| Pressemeldung | Nr. 140

Predigt des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Dr. Robert Zollitsch, beim Abschlussgottesdienst zum Gesprächsforum „Zivilisation der Liebe“ in Hannover

„Ihr werdet Wasser schöpfen aus den Quellen des Heils“

Liebe Schwestern und Brüder in der Gemeinschaft des Glaubens!

„Es muss mehr um das Wesentliche gehen“ – diese Forderung ist uns aus unterschiedlichsten Kontexten und zahlreichen Diskussionen bestens vertraut. Gerade wenn es um den Weg der Kirche in die Zukunft geht, um die Weitergabe des Glaubens in unserer säkularen Gesellschaft, scheint darin so etwas wie eine Kurzformel zu liegen, auf die sich alle verständigen und einigen können. Auch in unseren Gesprächen hier in Hannover stand die Suche nach dem Wesentlichen, dem heute Entscheidenden einer „Zivilisation der Kirche“ immer wieder im Raum.

1. Als der kürzlich verstorbene emeritierte Erzbischof von Mailand, Carlo Maria Kardinal Martini, vor zwanzig Jahren gefragt wurde, ob die Kirche nicht deutlicher das Wesentliche herausstellen müsste, antwortete der großartige Bibelwissenschaftler und Ordensmann mit folgender Erfahrung: „In der ersten Zeit meines bischöflichen Dienstes in Mailand habe ich der Diözese eine Besinnung auf das Wesentliche vorgeschlagen. Der Titel des Pastoralprogramms lautete ‚Die kontemplative Dimension des Lebens‘. Viele Leute sagten mir daraufhin: ‚Das ist ja alles schön und gut. Aber es muss ins Konkrete übersetzt, auf das tägliche Leben bezogen werden.‘ Als ich mich in den folgenden Jahren auf Einzelfragen und konkrete Anliegen und Vorschläge eingelassen habe, wurde angemerkt: ‚Diese Programme gehen zu sehr ins Detail. Was zählt ist das Wesentliche!“

2. Liebe Schwestern, liebe Brüder, hinter dieser Erfahrung steckt die Erkenntnis: die Ausrichtung auf das Wesentliche und die Hinkehr zum Konkreten  sind keine Gegensätze, sondern gehören untrennbar zusammen. Wer sich dessen nicht bewusst ist, so hebt Kardinal Martini hervor, steht in Gefahr, dem einen zu entkommen, indem er sich zum anderen flüchtet. Das heißt: Angesichts vieler ungelöster Aufgaben und großer Herausforderungen berufen wir uns dann auf das Wesentliche; und angesichts dessen, was zentral und wesentlich wäre, verweisen wir auf die Notwendigkeit, täglich handeln und pragmatisch entscheiden zu müssen. Doch das Gegenteil ist der Fall: Das Wesentliche unseres Glaubens hat sich im konkreten Alltag zu bewähren. Und in unseren Entscheidungen, Worten und Taten spiegelt sich – ob bewusst oder unbewusst – das wider, was wir für zentral, essenziell und wesentlich halten.

3. Die beiden Texte der Heiligen Schrift, die wir eben gehört haben, führen uns diesen inneren Zusammenhang deutlich vor Augen. Da ist der Prophet Ezechiel.  Sein Name bedeutet übersetzt: Gott ist mächtig! Damit ist bereits der Kern seiner Botschaft, das Wesentliche seines Lebens, kurz und prägnant zusammengefasst. In Wort und Tat legt er Zeugnis dafür ab, dass Gott mächtig ist; dass Gott selbst ihm die nötige Kraft und Ausdauer schenkt für seinen nicht immer einfachen prophetischen Dienst. Gestärkt durch die Kraft des Geistes Gottes scheut sich Ezechiel nicht, die sich anbahnende Katastrophe der babylonischen Gefangenschaft und des Untergangs Judas vorherzusagen. In der Zeit des Exils hat er aber auch die Kraft, das verstörte Volk wieder aufzurichten und den traumatisierten Menschen beizustehen. Er ist nah bei den Menschen, er kennt die offenen Wunden, und so stärkt er die Menschen und ermutigt sie, weil er weiß: Gott öffnet immer wieder Türen, die es zu suchen und zu finden gilt. Gott ist mächtig. In dieser Gewissheit, liebe Schwestern, liebe Brüder, sind auch wir zusammen. In der Gewissheit, dass Gott hier und heute präsent ist und wirkt. Davon haben wir Zeugnis abzulegen. Wo immer dieses Zeugnis fehlt, stehen wir in Gefahr der Selbstsäkularisierung und des blinden Aktionismus.

4. Gott ist mächtig! – Davon ist auch das eindrucksvolle Bild durchtränkt, das Ezechiel vor unserem geistigen Auge zeichnet: Die Vision von der Tempelquelle. Aus allen Ecken und Winkeln des Tempels strömt Wasser hervor; ein gesundes, reinigendes und heilendes Wasser. Der Prophet sagt es überdeutlich: „Wohin der Fluss gelangt, da werden alle Lebewesen, alles, was sich regt, leben können, (…) wohin der Fluss kommt, dort bleibt alles am Leben.“ (Ez 47,9) Selbst die trockene und leblose Wüste wird zum  grünen Garten; das salzige Wasser zum frischen Lebensort. Das Wasser wird so zum Bild der belebenden und erfrischenden Liebe Gottes. Aus dieser göttlichen Quelle der Liebe zu leben, unterscheidet uns von Menschen, die nicht an Gott glauben. Deshalb ist es auch kein rhetorischer Kniff, wenn wir nicht müde werden zu betonen, dass wir einen geistlichen Dialog führen. Wir sind weder ein Verein, der seine Satzung beschließt, noch eine Partei, die ihr Programm selbst zusammensucht; wir sind auch kein Unternehmen, das seine Firmenphilosophie überarbeitet. Nein, wir sind die Gemeinschaft des Glaubens, Kirche Gottes, die zu den Menschen geht, um die Botschaft des Evangeliums zu verkünden und eine Zivilisation der Liebe zu bauen. Das ist nicht ein der Epoche geschuldetes Aktionsprogramm, sondern uns wesentlich aufgetragen. Die Zivilisation der Liebe beginnt, so formuliert es der selige Papst Johannes Paul II. in seinem Brief an die Familien im Jahr 1994, „mit der Offenbarung Gottes, der die Liebe ist. (…). Sie ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist (Röm 5,5).“ Liebe bedeutet Hingabe, für den anderen da zu sein. „Das ist die wichtigste Dimension der Zivilisation der Liebe“.

5. Die Begegnung Jesu mit dem Zöllner Zachäus unterstreicht dies in fundamentaler Weise. Im konkreten Handeln Jesu spiegelt sich das Wesentliche seiner Botschaft wider: Liebt einander, wie ich euch geliebt habe. Rufen wir uns die Situation nochmals in Erinnerung: Jesus begegnet auf dem Weg nach Jerusalem Zachäus. Der gängigen Mentalität zufolge hat der Oberzöllner alles: Macht und Geld: Er kann von sich behaupten, ein ‚gemachter Mann‘ zu sein. Doch Zachäus – der nach außen hin Vermögende und Mächtige – ist im Innern ein Suchender, ein Mensch voller Sehnsucht. Er möchte Jesus sehen und klettert – ungewöhnlich genug für einen Erwachsenen und Zollbeamten – auf einen Baum. Und dann ergreift Jesus die Initiative. Er lebt vor, was er uns im Gleichnis vom barmherzigen Samariter ans Herz legt: Auch der Fremde ist dein Nächster! Jesus wird zum Grenzgänger hinein in die Wunden der Welt, wie es gestern im Blitzlicht so eindrucksvoll formuliert wurde. So geht  Jesus auf Zachäus zu, ja er schaut zu ihm hinauf und spricht ihn an: „Zachäus komm schnell herunter“. Das heißt nichts anderes als: „Du bist mir wichtig und wertvoll. Ich nehme mir Zeit für dich!“ Und ich will, dass du dich frei für diese Begegnung entscheidest. Ja, die Begegnung setzt die freie Entscheidung des Zachäus voraus.

6. Und dann geschieht das unerwartete Geschenk: das Zusammensein mit Jesus gibt Zachäus eine neue Perspektive. Sein Leben wird buchstäblich umgekrempelt. Wir könnten geradezu sagen: Aus Zachäus wird ein Ezechiel, ein Mensch, der erfährt, dass Gott mächtig ist. Es geschieht die Wandlung, die jede eucharistische Wandlung in uns bewirken will: Der, der einst genommen und zusammengerafft hat, teilt nun aus und gibt freizügig. Zachäus verschenkt nicht nur sein Geld. Er verschenkt sich selbst. Die Zivilisation der Ausbeutung wird zu einer Zivilisation der Liebe; weil er spürt, was auch wir heute erleben: dass ohne Erbarmen alles erbärmlich wird. Das ist der Geist Gottes, der aus einer Gruppe eine Gemeinschaft werden lässt. Das ist es, was Papst Benedikt meint, wenn er in seiner Enzyklika „Deus caritas est – Gott ist die Liebe“ schreibt: „Es gibt keine gerechte Staatsordnung, die den Dienst der Liebe überflüssig machen könnte. Wer die Liebe abschaffen will, ist dabei, den Menschen abzuschaffen. Immer wird es Leid geben, das Tröstung und Hilfe braucht. Immer wird es auch die Situationen materieller Not geben, in denen Hilfe im Sinne gelebter Nächstenliebe notwendig ist. Der totale Versorgungsstaat, der alles an sich zieht, wird letztlich zu einer bürokratischen Instanz, die das Wesentliche nicht geben kann, das der leidende Mensch – jeder Mensch – braucht: die liebevolle persönliche Zuwendung.“ (Nr 28b)

7. Ja, liebe Schwestern, liebe Brüder, manchmal hängt uns unser Ego, unser eigenes Ich wie eine umgeknickte Wimper im Sehfeld unseres Auges. Wir kümmern und wir drehen uns um uns selbst und verlieren die Mitmenschen und ihre Nöte aus dem Blick. Dann lehrt uns Jesus den Perspektivenwechsel, der notwendig ist für den Aufbau einer Zivilisation der Liebe: aufmerksam werden für unsere Mitmenschen; sensibel sein für das, was andere umtreibt und bewegt. Wer in die Schule Jesu geht, der lernt wirklich wahrzunehmen – nicht nur, was der Mitmensch sagt, sondern auch, was er meint und was sein tieferes Anliegen ist; er lernt, sensibel zu werden für die Verfassung des anderen, für das, was ihm wehtut und auf der Seele liegt. Wo eine Zivilisation der Liebe entsteht, da bleibt alles am Leben (vgl. Ez 47,9), da werden Menschen nicht gerichtet, sondern aufgerichtet und gestärkt. Da gelingt, was Bischof Franz-Josef Bode gestern in seinem Statement deutlich gemacht hat: „Es geht um eine Pastoral des hörenden Herzens. Dementsprechend ist alles dafür zu tun, dass sich Menschen mit dem, was ihr Leben prägt, mit Gelingen und Scheitern, mit Höhen und Abgründen von uns Christen, von unserer Kirche angenommen fühlen.“ Das heißt doch auch, liebe Schwestern, liebe Brüder, es gleich zu tun wie Jesus, der sich zu Zachäus einlädt; der zu ihm nach Hause geht, in seine Lebenswelt, um dort von der Liebe Gottes Zeugnis abzulegen. Haben wir heute nicht manchmal eine falsche Scheu, unseren Glauben offen zu bekennen? In unserer Nachbarschaft, am Arbeitsplatz, in unseren Städten und Gemeinden Gottes Liebe zu bezeugen? Machen wir uns bewusst, dass wir mit unserem Handeln, mit unseren Worten und Gesten immer auch eine verdeckte Botschaft bringen vom Wesentlichen unseres Lebens: So sind wir entweder Einladung und Tür zum Glauben an Gott – oder Abweisung und Barriere. Gehen wir deshalb in der Haltung Jesu auf die Menschen zu: Mit Ehrfurcht vor dem Leben und Interesse für den anderen. Bauen wir aus den Mauern des Egoismus Brücken der Solidarität. Dann verändert sich das Gesicht der Welt, dann entsteht ein tragendes Netzwerk der Liebe. Lassen wir die Menschen durch uns und unser Handeln spüren, was wir vorhin im Antwortpsalm gesungen haben: Ihr werdet Wasser schöpfen voll Freude aus den Quellen des Heils!

„Wir sind berufen“, so bringt es Kardinal Martini auf den Punkt, „die einzige grundlegende Wirklichkeit, die Liebe, die Gott durch den Heiligen Geist in unsere Herzen ausgegossen hat, in einer Vielzahl von Situationen auszudrücken“. Dazu, liebe Schwestern, liebe Brüder, wünsche ich uns von Herzen, dass wir immer mehr aus der Quelle Gottes leben und davon gestärkt erfahren: Der Name des Propheten Ezechiel gilt auch uns – Gott ist mächtig! Amen.

Schrifttexte: Ez 47,1-2.8-9.12; Lk 19,1-10

Cookie Einstellungen

Wir verwenden Statistik Cookies um zu verstehen, wie Sie mit unserer Webseite interagieren.

Anbieter:

Google

Datenschutz

Matomo

Datenschutz

Diese Cookies sind für den Betrieb der Webseite zwingend erforderlich. Hier werden bspw. Ihre Cookie Einstellungen gespeichert.

Anbieter:

Deutsche Bischofskonferenz

Datenschutz