Anna rennt – Elisabeth Zöller
Schauplatz der Geschichte ist eine westfälische Kleinstadt zehn Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Bei einer Prügelei auf dem Schulhof ist Helmut, ein Flüchtlingsjunge zu Tode gekommen. Georg, der Sohn eines angesehenen Rechtsanwalts, hat ihm die tödlichen Tritte versetzt, als er schon schwer verletzt am Boden lag. Anna, die mit Helmut eine schüchterne Freundschaft verbindet, die aber auch für den durchsetzungsgewohnten Georg schwärmt, ist die einzige, die die Tat gesehen hat. Weil Georg jede Schuld abstreitet, gerät Anna in einen quälenden Gewissenskonflikt. Soll sie schweigen und Georg schützen und damit gleichzeitig gegenüber Helmuts Mutter schuldig werden? Oder soll sie reden und damit Georg schaden? Was ist überhaupt Wahrheit? Wenn diese Frage besonders quälend wird, rennt Anna gegen ihre Angst und gegen ihr schlechtes Gewissen an. Wenn sie reden will, ist niemand da, der ihr zuhört. Das Vorurteil der öffentlichen Meinung ist klar: Den Sohn des Anwalts kann keine Schuld treffen und Flüchtlinge leben ohnehin am Rand der Gesellschaft. In einem dichten Zeitbild der 50er Jahre reißt die Autorin viele Gesichtspunkte an, ohne ihre Erzählung zu überfrachten. Sie schreibt von der schwierigen Integration der Flüchtlinge, vom Leben in erstarrten Konventionen und von den Konflikten, die durch soziale Unterschiede entstehen. Vor allem aber geht es ihr um die Auseinandersetzung mit der Wahrhaftigkeit. In ihrer Not ringt Anna auch mit Gott: Ist es wohl war, dass Gott alles und der Mensch nichts kann? Die Predigt des Pfarrers am Tag der Beerdigung, die die Geschichte von Kain und Abel zum Inhalt hat, wird für sie zum persönlichen Wendepunkt. Jetzt findet Anna den Mut, Helmuts Mutter alles zu erzählen. Vor Gericht bricht auch Georg zusammen und bekennt weinend seine Schuld. Beide finden die Kraft, die Wahrheit zu sagen. Deswegen muss Anna jetzt nicht mehr rennen.
Der Autorin gelingt eine packende Geschichte, die über die eindringlich gezeichnete Zeitatmosphäre hinaus beklemmend aktuell ist. Annas Auseinandersetzung mit dem Anspruch ihres Gewissens, mit der Wahrheit, die nur sie kennt, aber auch mit den Urteilen und Vorurteilen ihrer nächsten Umgebung, werden in prägnanter, nuancenreicher Sprache erzählt. Die Erkenntnis, dass Weglaufen nicht hilft, fordert den Leser zur eigenen Stellungnahme heraus. In überzeugender Weise werden hier religiöse Erfahrungen durch ethische Fragen vermittelt und christliche Lebenshaltungen verdeutlicht. Neben der Ermutigung zur Zivilcourage ist das Buch ein Appell gegen das Schweigen und für eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Gewissen: Die Wahrheit kann das Gewissen befreien.
Ab 11 Jahren.