| Pressemeldung | Nr. 170
Bischof Bätzing zum 85. Jahrestag der Reichspogromnacht
Zum 85. Jahrestag der Reichspogromnacht am 9. November 2023 erklärt der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Dr. Georg Bätzing:
Heute vor 85 Jahren brannten in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 in ganz Deutschland die Synagogen und Betstuben, zerstörten und plünderten Angehörige von SS und SA, aber auch aufgestachelte Bürgerinnen und Bürger, Tausende jüdische Geschäfte und Wohnungen und schändeten Friedhöfe. Hunderte Jüdinnen und Juden wurden ermordet, verletzt, misshandelt; viele begingen aus Verzweiflung Selbstmord. An den folgenden Tagen wurden etwa 30.000 Juden inhaftiert und in Konzentrationslager deportiert. Die Reichspogromnacht war von den nationalsozialistischen Machthabern geplant und organisiert worden; sie markierte den Übergang von der rechtlichen und sozialen Ausgrenzung zur offenen Verfolgung der jüdischen Bevölkerung.
Die Erinnerung an die Reichspogromnacht erfüllt mich mit Schmerz. Tausende Deutsche zogen in dieser Nacht marodierend und brandschatzend durch die Straßen mit dem einzigen Ziel, jüdische Einrichtungen zu zerstören und jüdische Menschen zu misshandeln. Noch größer war die Zahl derer, die den Plünderungen und Gewaltexzessen zusahen, ohne einzugreifen. Auch die deutschen Bischöfe haben in der Nacht und in den Tagen danach geschwiegen. Der Berliner Dompropst Bernhard Lichtenberg war und blieb einer der Wenigen, die ihre Stimme erhoben, um gegen das Unrecht zu protestieren. Das Schweigen der katholischen Kirche in Deutschland zur Judenverfolgung beschämt mich.
Inzwischen leben wir in einem demokratischen Rechtsstaat, dessen Grundgesetz die Würde des Menschen und die Achtung der Menschenrechte zur Grundlage allen staatlichen Handelns macht. Synagogen und jüdische Einrichtungen unterliegen dem Schutz der staatlichen Sicherheitsorgane. Doch dass sie weiterhin geschützt werden müssen, zeigt, dass auch 85 Jahre nach der Reichspogromnacht der Antisemitismus eine gesellschaftliche Realität ist und immer noch Leben und Eigentum von Jüdinnen und Juden in diesem Land bedroht. Damit dürfen wir uns nicht abfinden.
In den vergangenen Jahren hat die Zahl der antisemitischen Straftaten und der Angriffe und Beleidigungen unterhalb der Strafbarkeit deutlich zugenommen. In den vergangenen Wochen mussten wir erleben, wie auf deutschen Straßen über die Ermordung und Geiselnahme von Jüdinnen und Juden durch die Terrororganisation Hamas gejubelt und blanker Judenhass propagiert wurde. Auf Internetseiten und in manchen sozialen Medien finden längst überwunden geglaubte, antijüdische Verschwörungsmythen Verbreitung. Auch im Alltag halten sich hartnäckig judenfeindliche Vorurteile. Manche Stereotype werden oft gedankenlos an die nächste Generation weitergegeben. Wie verletzend und zermürbend muss es für Jüdinnen und Juden sein, immer wieder mit denselben Zerrbildern, denselben Vorurteilen und denselben Vorwürfen konfrontiert zu werden und noch immer Angst um ihr Wohlergehen haben zu müssen.
Antisemitismus hat viele Gesichter. Der Rechtspopulismus in vielen europäischen Ländern hat dem antisemitischen Gedankengut der Rechtsextremisten eine neue Öffentlichkeit verschafft. So wird die große Mehrheit antisemitisch motivierter Straftaten von Tätern aus rechtsextremistischen Milieus begangen. Auch stehen wir einem von einigen Muslimen geteilten oder gebilligten Antisemitismus gegenüber. Er speist sich aus einer bestimmten Interpretation der religiösen Quellen, aber vor allem aus dem israelisch-palästinensischen Konflikt. Eine propalästinensische Haltung, die den Einsatz für die Rechte der Palästinenser mit einer scharfen Kritik israelischer Besatzungspolitik verbindet, wird nicht selten mit tradierten antisemitischen Stereotypen verwoben und mündet in eine grundsätzliche Ablehnung des Staates Israel. Auch jenseits islamischer Gruppen findet dieser israelbezogene Antisemitismus eine gesellschaftliche Resonanz.
Seit einigen Jahrzehnten rücken die europäische Kolonialgeschichte und ihre bis heute spürbaren Folgen sowohl in Europa als auch in den ehemals kolonisierten Ländern in den Fokus historischer und intellektueller Debatten. Dadurch wurde das öffentliche Bewusstsein für die Brutalität der Kolonialherrschaft und die langfristigen Folgen der Ausbeutung und des bis heute nicht überwundenen Rassismus geschärft. Einige postkoloniale Aktivisten vertreten jedoch eine höchst einseitige Sicht des Nahost-Konflikts, die nicht frei von israelbezogenem Antisemitismus ist. Wir brauchen in den historischen, theologischen und politischen Debatten eine größere Sensibilität für alles, was Antisemitismus fördert.
So notwendig der staatliche Schutz jüdischer Einrichtungen und die rechtliche Verfolgung antisemitischer Straftaten sind, wir dürfen den Kampf gegen Judenfeindschaft nicht dem Staat allein überlassen. Antisemitismus ist ein Angriff auf die universalen Werte unseres Zusammenlebens, ein Angriff auf die Würde des Menschen. Diese Werte im Alltag zu schützen, heißt nicht wegzusehen, wenn Jüdinnen und Juden angegriffen werden, und nicht zu schweigen, wenn über sie gelästert wird. Antisemitismus ist eine Schande für unsere Gesellschaft, die wir nur gemeinsam überwinden können.
In der Vergangenheit hatte die christliche Verkündigung einen maßgeblichen Anteil an der Entstehung und Tradierung antijüdischer Einstellungen, die in Krisenzeiten nur allzu oft in Gewalt umgeschlagen sind. Von diesem Antijudaismus hat sich die katholische Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) und in den Jahrzehnten danach deutlich distanziert und gerade auch in Deutschland dazu beigetragen, dass eine Kultur des Dialogs von Juden und Christen entstehen konnte. Papst Franziskus hat es auf den einprägsamen Satz gebracht: „Kein Christ kann Antisemit sein.“ Doch es reicht nicht, den Antisemitismus nur moralisch und theologisch zu verurteilen; vielmehr ist es unsere Christenpflicht, aktiv an seiner Überwindung mitzuarbeiten.
Daher bitte ich die Gemeinden, die katholischen Verbände und Bildungseinrichtungen, die kirchlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und die Religionslehrkräfte, sich gegen Antisemitismus zu engagieren und – wo immer möglich – den Kontakt und das Gespräch mit den jüdischen Gemeinden zu suchen. Für die katholische Kirche in Deutschland sage ich: Wir werden uns mit allen Mitteln als Kirche gegen jede Form des Antisemitismus stemmen. Nie wieder sollen Juden in Deutschland angefeindet und bedroht werden. Nie wieder! Das muss uns bleibende Verpflichtung und mahnender Auftrag sein.