| Pressemeldung | Nr. 211

Nachruf auf Papst em. Benedikt XVI. von Bischof Dr. Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz

„Ein demütiger Arbeiter im Weinberg des Herrn“

Papst em. Benedikt XVI. ist tot. Wir trauern um einen großen Theologen, überzeugenden Priester und Bischof, einen Zeugen des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe, um eine Persönlichkeit, deren Wort weltweit Aufmerksamkeit fand – auch bei Menschen anderer Religionen und Weltanschauungen. Wir sind dem Verstorbenen dankbar für seinen aufopferungsvollen Dienst als Nachfolger Petri und – nach seinem Amtsverzicht am 28. Februar 2013 – als Beter für Kirche und Welt. Er selbst hat sich stets als Diener verstanden, als „demütiger Arbeiter im Weinberg des Herrn“, wie er unmittelbar nach seiner Wahl im Jahr 2005 formulierte. In dieser Stunde der Trauer erinnern wir uns an seinen Brief vom 8. Februar 2022 anlässlich der Veröffentlichung des Münchener Gutachtens zu sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche.  Die Betroffenen hat er um Vergebung gebeten und doch blieben Fragen offen, wenngleich Benedikt XVI. deutlich machte, dass sexualisierte Gewalt nicht zu entschuldigen ist. Das nahe Ende seines irdischen Lebens vor Augen, vertraute er fest auf den Herrn, der „nicht nur der gerechte Richter ist, sondern zugleich der Freund und Bruder, der mein Ungenügen schon selbst durchlitten hat … Im Blick auf die Stunde des Gerichts wird mir so die Gnade des Christseins deutlich. Es schenkt mir die Bekanntschaft, ja, die Freundschaft mit dem Richter meines Lebens und lässt mich so zuversichtlich durch das dunkle Tor des Todes hindurchgehen“.

Papst Benedikt war Gelehrter und theologischer Lehrer aus Leidenschaft. Als junger Professor der Theologie hat er das Zweite Vatikanische Konzil miterlebt und mitgeprägt. Nachhaltig hat er die wissenschaftliche Theologie und den Weg der Kirche inspiriert. Stets war er bereit, sich der theologischen Diskussion zu stellen und jedem Rede und Antwort zu stehen, der ihn nach der Hoffnung fragte, die ihn erfüllte. So begleitet uns sein grundlegendes Werk Einführung in das Christentum bis heute. Es ist die frühe Summe seines theologischen Denkens, die er in der Folge durch unzählige Werke und Beiträge ergänzte und entfaltete. „Mitarbeiter der Wahrheit“ (3 Joh 8) wollte er sein, so sein Wahlspruch als Erzbischof von München und Freising. Wer die Werke des Theologen Joseph Ratzinger aufmerksam studiert, findet eine grundlegende Beziehung zu Christus: In seinen drei viel beachteten Bänden über Jesus von Nazaret spürte Benedikt XVI. der Person Christi nach und führte in sehr persönlichen Worten aus, wer dieser Mensch war und was er für die Menschen im Heute bedeutet. Unermüdlich fragte er, wie wir heute angemessen von Gott sprechen, ihn und sein Wirken in dieser Welt erfahrbar machen können.
 
So wurde Benedikt XVI. nicht müde zu ermutigen, das persönliche Leben ganz an Christus auszurichten. „Lasst also das Gebet und die Meditation des Wortes Gottes das Licht sein, das die Schritte auf dem Weg, den der Herr für Euch vorgezeichnet hat, erhellt, läutert und leitet“, forderte er beim XXIII. Weltjugendtag in Sydney 2008 die Jugend der Welt auf. Denn nur mit Gott, und davon war Papst Benedikt zutiefst überzeugt, hat unser Leben und Zusammenleben Sinn und Ordnung. „Das Ziel des Staates kann aber nicht in einer bloß inhaltslosen Freiheit liegen; um eine sinnvolle und lebbare Ordnung des Miteinander zu begründen, braucht er ein Mindestmaß an Wahrheit, an Erkenntnis des Guten, die nicht manipulierbar ist“, warb er 1992 für die Gültigkeit des Naturrechts und fundamentaler Rechte im pluralen Staat und verteidigte sie auch als Papst immer wieder gegen Tendenzen des Relativismus. So unternahm er große Anstrengungen, Vernunft und Glaube miteinander in ein fruchtbares Gespräch zu bringen, was sich wie ein roter Faden durch sein Leben und Wirken zieht. In diesem Zusammenhang erinnerte Papst Benedikt 2008 an die ungebrochene Aktualität der Enzyklika Fides et ratio seines Vorgängers Papst Johannes Paul II.: „Es ist der Glaube, der die Vernunft dazu herausfordert, aus jedweder Isolation herauszutreten und für alles, was schön, gut und wahr ist, etwas zu riskieren. So wird der Glaube zum überzeugten und überzeugenden Anwalt der Vernunft.“

In diesem Hirten der Kirche wirkte nicht allein intellektuelle Brillanz, sondern zugleich eine entschiedene Einfachheit, glauben zu wollen. Es war die Bereitschaft, immer aufs Neue zu staunen, das innere Auge stets weit geöffnet zu haben für das eigentlich unvorstellbare Geheimnis der Schöpfung, des Lebens, letztlich für das Geheimnis Gottes selbst.

Papst Benedikt war ein überzeugter und überzeugender Hirte der Kirche. Der Herr hat ihn in seinen Dienst berufen, ihm immer neue Aufgaben anvertraut und ihn dabei mit seinem Segen begleitet: als junger Priester, als Erzbischof von München und Freising, als Kardinal der Weltkirche und Präfekt der Kongregation für die Glaubenslehre und als Papst. Wir erinnern uns an sein zurückhaltendes Auftreten, das er am Tag seiner Wahl zum Bischof von Rom zeigte und das er beibehielt. Für ihn stand nicht seine Person im Vordergrund, sondern das Hirtenamt, das er ganz und gar als Dienst für andere verstand. Standhaft und ohne zu Zögern hat er so das Evangelium und sein am Lehramt und an der Tradition ausgerichtetes Glaubensverständnis verkündet – auch dann, wenn er mit Widerspruch, Ablehnung oder sogar Feindseligkeit rechnen musste. Er hielt der Kritik stand, blieb den Menschen zugewandt und verkündete unermüdlich das Wort Gottes.
 
In der unvergleichlichen Krise der Kirche, die durch das Bekanntwerden der Taten sexuellen Missbrauchs hervorgerufen wurde, drängte Papst Benedikt darauf, das Leid der Opfer wahrzunehmen, ihre Sicht ins Zentrum zu rücken, wenngleich seine Zeit als Erzbischof von München und Freising ein anderes Licht auf ihn wirft. Er ist in den Jahren seines Pontifikates an vielen Orten mit Opfern sexuellen Missbrauchs zusammengetroffen, auch bei uns in Deutschland. Tief haben ihn die menschlichen Abgründe und schrecklichen Taten erschüttert, die im Raum der Kirche möglich waren. In seinem Pontifikat ist insbesondere die Prävention maßgeblich entwickelt worden, die Grundlage für die notwendige Aufarbeitung weltweit ist. Ebenso hat er wie kein Papst zuvor die Verfahrensregeln im Umgang mit Missbrauchstätern für die Weltkirche präzisiert und entschieden umgesetzt.

Wie schon sein verehrter Vorgänger, der heilige Papst Johannes Paul II., war auch Benedikt ein Pilger. Als Papst besuchte er die Menschen aller Kontinente, traf die Armen und gab den Mächtigen aus Politik, Gesellschaft und Wirtschaft Orientierung. Eine zentrale Frage all seiner Reisen war, welcher Stellenwert Gott in der Gesellschaft beigemessen wird. Unvergessen ist die Rede vor den Vereinten Nationen zur Freiheit und Verantwortung des Menschen. Papst Benedikt XVI. hatte für sich schon früh erkannt, woran die Menschheit krankt. Seine drei Enzykliken handeln deshalb von dem, was die Menschen dieser Zeit brauchen und wohin der Weg seiner Ansicht nach gehen soll: zu einer Welt, die geprägt ist von Gerechtigkeit, Solidarität und Frieden, in der der Einzelne im Mittelpunkt steht. Seinen Einsatz für die Religionsfreiheit verband er mit vielfältigen Bemühungen im interreligiösen Dialog: Bis heute reden Muslime von seinen versöhnenden Worten in der großen Moschee von Amman. Die jüdische Religionsgemeinschaft erkannte in Papst Benedikt einen wahren Freund. Das zeigte sich nicht zuletzt darin, dass er sich ganz in die Linie seines Vorgängers stellte und in der römischen Synagoge betonte: „Ihr seid unsere älteren Brüder.“ Gerade diesen Aspekt hat Papst Benedikt während seiner Reise in das Heilige Land 2009 deutlich gemacht. Israelis und Palästinenser forderte er zu einem konstruktiven und dauerhaften Einsatz für den Frieden auf. Er wies hin auf die gemeinsame Wurzel von Juden und Christen. In Tel Aviv und Jerusalem gedachte er der Opfer der Shoah und mahnte an, niemals wieder den Namen eines Menschen aus dem Gedächtnis tilgen zu wollen. Wie kaum einem anderen war es ihm ein Anliegen, die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten und gegen das Vergessen aufzustehen. Niemals, so sagte er, dürfe die Shoah geleugnet werden. Es brauche die historische Erinnerung, um die menschenverachtenden und verbrecherischen Taten der Vergangenheit nicht mehr Teil der Zukunft werden zu lassen. Die Mahnung für die Zukunft hat uns Papst Benedikt unmissverständlich in Auschwitz mit auf den Weg gegeben: „Der Ort, an dem wir stehen, ist ein Ort des Gedächtnisses … Das Vergangene ist nie bloß vergangen. Es geht uns an und zeigt uns, welche Wege wir nicht gehen dürfen und welche wir suchen müssen.“

Bei all diesen Reisen und Begegnungen, trotz all der Mühen und weiten Wege, blieb Benedikt seiner deutschen Heimat auch als Papst tief verbunden. „Mein Herz schlägt bayerisch“, antwortete er auf die Frage eines Journalisten nach Heimweh. „Es ist so viel Erinnerung in meiner Seele, dass ich in den Landschaften der Erinnerung immer herumwandern kann, mich gar nicht so weit weg fühle.“ Er führte uns in dieser innigen Verbundenheit gleichsam vor Augen, dass jede Pilgerfahrt einen Ursprung, jeder Pilger eine Heimat hat, die unauslöschlich zu ihm gehört und ihn geprägt hat.
 
Dreimal durften wir Benedikt XVI. während seines Pontifikates in Deutschland begrüßen: Wir denken an den umjubelten neuen Papst auf seiner ersten Auslandsreise zum XX. Weltjugendtag nach Köln 2005, an die bewegende und bewegte Heimkehr auf seiner Bayernreise 2006 und an den offiziellen Besuch 2011. Während dieses letzten Besuches suchte er ausdrücklich die ökumenische Begegnung und Annäherung, fand wegweisende Worte vor dem Deutschen Bundestag und machte sich das Motto der Reise in den Gottesdiensten zu eigen: „Wo Gott ist, da ist Zukunft.“ Wie bei vielen anderen Gelegenheiten gab Benedikt XVI. auch auf dieser Reise dem ökumenischen Gespräch neue Impulse und Anregungen. Bei seinem Besuch im Augustinerkloster in Erfurt ließ Benedikt keinen Zweifel daran, dass es Martin Luther mit seiner immensen geistlichen Kraft um den Glauben und um einen Gott der Gnade, Barmherzigkeit und Liebe ging – und nicht etwa um die Spaltung der westlichen Christenheit. Von seinen ökumenischen Begegnungen hinterlässt uns Papst Benedikt XVI. jetzt die Fragen: Wie können sich katholische und evangelische Christen noch stärker die gemeinsamen Glaubenswurzeln neu aneignen; wie die gemeinsame Verantwortung für die Geschichte des Christentums und die gemeinsame Zukunftshoffnung zu eigen machen und dafür Zeugnis geben? Immer in aufrichtiger Herzlichkeit denen zugewandt, denen er begegnete, verstand er sein Pilgern nie als etwas Exklusives, sondern wollte alle mitnehmen auf dem Weg der Nachfolge Christi und sie so näher zu Gott führen.

Papst Benedikt war ein Menschenfreund. Die Herzlichkeit wird uns unvergessen bleiben. „Ich habe es immer als ein großes Geschenk der göttlichen Barmherzigkeit betrachtet“, so formulierte er es anlässlich seines 80. Geburtstages selbst, „dass mir Geburt und Wiedergeburt in der Taufe am selben Tag, im Zeichen des anfangenden Osterfestes geschenkt wurden. So wurde ich zugleich in meine eigene Familie und in die große Familie Gottes hineingeboren“. Ja, er lebte stets eng verbunden mit seiner Familie. Doch seine Familie war weit größer. Nicht zuletzt deshalb hat er über Jahrzehnte hinweg – auch in den Jahren seines Pontifikates – seinen Schülerkreis regelmäßig nach Rom zum Austausch eingeladen.

Papst Benedikt XVI. hatte eine beeindruckende Art, auf Menschen einzugehen und ihnen zuzuhören. Er war eine Persönlichkeit, die einen scharfen analytischen Verstand mit tiefer Frömmigkeit und Herzenswärme verband. Seine Kraft schöpfte er aus der Betrachtung der Heiligen Schrift und der Feier der heiligen Geheimnisse. Mit seinen Predigten und Meditationen erschloss er auf unvergessliche Weise die Dynamik des Wortes Gottes für unsere Zeit. Diese Dynamik müsse auch, so war er überzeugt, die neuen sozialen Kommunikationsmittel ergreifen, die ein probates Mittel seien, im Heute, in einer immer schnelllebigeren Welt die Botschaft des Evangeliums zu verbreiten, das Wort Gottes mit neuem Elan zu verkünden und die Neuevangelisierung so entscheidend voranzutreiben.

Papst Benedikt XVI. war ein Mann des Gebetes. Er fragte zeitlebens nach der angemessenen Weise, auf den Anruf Gottes in der Liturgie zu antworten. Davon zeugen seine Impulse zur Erneuerung und Vertiefung der Messfeier. Seine letzten Jahre hat er zurückgezogen gelebt. Seinen nachlassenden Kräften Tribut zollend, gab er, um die Kirche für die notwendigen Reformen handlungsfähig zu halten, in einem bemerkenswerten und von allen respektierten Schritt das Papstamt auf. Er trat die letzte Etappe seiner Pilgerreise an, um doch seiner Sendung für die Gesamtkirche treu zu bleiben: „Ich bin einfach ein Pilger, der nun die letzte Etappe seines Weges auf dieser Erde antritt. Aber ich möchte weiterhin, mit meinem Herzen, mit meiner Liebe, mit meinem Gebet, mit meinem Denken, mit allen meinen geistigen Kräften für das allgemeine Wohl, für das Wohl der Kirche und der Menschheit weiterarbeiten“, äußerte er in seiner letzten Ansprache als Pontifex am 28. Februar 2013.

Viele Gläubige und geistliche Hirten in Deutschland empfinden gegenüber Papst Benedikt tiefen Dank für seine theologischen Ansätze, sein pastorales Wirken und seine geistlichen Impulse. Sein Einsatz für das Reich Gottes ist beispielhaft und bleibt uns Vorbild. Die Freude, die wir bei seiner Wahl empfanden, unsere Verbundenheit mit unserem Landsmann und unser Respekt vor seiner persönlichen Gradlinigkeit finden nun Ausdruck in unserer Trauer. Sein Vermächtnis wird weiterwirken: das Glaubensleben und das Kirchenbild von vielen Gläubigen hat er als Hirte beeinflusst, seine Theologie hat viele Schüler gefunden, die von ihm gebauten Brücken zu anderen Glaubensgemeinschaften bleiben bestehen.

Er hat uns gelehrt und durch sein eigenes Leben gezeigt, dass Pilgern auf dem Weg der Nachfolge Christi ein Geschenk ist, dass es, trotz aller Beschwernis, Freude schenkt. Benedikt legte durch sein Leben Zeugnis ab, dass Gott Liebe ist und dass der Weg zu diesem liebenden Gott reiche Frucht tragen kann, wenn man sich von Gott berühren lässt: „Wenn die Berührung mit Gott in meinem Leben ganz fehlt, dann kann ich im anderen immer nur den anderen sehen und kann das göttliche Bild in ihm nicht erkennen … Nur meine Bereitschaft, auf den Nächsten zuzugehen, ihm Liebe zu erweisen, macht mich auch fühlsam Gott gegenüber. Nur der Dienst am Nächsten öffnet mir die Augen dafür, was Gott für mich tut und wie er mich liebt.“ (Enzyklika Deus caritas est)

Überzeugt und gestärkt von der biblischen Botschaft hat unser verstorbener Papst Benedikt XVI. oft über die Auferstehung gesprochen und wusste ebenso darum, dass das irdische Leben immer unvollendet bleibt und nicht unserem Urteil unterliegt. In der Stunde der Trauer vermag ein Wort von ihm zu trösten und Hoffnung zu schenken: „Auferstehung bedeutet, dass Gott Macht in der Geschichte behalten, dass er sie nicht an die Naturgesetze abgetreten hat. Sie bedeutet, dass er nicht ohnmächtig geworden ist in der Welt der Materie und des materiell bestimmten Lebens. Sie bedeutet, dass das Gesetz aller Gesetze, das universale Gesetz des Todes, dennoch nicht die letzte Macht der Welt und ihr letztes Wort ist. Der Letzte ist und bleibt der, der auch der Erste ist.“ Möge Papst Benedikt XVI. Vollendung finden in Jesus Christus, der Anfang und Ende, Alpha und Omega, der Erste und der Letzte ist. In dieser Stunde des Abschieds bete ich für ihn und empfehle ihn der Barmherzigkeit Gottes.