| Pressemeldung | Nr. 067a

„In Verantwortung vor Gott und den Menschen“

Predigt des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Dr. Robert Zollitsch, im Ökumenischen Gottesdienst anlässlich des 60-jährigen Bestehens der Bundesrepublik Deutschland am 22. Mai 2009 in der Oberpfarr- und Domkirche zu Berlin

Sehr geehrter Herr Bundespräsident,
werte Mitfeiernde hier im Dom und zuhause an den Bildschirmen,
liebe Schwestern und Brüder!

Wir beginnen den heutigen Festakt mit einem ökumenischen Gottesdienst. Schöner und treffender kann man den Geist, den unser Grundgesetz atmet, an einem solchen Festtag kaum zum Ausdruck bringen. Wir legen offen Zeugnis ab, vom Bewusstsein unserer Verantwortung vor Gott und den Menschen. Zugleich dürfen wir heute Zeugen sein, dass diese doppelte Verantwortung in den vergangenen sechs Jahrzehnten gute Früchte getragen hat, dass wir in Frieden und Freiheit leben und zusammen leben dürfen. Das ist alles andere als selbstverständlich. Das erfüllt uns mit großer Dankbarkeit.

Ich selbst erinnere mich noch gut an die Zeit vor sechzig Jahren. Damals war ich Schüler in einem kleinen fränkischen Dorf, in das meine Familie nach der Naziherrschaft, nach Krieg, Flucht und Vertreibung übergesiedelt war. Mein Vater, gerade erst aus der Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt, gab mir mangels anderer Literatur immer die Tageszeitung zum Lesen. Ausführlich wurde darin über die Entstehung des Grundgesetzes berichtet. Lebhaft diskutierte unsere Familie diesen Vorgang. Auch wenn ich damals erst 10 Jahre alt war, so hatte ich dennoch zwei Dinge grundlegend verstanden: Nach dem Erleben von Krieg, Vertreibung und Vernichtungslager stellten für mich Freiheit und Achtung des menschlichen Lebens einen großen Wert dar. Ich bin bis heute dankbar für die Betonung der Freiheit und der Menschenrechte als Fundament unseres Zusammenlebens. Und ein Zweites war für mich damals bereits selbstverständlich: Die Verantwortung vor Gott. So ist mir die Präambel des Grundgesetzes besonders wichtig und wertvoll geworden: »Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und vor den Menschen [...] hat sich das deutsche Volk dieses Grundgesetz gegeben«.

Liebe Schwestern, liebe Brüder!
Wo die Ehrfurcht vor Gott bewusst aufgekündigt wird, wo Menschen, die sich nicht einer höheren Instanz und damit auch den Mitmenschen nicht verantwortlich fühlen, sich selbst an die Stelle Gottes setzen, dort wird die Bahn frei für einen diktatorischen Zugriff auf den Menschen, für Willkür und Belieben. Das musste ich durch das grauenhafte Wirken des Nazi-Regimes und durch den Kommunismus im Osten Europas selbst hautnah miterleben.

Die Väter und Mütter des Grundgesetzes wussten genau, warum sie mit der programmatischen Aussage der »Verantwortung vor Gott und den Menschen« begannen, weshalb sie - getragen von ihren harten Erfahrungen - die Werte, die es für ein verantwortetes Miteinander braucht, so sehr in den Mittelpunkt stellten. Heute wissen wir: Es war die Grundlage für das Wachsen und Gedeihen unseres damals noch jungen Staates! Es ist das Fundament auf dem wir auch heute stehen!
Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland atmet den Geist dessen, was wir im Schrifttext aus dem Matthäusevangelium gehört haben. - »Wer meine Worte hört und danach handelt ist wie ein kluger Mann, der sein Haus auf Fels baute« (Mt 7,24), so sagt es Jesus seinen Zuhörern und auch uns. Mögen Schwierigkeiten auftreten, Stürme hereinbrechen: das Haus, das auf Fels gebaut ist, bleibt stehen, weil es ein tragendes Fundament hat. Wer sich an Gott und der Würde des Menschen orientiert, der hat ein solches Fundament, der gründet auf Werten, deren Gültigkeit über den Tag hinausreichen.

Die uns vertrauten und bleibend gültigen Aussagen: »Nie wieder Krieg, nie wieder Faschismus, nie wieder Totalitarismus, nie wieder Schreckensherrschaft. Nie wieder dürfen Menschen verfolgt, gemordet, gequält oder gefoltert werden. Rassenwahn, Progrome, Unterdrückung der Meinungsfreiheit und Akzeptanz von Gewalt haben in unserer Gesellschaft keinen Platz«, haben ihre tiefste Grundlage im christlichen Gebot der Gottes- und Nächstenliebe. Die Achtung der Menschenrechte, die die Würde des einzelnen Menschen betonen, sie wurzeln - nach jüdisch-christlicher Überzeugung - in der Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Sie sind kein verbales Zierwerk für einen Gesetzestext, sondern tragendes Fundament unserer Gesellschaft.

Werte Schwestern und Brüder,
was möglich ist, wenn wir auf diesem festen Fundament stehen, das zeigen zwei Einigungsprozesse, ohne die wir solche Gedenktage wie den heutigen nicht mehr feiern werden und auch nicht mehr feiern wollen. Sie sind ein Geschenk und das Werk vieler, denen heute unser Dank genauso gilt wie der Gründergeneration der Bundesrepublik Deutschland. Es ist gelungen, Mauern einstürzen zu lassen und trennende Gräben einzuebnen - ohne Blut zu vergießen. Die Wiedervereinigung Deutschlands gehört zu den Sternstunden unseres Landes. Zugleich bin ich dankbar für das Einigungswerk Europas, - auch wenn zur Vollendung beider Einigungsprozesse wohl noch ein großes Stück Arbeit vor uns liegt; auch wenn noch so manche Mauern in den Köpfen und Herzen der Menschen bestehen. Reißen wir sie nieder und bauen daraus Brücken der Versöhnung, der Verständigung und des Friedens. Wir alle wissen, dass die Aufnahme in die europäische Familie nur möglich war, weil die Gegner von einst uns in Freundschaft wieder in die Völkerfamilie aufgenommen haben und uns die Hand zur Versöhnung ausgestreckt haben.

All dies speist sich aus der Ehrfurcht vor Gott und dem Respekt vor den Menschen. Darum erbitten wir in dieser Stunde uns und allen Menschen in unserem Land die Erkenntnis und die Kraft, dass wir heute und ebenso alle kommenden Generationen aus der Verantwortung vor Gott und den Menschen leben und daraus unser Zusammenleben gestalten. Dann werden die Wege des deutschen Volkes gerecht, friedlich und zuverlässig sein; dann werden wir auch weiterhin auf festem und tragendem Fundament stehen und entsprechende Entscheidungen treffen. Amen.

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