| Pressemeldung | Nr. 137

Predigt von Bischof Dr. Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, im Eröffnungsgottesdienst zur Herbst-Vollversammlung 2022 der Deutschen Bischofskonferenz in Fulda

Liebe Geschwister im Glauben!

„Wer sich den Tod nicht ausreden lässt, hat am meisten Religion“ (Elias Canetti, Die Fliegenpein. Aufzeichnungen, Frankfurt 2-2002, 139). Dieses starke Wort des Schriftstellers Elias Canetti (1905–1994) kam mir bei der Betrachtung der heutigen Lesungstexte wieder in den Sinn. Denn darin geht es um die innere Auseinandersetzung gläubiger Menschen mit dem Tod und seinen Vorboten.

Ijob wünscht sich den Tod, nachdem ihm alles genommen wurde: Hab und Gut, Frau und Kinder, Gesundheit und Lebenssinn. Was bleibt da noch? Was hält im Leben? Im Unterschied zu uns, die durch die Rahmenerzählung dieser weisheitlichen Schrift von Anfang an wissen, was gespielt wird, steht der Fromme mitten in der quälenden Auseinandersetzung mit dem Schicksal und mit Gott, von dem er nicht lassen will. Was wir aus seinem Mund hören, ist nicht zu verwechseln mit der melancholischen Todessehnsucht der Romantiker. Es ist im Gegenteil der Schrei eines Menschen, der sich innerlich aufbäumt und die richtigen Fragen stellt: Warum? Weshalb? Wozu? Er will seine Lage ergründen, will wieder Halt unter die Füße bekommen, um zu stehen, um zu leben. Darum ringt der Gottesfürchtige. Und deshalb wird er sich in den folgenden Gesprächen mit seinen Freunden auch nicht den allzu einfachen religiösen Mustern beugen, die alles erklären wollen: Ursachen, Gründe, Sinn. Manchmal sind Klage, Aufstand und Widerstreben tatsächlich der Heiligkeit des Lebens und der Unbegreiflichkeit Gottes angemessener als demütige Ergebung.

Auch Jesus ist nicht bereit, sich sein bevorstehendes Leiden und seinen Tod von den Jüngern ausreden zu lassen. Er sieht ihn kommen. Und die Heimatlosigkeit, von der das heutige Stück aus dem Lukasevangelium erzählt, ist ein Vorbote. Da geht es nicht im Speziellen um die innerreligiösen Auseinandersetzungen zwischen Samaritern und Juden. Was hier offenkundig wird, beschreibt das Johannesevangelium in seinem Prolog so: „[…] die Seinen nahmen ihn nicht auf“ (Joh 1,11). Und damit sind auch seine Vertrauten gemeint, die auf die Ungastlichkeit Jesus gegenüber am liebsten nach Art des Propheten Elija kräftig mit Feuer vom Himmel dreinhauen würden. Als „Hauruck-Theologen“ bezeichnet sie augenzwinkernd ein bekannter Bibelwissenschaftler (Klaus Berger, Kommentar zum Neuen Testament, Gütersloh 2011, 244 f.). Sie wollen nicht akzeptieren, dass Jesus für sich selbst ausdrücklich auf ein Zeichen vom Himmel verzichtet. Stattdessen erhoffen sie ein ungebrochenes Kontinuum zwischen dem irdischen Jesus und der Gottesherrschaft. Mühsam werden sie nach dem abgrundtiefen Erschrecken des Karfreitags und dem völlig unerwarteten Ereignis des „dritten Tages“ vom Auferstandenen selbst in die Logik Gottes eingeführt: „Musste nicht der Christus das erleiden und so in seine Herrlichkeit gelangen?“ (Lk 24,26). Ein intensiver gemeinsamer Lernweg war unumgänglich, bevor der Evangelist Lukas in geradezu feierlichem Ton den Leidensweg Jesu einleitet: „Als sich die Tage erfüllten, dass er hinweggenommen werden sollte, fasste Jesus den festen Entschluss, nach Jerusalem zu gehen“ (Lk 9,51). Ja, wer sich den Tod nicht ausreden lässt, hat am meisten Religion.

Alle großen Bilder, in denen das Gottesvolk seine geschichtlichen Erfahrungen gläubig durchbuchstabiert und darin Gottes Führung erkannt hat, sprechen von Ende und Neuanfang: der Exodus als Weg in die Freiheit, das babylonische Exil als Zeit der Umkehr und Erneuerung, Gericht am Ende der Geschichte und die neue Schöpfung, schließlich das österliche Geheimnis. Alle diese „Ur-Bilder“ und „In-Begriffe“ des Glaubens sprechen von Aufhören und Anfangen, rechnen mit dem Tod und erfahren unerwartet das Geschenk neuen Lebens. Darum sind mir allzu sicher behauptete Kontinuen, also lückenlose Zusammenhänge nach dem Motto: das ist immer so gewesen; das wurde immer so geglaubt; was gestern falsch war, kann doch heute nicht richtig sein … ehrlich gesagt suspekt. Es liegt gewiss in unserer menschlichen Natur, Brücken zu suchen zwischen dem Gestern und dem Morgen, zeitliche Linien zu ziehen und sinnvolle Zusammenhänge zu entdecken – was oft erst im Nachhinein möglich ist. Wir suchen Kontinuität. Aber die kürzeste Definition von Religion ist und bleibt „Unterbrechung“, wie Johann Baptist Metz es formuliert hat.

In vieler Hinsicht halte ich ein einfaches „Weiter so“ für höchst gefährlich. Fortschritt aufgrund lange geübter Optimierungsstrategien kann doch nur denen opportun erscheinen, die sich der krisenhaften Wirklichkeit verweigern. Wir brauchen vor allem im Bereich der Schöpfungsverantwortung dringend Innovation durch Einhalt und Umkehr. Zu lange schon haben wir die Begrenztheit der Erde verbissen ignoriert und den Tod allzu vieler in Kauf genommen. Papst Franziskus wird nicht müde, auf die Bedrohung unseres gemeinsamen Hauses der Erde durch ökologische Ausbeutung, ökonomische Ungerechtigkeit, ideologisch gestütztes Kriegstreiben und fundamentalistische Hetze hinzuweisen. Wenn wir so weitermachen wie bisher, werden wir keine Zukunft haben. Wenn wir nicht lernen aufzuhören, dann werden uns die Katastrophen überrollen, die wir selbst verursacht haben. Gerade wir hier im reichen Norden und Westen müssen zu einem anderen Lebensstil finden. Und der kommende Herbst und Winter wird da aufgrund der Energiekrise ein realistisches Übungsfeld werden. Werden wir es durch Konsumverzicht und gelebte soziale Verantwortung schaffen, als Gesellschaft zusammenzuhalten, füreinander zu sorgen und nicht denen das Feld zu überlassen, die mutwillig Spaltungen provozieren und es darauf anlegen, unsere Demokratie zu destabilisieren? Wer insgeheim denkt, wir werden schon irgendwie mit staatlicher Fürsorge ohne große Einschnitte im eigenen Wohlstand über die Runden kommen, der irrt und folgt der gefährlichen Spur, die ich unlängst in einem Bonmot geistreich ausgedrückt fand: „Mancher, dem die Vernunft rät, aufzuhören, hört sogar tatsächlich auf, aber leider, auf die Vernunft zu hören.“ Glaube und Vernunft sagen uns aber: Es ist höchste Zeit. Jetzt ist es Zeit!

Ijob 3,1–3.11–17.20–23
Lk 9,51–56