden Fragen gelöst werden können, meist unter dem Stichwort "kooperative Pastoral". Entsprechende Planungen bzw. auch schon Umsetzungen von Pastoralplänen sind im vollen Gang. Der zu diesem Studientag vorgelegte "Reader" macht mit einigen solcher diözesaner Pastoralpläne bekannt. Im Kern geht es um die Frage nach der Sicherung der Pfarrseelsorge mit immer weniger Priestern. Was nach meinem Ermessen freilich derzeit zu kurz kommt, ist die Diskussion der Frage, welche Schwerpunkte in der Pfarrseelsorge heute und morgen zu setzen sind. Vor der "Personalfrage" muß die Frage nach den "Inhalten" der Arbeit stehen.
Es dürfte m.E. nicht allzuviel bringen, wenn wir uns heute vormittag gegenseitig die geplanten strukturellen Veränderungen in den Bistümern in allen Einzelheiten vorstellen. Was wir dagegen als Ziel verfolgen sollten, wäre vor allem dies:
Eine Verständigung über die hinter den Lösungsmodellen der Bistümer liegenden theologischen und pastoralen Leitvorstellungen von Pfarrseelsorge;Eine Sammlung sich daraus ergebender Fragestellungen, an denen wir gemeinsam weiterarbeiten sollten (wobei u.U. dazu gezielt Arbeitsaufträge an unsere Kommissionen bzw. andere Studiengremien vergeben werden könnten).
Weihbischof Paul Wehrle wird im Verlauf unseres Arbeitsvormittages ebenfalls das Wort ergreifen. Er ist Vorsitzender der Unterkommission der K 3 "Grundfragen der Gemeinde- und Sakramentenpastoral", die sich speziell mit dem Gestaltwandel in der Pfarrpastoral und der Frage spezieller Prioritätensetzungen in der Seelsorge beschäftigt.
Ich trage zunächst einige Überlegungen als Anregung für die nachfolgende "Generaldebatte" unseres Studienvormittages vor. Meine Ausführungen gliedere ich in vier Gedankengängen:
1. Was die gegenwärtige kirchliche "Stunde" von uns Bischöfen fordert
Meine erste Überlegung im Blick auf unser Thema lautet: Die zurückgehenden Priesterzahlen sind zwar Anlaß für Veränderungen in den Bistümern. Die eigentliche Begründung für kirchlichen Handlungsbedarf ist freilich der veränderte soziokulturelle Kontext unserer gegenwärtigen Situation. Oder anders gesagt: Wir müßten auch dann handeln, wenn wir noch hinreichend genug Priester hätten!
Damit stellt sich für uns eine provozierende Frage: Sind Strukturveränderungen in unseren Diözesen nur deshalb an der Zeit, weil wir Priestermangel haben oder weil sich die Situation und die Verhältnisse selbst ändern? Greshake behauptet, dass die Frage nach dem Priestermangel auch die Frage nach dem Gläubigenmangel nach sich zieht. Er weist darauf hin, dass die Erzdiözese Köln heute pro Kirchenbesucher mehr Priester zur Verfügung hat als vor 30 Jahren.
Wir sollten uns in folgendem einig sein: Es wird keine Rückkehr zu den pastoralen Verhältnissen vor dem Konzil bzw. gar in die 30ger und 40ger Jahre des vergangenen Jahrhunderts geben. Wenn ich persönlich Gewissenserforschung halte, bemerke ich, dass ich das pastorale "Jetzt" weithin an dem messe, was ich selbst als junger Priester erlebt habe bzw. was mir ältere Priester aus ihrer "aktiven" Zeit berichten. Wenn wir uns von dieser Perspektive nicht lösen, werden wir nur schwer das bewältigen, was jetzt als Aufgaben ansteht.
Wir stehen in einem tiefgreifenden Wandel der Gesellschaft, der unweigerlich auch die "Sozialgestalt" von Kirche und damit auch die unserer Pfarreien und die dort tätigen Priester berührt. Dieser Wandel ist oft beschrieben worden. Aber ist er auch wirklich "verinnerlicht"? Die verbreitete gegenwärtige Resignation, die "Atmosphäre der Verzagtheit", die unsere Ortskirchen und z.T. unseren Klerus bestimmt, hat oftmals in dieser untergründigen Wahrnehmung der heutigen gewandelten Situation ihren Ursprung. Man spürt die Veränderungen zu "früher", aber es fehlt eine Vorstellung davon, wie es weitergehen könnte.
Diese Überlegungen führen mich zu einer ersten Einsicht:
Vor aller "Mangelverwaltung" braucht es das Nachdenken und die gemeinsame Verständigung über die künftige Rolle der Kirche in der sich verändernden Gesellschaft. Uns Bischöfen ist aufgetragen, dafür Visionen vorzugeben.
2. Sich in der Seelsorge auf den gesellschaftlichen Pluralismus und die "Freisetzung" der Menschen einstellen
Eine Grundherausforderung der Seelsorge ist heute die Frage, wie wir mit der folgenden Tatsache fertig werden: Über Generationen hindurch bewährte Formen der "Anstiftung zum Christsein" greifen nicht mehr so problemlos wie früher. Gravierend ist vor allem: Sowohl Schule als auch Familie können wir nicht ohne weiteres mehr als "Lernorte des Glaubens" voraussetzen. Das liegt vor allem daran, dass zwei grundlegende Tatbestände in diesen Bereichen entscheidende Wirkung zeigen:
- Die gesellschaftliche "Luft" ist auf absehbare Zeit hin von einer pluralistischen Grundgestimmtheit geprägt. Das ist Folge einer langen geistesgeschichtlicher Entwicklung. Geschlossene katholische "Milieus" sind nicht mehr möglich. Auch die Versuche von Gruppen und Bewegungen christliche "Gegenwelten" zu etablieren, werden auf Dauer kaum durchtragen können. Deshalb stelle ich mir die Frage, ob wir diesen Pluralismus und die damit verbundenen Probleme nicht doch als Chance und Möglichkeit für den kirchlichen Auftrag begreifen können. Die Kirche ist grundsätzlich niemals mit einer bestimmten Gesellschaftsform oder gar einer kulturellen "Großwetterlagen" verbunden. Ganz im Gegenteil: Sie hat es in der Vergangenheit, wenn auch manchmal mit schmerzhaften Verzögerungen immer wieder geschafft, das Evangelium in die konkreten gesellschaftlichen und kulturellen Kontexte "einzustiften" und diese damit positiv zu beeinflussen. Die Kirche hat ja diesen Geist der Moderne entscheidend mitgeprägt! Anders gesagt: Diaspora ist nicht ein zufälliger und zeitweiliger kirchengeschichtlicher Notstand der Kirche, sondern die Grundbestimmung ihres Daseins. Das Stichwort "Wüste" ist biblisch gesehen positiv besetzt: als Ort intensiver Gotteserfahrung und nachhaltiger Umkehr.- Wohl ebenfalls irreversibel ist der geweitete Freiheitsraum für den einzelnen, der durchaus eine Ambivalenz in unsere Pastoral hineinträgt. Das bedeutet, dass die Glaubensverkündigung und die Selbstdarstellung von Kirche in der Öffentlichkeit einem kritischen und auswählendem (und manchmal auch abwählendem) Votum der Menschen gegenüberstehen. So fragwürdig und beschwerlich diese Grundhaltung des Individualismus in unserer Gesellschaft ist, birgt sie aber auch eine Chance in sich, dass Glaubensentscheidungen nachhaltig getroffen und durchgetragen werden. Vielleicht darf man auch den Zugewinn von Freiheit für den einzelnen Menschen als ein Zeichen der Zeit verstehen, an dem Verkündigung und Seelsorge pastoral anknüpfen können. Dass solche aus der Mitte des eigenen Ich getroffenen Entscheidungen seelsorglich gestützt und kirchlich vernetzt werden müssen, steht außer Frage. Aber zunächst einmal müssen wir davon ausgehen, dass "Bekehrungen" nie bloße Übernahme vorgegebener Verhaltensmuster sind, sondern aus der Einsicht heraus erfolgen, durch das Christsein eine Weitung des eigenen Lebenshorizontes zu erfahren, gleichsam das eigene Leben in neuem, "österlichen" Licht sehen zu können.
Ich stelle dies deshalb so ausführlich dar, weil ich überzeugt bin, dass wir als Hirten der Kirche die notwendigen pastoralen Freiräume nur gewinnen werden, wenn wir uns auf diese Realitäten einstellen. Es geht zunächst überhaupt nicht um eine Bewertung dieser ohne Zweifel in sich zwiespältigen Phänomene. Aber es wäre unrealistisch, sie im Blick auf die Bedingungen, unter denen Pfarrseelsorge derzeit anzutreten hat, zu verleugnen.
Dies also mein zweiter Merkpunkt für unsere gemeinsame Überlegung: Die Seelsorge muß sich innerlich und äußerlich einstellen auf
eine geistig pluralistische Welt, von der auch unsere Gläubigen zutiefst geprägt sind,und auf einen geweiteten Freiheitsraum mit einer enormen Zunahme von Wahlmöglichkeiten, auch weltanschaulicher und religiöser Art.
Das verlangt eine Seelsorge, die auf die innere Evidenz des Evangeliums baut und die Menschen zur "Wahl" herausfordert (vgl. die Überschrift des Briefes der französischen Bischöfe: "Proposer la foi"). Darum mein dritter Gedankengang:
3. Die Hauptaufgabe von Kirche in den Blick nehmen: Möglichst allen Menschen das Evangelium anbieten
Es liegt eine innere Logik in der Tatsache, dass wir in den letzten Jahren zunehmend auf das Thema "Mission und Evangelisation" gestoßen wurden. Dieses Thema ist nun nicht einfach ein neues Aufgabenfeld neben vielen anderen. Es beansprucht angesichts der heutigen gesellschaftlichen und kulturellen Situation, in der die Kirche steht, eine grundlegendere Aufmerksamkeit.
Wir sollten uns darauf verständigen, dass die missionarische Verkündigung an kirchenferne Menschen eine neue pastorale Priorität auch in der Pfarrseelsorge erhält, was durchaus die Sorge um den "Glutkern" der Gemeinde und seiner Belange mit einschließt. Kirche lebt immer von Sammlung und Sendung. Eine Ortskirche, die sich ernsthaft darauf einzustellen beginnt, dass sich "Neueinsteiger" aus diesem gesellschaftlichen, durch Pluralismus und Individualität geprägten Umfeld zu ihr Kontakt suchen, wird sich zwangsläufig in ihrer Pastoral und ihrer kirchlichen Selbstdarstellung ändern.
An zwei Punkten sei das konkretisiert:
Die innere "Müdigkeit" unserer Priester in der Seelsorge beruht u.a. auf ihrer Frustration mit der derzeitigen Praxis der Spendung der Sakramente. Müssen wir uns nicht pastoral darauf einstellen, dass die Sakramentenspendung vermutlich erst am Ende eines längeren Glaubensweges erfolgen und auf Dauer angeboten werden kann? Das bedeutet dann aber, in Zukunft auch andere, den Glaubensweg begleitende "Zeichen" (etwa alte und neue Sakramentalien) stärker wirksam werden zu lassen.Eine wirklich in gutem Sinn anregende Erfahrung sind Berichte von Priestern, die Taufbewerber oder getaufte "Neueinsteiger" begleiten. Solche Priester sind merkwürdigerweise in ihrem priesterlichen Selbstverständnis meist positiver, d.h. hoffnungsvoller gestimmt als andere. Das gilt sicher auch für die Gemeindemitglieder, die sich bewußt auf solche "Hinzukommenden" einstellen und helfen, diese "zu empfangen". Sie werden wie von allein im eigenen Glauben bestärkt.
Voraussetzung für solche "Zeugenschaft" ist freilich: Man muß bereit sein, sich in Glaubensdingen ins eigene Herz schauen zu lassen. Ich möchte es so sagen: Es ist wohl einer der "Pastoraltricks" des lieben Gottes, dass wir einander "Hebammen" im Glauben sein dürfen. Der Glaube wächst dort, wo wir ihn teilen. Leider erfahren dies Priester (und Bischöfe!) nicht mehr so häufig und unmittelbar angesichts ihrer zunehmenden Verwaltungs- und Organisationsaufgaben. Die Klage vieler Mitbrüder: "Ich komme nicht mehr zur Einzelseelsorge!" sollten wir nicht überhören. Wir müssen ihnen trotz aller Zwänge zu Strukturveränderungen dafür den Freiraum erhalten.
Darum als Anregung für unser Gespräch ein weiterer Thesensatz: Jede Pfarrseelsorge hat zwar das Ziel der Sammlung - aber um der Sendung willen!
Nochmals: Pfarrseelsorge beinhaltet gleichgewichtig sowohl Sammlung (der Gläubigen) wie Sendung (aller Getauften zu den noch nicht Glaubenden). Derzeit kommt aber - so meine Behauptung - in der Pastoral der Aspekt der Sendung (missionarische Verkündigung, Dialog und Begegnung mit der Welt) gegenüber dem der Sammlung ("Auferbauung", "Betreuung", "Versorgung") zu kurz, und dies durchaus zum Schaden der "Sammlung".
Ist diese Verstärkung der "Sendung" unter den konkreten Gegebenheiten (Priestermangel, kleiner werdende Gemeinden, Rückgang finanzieller Ressourcen u.a. m.) leistbar? Vermutlich müssen wir aus der derzeitigen "Not" eine pastorale "Tugend" machen, und zwar in diese Richtung:
4. In der Pfarrseelsorge eine neue Weite gewinnen
Von manchen Priestern kann man hören, dass sie Angst haben, in einem pastoral abträglichen Sinn zu "bloßen Sakramentalisten" zu werden. Es sei dahingestellt, wie weit diese Angst in jedem Falle berechtigt ist. Aber diese Angst ist da und sie lähmt das pastorale Engagement. So kann man im persönlichen Gespräch manchmal das harte Wort vom "verheizt werden" hören. Diese Angst kann man nicht einfach wegreden. Es braucht eine neue Sicht auf den priesterlichen Dienst in veränderter Welt, nicht zuletzt auch um junge Menschen dafür zu motivieren.
Es bedarf eines Impulses unsererseits, unseren Priestern Wege zu zeigen, wie sie eine neue Weite von pastoralen Wirkungsmöglichkeiten gewinnen können. Das kann natürlich nicht Aufgabe der Priester allein sein. Diese Weitung in die "Sendung" hinein kann nur mit Frauen und Männern aus dem Bereich der Kerngemeinde heraus geleistet werden, damit diese neuen Wege nicht wieder das Gefühl der Belastung und damit der Resignation auslösen, sondern Hoffnung wecken.
Dieter Emeis hat einmal die Formel geprägt: "Pfarrseelsorge nicht ersetzen, aber ergänzen". Vermutlich geht es sogar noch um mehr als nur um Ergänzung herkömmlicher Formen der Pfarrseelsorge. Diese ist ja oft heute schon nicht mehr so "versorgend" wie in der Vergangenheit, wo oftmals die quantitaven Anforderungen in der Seelsorge viel höher waren als heute. Es geht um die Gewinnung einer neuen Weite, die das "Ackerfeld" der Welt zusammen mit der Kerngemeinde der Getauften und Gefirmten neu in den Blick nimmt.
Es bleibt wahr, was seinerzeit die Würzburger Synode (vom Vatikanum II und seinem Kirchenbild inspiriert) einforderte: Aus einer versorgten Gemeinde muß eine "mitsorgende" Gemeinde werden. Doch sehen wir heute sehr nüchtern, dass eben nicht jede kanonisch errichtete Pfarrei wirklich eine "mitsorgende Gemeinde" werden will! Wir müssen uns immer wieder vor Augen halten: "Kirche ist nicht nur Gemeinde, so sehr die Kirche von Anfang an Gemeinde ist" (K.Lehmann). Zudem gilt es (etwa nach Karl Gabriel) zu differenzieren: Ein Kern in der Pfarrgemeinde trägt und gestaltet mit, ein (meist größerer) Teil läßt sich trotz aller "Appelle" weiter versorgen (wobei zudem noch kritisch "ausgewählt" wird!), andere (meist kleinere Gruppen) suchen ihnen "seelenverwandte" Zirkel auf, wieder andere (ebenfalls meist wenige) leben oft sehr engagiert und überzeugend ihren Glauben als "Bewegungschristen", für die die Pfarrgemeinde (leider!) meist keine größere Rolle spielt.
Es ist unwahrscheinlich, dass alle in einem Territorium einer Pfarrei Lebenden wirklich "mitsorgende Gemeindeglieder" werden. Von diesem Pastoralziel sollten wir unsere Priester entlasten. Hier wird zu viel unnötiger "pastoraler Schweiß" vergossen! Doch müssen wir uns natürlich um lebendige Gemeindekerne mühen. Ohne um die Eucharistie versammelte (Kern)Gemeinden werden wir auch kaum der oben genannten Gruppe der "Auswahlchristen" etwas vermitteln bzw. in die Gesellschaft hinein missionarisch präsent sein können. Im Bild: Es muss Öl in der Flasche sein, damit oben aus dem Flaschenhals etwas "herausduften" kann!
Dennoch müssen wir uns darauf einstellen, dass heute der wirkliche Lebensraum der Katholiken nicht mehr vornehmlich von der territorial bestimmten Pfarrgemeinde geprägt wird, wiewohl es hier innerhalb unserer Diözesen Ungleichzeitigkeiten gibt. Der katholische Christ ist darauf eingestellt, sich stärker als früher Gemeinde zu "suchen". Das mag man bedauern, aber dies ist Ausdruck der heutigen gesellschaftlichen und geistigen Mobilität der Menschen. Ich gehe davon aus, dass es in Zukunft größere Auffächerungen und unterschiedliche Ausprägungen von Gemeindetypen geben wird. Schon heute "teilen" sich Pfarrgemeinden in Citybereichen der Großstädte bestimmte Spezialaufgaben bzw. "Angebote" in der Pastoral, wodurch es über die Pfarrgrenzen hinweg zu Personenbewegungen kommt. Es ist auch interessant zu sehen, dass es durchaus nicht nur Lockerung traditioneller Bindungen an die "eigene" Pfarrgemeinde gibt, sondern auch neue Bindungen an geistlich geprägte Orte, Ereignisse ("events"), Gruppen und Initiativen, in denen manche ihr Christsein leben.
Diese offene Gestalt von Seelsorge birgt auch die Chance in sich, dass sich suchende Menschen, die sich zu einer Totalidentifaktion mit Kirche im Augenblick nicht imstande sehen, dort "anhängen" können, um dann zu sehen, ob sie später (etwa im Rahmen eines Katechumenats) den entscheidenden Schritt in die Kirche hinein wagen können. Josef Kardinal Ratzinger sieht im Blick auf die "Gottesfürchtigen" im Judentum der neutestamentlichen Zeit folgende Aufgabe für die Kirche unserer Tage: "Gerade mit der Verkleinerung der Christengemeinden, die wir erleben, werden wir nach ... Formen der Zuordnung, des Sichanhängen-Könnens, der Offenheit Ausschau halten müssen". Und er fügt hinzu: "Dieses Bewußtsein, nicht ein geschlossener Club, sondern immer aufs Ganze hin geöffnet zu sein, ist ein untrennbarer Bestandteil der Kirche."
Die Pastoral wird, wie wir schon bedacht haben, immer diese beiden (in einer gewissen inneren Spannung stehenden) Intentionen haben: Sammlung und Sendung. Die Kirche darf sich nicht mit sich selbst begnügen. Es dient der Sammlung, wenn wir uns auf die Sendung einlassen.
Deshalb brauchen wir (an möglichst vielen Punkten, aber vermutlich nicht flächendeckend) um die Eucharistie gescharte Gemeinden, denn in solchen Gemeinden hält die Kirche ihren Anspruch aufrecht, ein "Lebensprogramm" für alle und jeden bereitzuhalten.
Worin die "Weitung" der Pfarrseelsorge konkret bestehen könnte, sollen im folgenden einzelne Stichworte thesenartig andeuten. Ich nenne hier:
1. Weitung der Pfarrseelsorge in eine größere Region hinein, auch zum Zweck der Entlastung vor Ort. Dazu gehören die Bemühungen um eine "Kooperation" von Pfarreien, etwa in Gestalt von "Seelsorgeeinheiten" (Augsburg,Freiburg, Rottenburg-Stuttgart), von "Pfarrgemeinschaften" (Münster), von "Pfarrverbänden" (München-Freising) u.ä.;2. Angebote unterschiedlicher "Glaubensorte", in denen "Nachfragebedürfnisse" der Getauften und Glaubenssympathisanten aufgenommen werden können.3. "Profilbildung" in den Pfarreien einer überschaubaren Region mit Ausrichtung auf eine "Zentralkirche" ("Mini-Bischofskirche"), deren Präsenz auf kleinere Pfarreien ausstrahlt und diese miteinander vernetzt.4. Einbeziehung von anderen Trägern christlich-kirchlichen Lebens wie Ordenshäuser, geistliche Gemeinschaften, spirituelle Zentren, Vereine, Verbände, Krankenhäuser, Begegnungsstätten, Caritaseinrichtungen, Beratungseinrichtungen, kirchliche Schulen u.a.m.5. Überprüfung der "Eucharistieorte" in einer Region. Dabei gilt die Grundüberlegung: Wie und wo kann durch eine hinreichende Anzahl Mitfeiernder eine festliche Eucharistie, die immer auch Darstellung von Kirche ist, gestaltet werden (vgl. die Aufforderung von Bischof Josef Homeyer, auf Dauer in jeder Pfarrkirche nur eine Eucharistie zu feiern).6. Ausweitung der Initiativen, besondere herausragende Orte mit religiösem Angebotscharakter für eine "Kommunikationspastoral"zu schaffen, so wie es im Kölner Domforum, in der geplanten Jugendkirche in Essen-Oberhausen, dem geplanten Kirchenzentrum in Frankfurt a.M. angedacht bzw. schon verwirklicht ist. M.E. sollte das auch in Berlin ermöglicht werden.7. Einleitung eines Prozesses zum "Rückbau" mancher, etwa gerade noch vor Jahrzehnten gegründeter Gemeinden zugunsten größerer Pfarreinheiten. Diese werden dann ihrerseits "Pastoralstützpunkte" bzw. Zwischenstrukturen brauchen, die sehr unterschiedlich aussehen werden (vgl. die nouvelles paroisses mit ihren relais paroissiaux in manchen französischen Bistümern). Die Diözese Sées in der Normandie beispielsweise hat ihre bisherigen 514 Pfarreien auf 37 Pfarreien reduziert! Das ist natürlich eine "pastorale Roßkur"!
Ich plädiere übrigens - dies nur als kleine Zwischenbemerkung - bei der personellen Ausstattung dieser priesterlosen Stellen für katholische Ehepaare als "Bezugspersonen", und zwar mit dem theologischen Hintergedanken, dass vielleicht im Ehesakrament auch so etwas grundgelegt ist wie eine Charisma der Leitung. Man hätte dann zumindest an solchen priesterlosen Stellen eine "sakramentale" Fundierung des "Leitungsdienstes", was immer sich daraus auch später entwickeln mag.
Soweit meine kurze und beispielhafte Auflistung dessen, was ich unter Weitung der bisheriger Pfarrseelsorge verstehe. Deutlich scheint mir, dass solche Möglichkeiten leichter im städtischen Umfeld anzustoßen und umzusetzen sind als im ländlichen Raum. Aber auch dort geht der Prozeß der "Verstädterung" immer weiter. Er wird solchen Überlegungen zuarbeiten.
Zum Abschluß:
Mir ist bewußt, dass alle Bemühungen um eine Neuordnung und Sicherung der Seelsorge in der Gegenwart und nahen Zukunft nicht allein auf strukturellen, administrativen und organisatorischen Maßnahmen beruhen kann. Es braucht "eine Umkehr und Erneuerung aus der Mitte und Tiefe des Christseins heraus", bei unseren Gläubigen wie bei unseren Priestern und pastoralen Mitarbeitern, auch bei uns Bischöfen. Manches von dieser Spiritualität für "Zeiten des Übergangs" ist in dem Schreiben der Pastoralkommission "Zeit zur Aussaat. Missionarisch Kirche sein" angesprochen.
Die wichtigste Entlastung, die wir unseren weniger werdenden Priestern geben können, ist das Wissen: Als Kirche gehen wir in jeder Zeit den Weg, den Gott selbst in Jesus Christus gegangen ist. Es ist der "inkarnatorische" Weg, der sich nicht zur Welt in Gegensatz setzt, sondern diese annimmt und darin verwandelt. Es ist der Weg des "Mitleidens", das nicht anklagt und verurteilt, sondern erträgt und mitträgt, was heute Menschen zugemutet ist. Es ist der Weg des geduldigen Dialogs, der den Mitmenschen in ihrer je eigenen Erfahrung zu Wort kommen läßt, ihnen zuhört und sie behutsam dabei begleitet, dieses ihr eigenes Leben auf die Wahrheit des Evangeliums hin zu weiten. Und es ist ein Weg des "Anbietens" einer Wahrheit, die ihre Evidenz nicht in formaler Autorität hat, nicht einmal einer "religiösen", sondern in der Erfahrung, daß der christliche Glaube in der Zerrissenheit der heutigen Welt Einheit mit sich selbst und "Stimmigkeit" im Blick auf die ganze Wirklichkeit schenkt.
Die Wahrheit, um die es im Glauben geht, wohnt nur im Zeugnis. Außerhalb der 1.Person Singular gibt es keine Wahrheit des Evangeliums. Solche Subjektivierung des Glaubens privatisiert diesen nicht, aber es macht den Glauben dort, wo er anderen Subjekten begegnet, glaubwürdig. (Das Erzbistum Hamburg hat jüngst ein interessantes Buch veröffentlicht: "Glaubenszeugen im Norden" - aber eben nicht Zeugen der Vergangenheit, sondern Personen der Gegenwart! Hinter dieser Idee steckt ein pastorales Programm, ich meine: ein biblisch gut fundiertes).
Mit solchen Überlegungen ist beileibe nicht die gegenwärtige Krise unserer Pfarrseelsorge angesichts kleiner werdender Priesterzahlen bewältigt. Manchmal meine ich: Die Lage der Kirche ist so, damit wir glauben müssen. Aber das wohl ist eine der Eigenarten unseres Gottes: Er liebt es, in der Krise zu kommen.
Bischof Joachim Wanke
Anmerkungen:
1 Hingewiesen sei aus jüngster Zeit auf das Referat von Bischof Walter Kasper "Der Leitungsdienst in der Gemeinde" (= Arbeitshilfen 118, Sekretariat der DBK, Bonn, Februar 1994); die gemeinsame Erklärung der deutschen Bischöfe "Der pastorale Dienst in der Pfarrgemeinde" (= Die deutschen Bischöfe 54, Sekretariat der DBK, Bonn September 1995); vgl. auch die Hinweise in dem "Schreiben der deutschen Bischöfe über den priesterlichen Dienst" (=Die deutschen Bischöfe 49, Sekretariat der DBK, Bonn September 1992).-zurück zum 2 G.Greshake; Priester sein in dieser Zeit. Theologie - Pastorale Praxis - Spiritualität, Freiburg i.Br. - Basel - Wien 2000, 225.-zurück zum 3 Papst Johannes Paul II. hat in einer Rede vor dem Europäischen Parlament 1988 gesagt: "Der religiöse Integralismus, der keine Unterscheidung zwischen der Sphäre des Glaubens und jener des zivilen Lebens macht und in dieser Gestalt heute noch in anderen Gegenden der Welt praktiziert wird, ist unvereinbar mit dem europäischen Geist, so wie ihn die christliche Botschaft geprägt hat." -zurück zum 4 D.Emeis, Überlegungen zur Gemeinde im größeren pastoralen Raum (Manuskript).- Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang auch auf das im November 1999 vom Ständigen Arbeitskreis "Pastorale Grundfragen" des Zentralkomittees der deutschen Katholiken vorgestellte Thesenpapier: "Die Gemeinde von heute auf dem Weg in die Kirche der Zukunft". These 1 handelt von der Öffnung der Gemeinden an ihren Rändern und Grenzen auf eine größere Weite hin und These 3 spricht von der Notwendigkeit, die "gemeindliche Uniformität" aufzubrechen. Dabei solle das Subsidiaritätsprinzip zur Anwendung kommen. Die diversen Gruppen und "Milieus" innerhalb der einen Pfarrgemeinde sollten von einem "Netzwerk des Vertrauens" zusammengehalten werden.-zurück zum 5 Vgl. den programmatisch gemeinten Satz aus dem Beschluß der Würzburger Synode "Dienste und Ämter" 1.3.2: "Aus einer Gemeinde, die sich pastoral versorgen läßt, muß eine Gemeinde werden, die ihr Leben im gemeinsamen Dienst aller und in unübertragbarer Eigenverantwortung jedes einzelnen gestaltet".-zurück zum 6 K.Lehmann, Gemeinde, in: Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft (Bd. 29), Freiburg - Basel - Wien 1982, 45. Zu den überzogenen Erwartungen an "Gemeindekirche" ebd. 41ff.-zurück zum 7 Vgl. K.Gabriel, Christentum zwischen Tradition und Moderne (QD 141), Freiburg i.Br. 1992.-zurück zum 8 Vgl. den Exkurs "Probleme rings um die neuen Seelsorgeeinheiten" bei G.Greshake, Priester sein 224-229.-zurück zum 9 J.Ratzinger, Gott und die Welt. Glauben und Leben in unserer Zeit, München 2000, 380.-zurück zum 10 W.Kasper, Leitungsdienst (s.Anm. 1) 6.-zurück zum

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