| Pressemeldung | Nr. 154

Herbst-Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz in Wiesbaden-Naurod: Predigt von Erzbischof Dr. Heiner Koch (Berlin)

im Gedächtnisgottesdienst für die verstorbenen Mitglieder der Deutschen Bischofskonferenz am 28. September 2023

Herodes, den wir schnell mit allem Bösen identifizieren, lässt uns über ihn staunen in diesem kurzen Abschnitt aus dem Lukas-Evangelium (Lk 9, 6–10), den wir eben hörten. Die Zwölf machten sich auf den Weg, wie Jesus es ihnen aufgetragen hatte, und verkündeten das Evangelium. Auf diese Verkündigung reagiert Herodes. Und wie er reagiert, das würde ich mir auch von vielen unserer Zeitgenossen wünschen: Er fragt nach, wer dieser Jesus sei. Er weiß nicht, was er von ihm und von den Dingen, die über ihn erzählt werden, halten soll und beginnt zu überlegen. Er hat den Wunsch, Jesus einmal zu sehen und ihn zu erleben. Bei aller Ambivalenz: Welches Interesse bei Herodes!

Die Haltung des Herodes ist sehr nahe bei der vieler unserer Mitmenschen heute, wenn für ihn später in der Schilderung der Leidensgeschichte Jesu offensichtlich auf keinen Fall in Frage kommt, dass Jesus der Erlöser der Welt und der Heiland aller Menschen sein könnte, Gottes Sohn, der mit Vollmacht auftritt. Haben wir als Kirche den Mut, Jesus mit diesem seinem Anspruch heute zu verkündigen, oder scheuen wir aus Angst vor Ablehnung davor zurück? Als Vorbild, als Bruder der Menschen, als glaubwürdiger Zeuge des Evangeliums, als einer, der die Botschaft der Liebe konsequent gelebt hat, als Freund aller Religionen – all das ließe sich ja noch gut an die Zeitgenossen bringen. Aber Jesus als Gottes Sohn verkünden, etwa in einer Stadt Berlin mit ihren 250 Religionen und den 75 Prozent Nichtchristen und den 65 Prozent Bürgerinnen und Bürgern, die sich als religiös ungebunden sehen und es bleiben wollen?

Es ist ja evident, dass das derzeitige Erscheinungsbild der Kirche uns vorsichtiger in unseren Forderungen und Erwartungen macht. Das Dauerthema unserer Skandale und das Bewusstsein unseres oftmals nicht sehr überzeugenden Lebens, auch als Einzelne, hält uns zurück, mit großen Ansprüchen aufzutreten, auch mit den Ansprüchen Jesu.

Aber neu ist das alles nicht. Denn spätestens seit den 60er-Jahren haben die Menschen begonnen, in einer mächtigen Welle der Individualisierung und Pluralisierung sich von den großen Systemen der Weltdeutung abzuwenden: Ich lege selbst fest, was ich wann und wie lange und in welcher Intensität glaube und lasse mir von niemandem eine Vorschrift machen. Ich will mich nicht verbindlich an eine Gemeinschaft oder eine Institution binden mit ihren Inhalten, weder an eine Partei noch an eine Gewerkschaft oder eine Kirche. Ich bleibe frei und wähle selbst aus, erst recht was und wem ich glaube. Sollten wir da nicht lieber Kirche als ein großes Warenhaus aufstellen, in dem sich jede und jeder in religiöser, vielleicht auch in kultureller und sozialer Hinsicht aussuchen kann, was er oder sie möchte? Und sollten wir nicht all die hohen Ansprüche, auch die Ansprüche unseres Glaubens im Hinblick auf Jesus Christus, lieber aufgeben oder vertuschen?

Der Prophet Haggai, von dem wir heute in der Lesung hören, würde da entschieden Protest einlegen. So wie er es gegenüber seinen Zeitgenossen in den Jahren etwa um 520 v. Chr. getan hat. Der Perserkönig Kyrus hatte den Judäern die Erlaubnis zur Heimkehr aus Babylon gegeben. Diese war verbunden mit dem Zweck, den Tempel von Jerusalem wieder aufzubauen, dafür wurden sogar Details, etwa seine konkreten Maße, festgelegt. Der persische Kommissar für Jerusalem hatte zudem angeordnet, die goldenen und silbernen Geräte, die nach Babel verschleppt worden waren, für den neuen Tempel auszuhändigen.

Doch trotz der zusätzlichen Zuwendung aus der persischen Staatskasse kam die Wiederaufbauarbeit des Tempels nicht in Gang. Die Menschen des Volkes Gottes kümmerten sich zunächst lieber mehr um die eigenen Häuser, so hieß es eben in der Lesung. Später wolle man sich dann vielleicht an die Renovierung des Hauses des Herrn, des Tempels, machen.

Für Haggai steht da ein gefährliches Denken hinter allem. Der Tempel ist für ihn Ort des Wohnens Gottes mitten unter seinem Volk und damit Ort der Begegnung der Menschen mit dem Gott, der mit ihnen einen Bund geschlossen hat. Er ist der Ort, an dem die Menschen leibhaftig und zeichenhaft erfahren und gemeinsam im Gottesdienst feiern, dass Gott sie nicht alleine läßt, und sie lernen, aus der Gnade Gottes zu leben. Ohne diesen Gott würden sie ihre Identität, ihre Mitte, ja ihr Leben verlieren. Nach Haggais Überzeugung ist es von daher das Wichtigste und die Kernaufgabe für sein Volk, dass es Gott die Ehre gibt. Ehre sei Gott in der Höhe! Gott „vor allem“ und Gott „in allem“. Wer aber dieses „vor allem“ und damit die persönliche Beziehung zu seinem Gott aufgibt, der verliert auch die Fähigkeit, Gott „in allem“ zu erkennen. Haggai hat es mit seinem Volk erlebt und erlitten, dass es in all seiner Geschäftigkeit Gott immer mehr aus den Augen verliert und damit seine Vitalität, seine Energie und seine Leuchtkraft.

Davon können wir als Kirche ja zweifelsohne auch heute ein Lied singen in all unseren Geschäftigkeiten im pastoralen, im sozialen, im kulturellen Bereich, in der Sorge um den Frieden und die Gerechtigkeit, im Engagement für die Menschen. In all dem stehen wir doch zweifelsohne in der Gefahr, bei aller sinnvollen Aktivität oft Schritt für Schritt Gott zu vergessen, zu vergessen, dass wir in allem von seiner Gnade abhängen und dass wir unsere Kraft auch für die Menschen nur behalten werden, wenn wir alles zu seiner, zu Gottes Ehre tun.

Von hier aber auch eine Anfrage an unser öffentliches Wirken: Legen wir in der Öffentlichkeit auch offen, dass wir all dies etwa in unserem persönlichen Leben, in unseren Gemeinden und Einrichtungen wesentlich tun, um Gott die Ehre zu geben, aus der Hochachtung, die ihm allein gebührt? Oder verschweigen wir diese tiefste Dimension und Begründung unseres Handelns, weil Gott in dieser Gesellschaft nicht konsensfähig ist? Tragen wir durch dieses Verschweigen nicht mit dazu bei, dass Gott aus den Bereichen unserer Politik und Gesellschaft immer mehr herausgenommen wird, dass er keinen Raum mehr findet in den Zeichen und Ritualen, in den Argumentationen und Erklärungen unserer Gesellschaft? Fördern wir so nicht den faktischen gesellschaftlichen Atheismus statt die auch im Grundgesetz vorgesehene wesentliche Bedeutung der Religionen in unserer Gesellschaft? In Berlin bin ich von führenden Vertretern anderer Religionen inzwischen mehrfach gebeten worden – auch aus aktuellen Anlässen –, dass wir gemeinsam dafür eintreten, die Stimme Gottes in dieser Gesellschaft und in ihren Vollzügen nicht verstummen zu lassen.

„Alles zur Ehre Gottes“ ist das Leitwort, das uns die Lesung aus dem Buch Haggai heute vorgibt. Geben wir Gott bewusst in allem, was wir tun, die Ehre? Dazu zählt für uns ganz wesentlich der Dienst am Menschen, in dem uns Gott begegnet. Aber sehen wir in diesem Dienst konkret und nicht nur allgemein einen Gottesdienst? Sehen wir in unserem Bemühen etwa um die Kirche einen Versuch, Gott die Ehre zu geben? Oder ist es doch nur der Versuch, unseren Einrichtungen und Institutionen wieder zu altem Glanz zu verhelfen, falls es den je gegeben hat?

„Alles meinem Gott zu ehren“: Das muss der Mittelpunkt unseres geistlichen, ja unseres ganzheitlichen Lebens sein. Dann, so der Prophet Haggai, werdet ihr aufblühen, werdet ihr Kraft finden, werdet ihr auch in schweren Zeiten durchhalten. Haggai will nicht den Tempel aufbauen, um ein kulturelles Erbe zu wahren oder um eine seiner Zeit entsprechende Glaubenshaltung zu präsentieren. Der Aufbau des Tempels ist für ihn Ausdruck dessen, worauf es seinem Volk und jedem Einzelnen ankommen soll: Ehre sei Gott in der Höhe! Alles meinem Gott zu ehren. Diese Forderung hat Haggai auch in seinem Volk sehr viel Ablehnung und Ärger gebracht. Damals.