| Pressemeldung | Nr. 046

Predigt von Bischof Dr. Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, in der Eucharistiefeier zum Gründonnerstag 2024

Hoher Dom zu Limburg

Die Uhr läuft, doch die Zeit steht still. Höchst selten, aber manchmal geschieht es: bei einem spannenden Sportereignis, am Hochzeitstag, vor Abschlussprüfungen, im Traumurlaub oder an einem Sterbebett. Die Uhr läuft weiter, aber gefühlt steht die Zeit still. Für Christinnen und Christen trifft das auch auf diese Tage im Zentrum des Kirchenjahres zu. Die drei heiligen Tage des Leidens und Sterbens Jesu, seiner Grabesruhe und seiner Auferstehung haben begonnen. Auch jetzt läuft die Uhr, doch die Zeit dieser Tage bekommt ihre besondere Prägung, wenn wir sie mit Jesus gehen. Intensive Zeit, heiliger Zeitraum; es ist die „längste Messe“ des Jahres, die heute beginnt, aber erst endet, wenn am Ostermorgen die Sonne aufgegangen ist. Die frühe Kirche hat dafür einen eigenen Begriff kreiert: „Triduum sacrum“, heilige Dreitagefeier oder heiliger Dreitag. Die Uhr läuft, aber irgendwie steht die Zeit still. Nein, sie steht nicht einfach still: Nach diesem großen Tag ticken die Uhren anders, und unsere Lebenszeit und unsere Lebenswelten erscheinen verändert, verwandelt in neuem Licht. Abend und Morgen, Tag und Nacht, die Tagzeiten gliedern auch den großen österlichen Tag und schlagen mit ihren einzigartigen Liturgien den Spannungsbogen weit über uns.

Jetzt ist Abend. Kostbare Stunden nach der Unrast des Tages. Viele müssen auch jetzt noch arbeiten, Dienstleistung erbringen, damit Einkauf, ärztliche Versorgung, Pflege und Freizeitbranche funktionieren. Wenn sie heimkommen, sind sie oft zu müde für weiteres Abendprogramm und fallen nur noch ins Bett. Die anderen stehen vor der Entscheidung, wem der Abend gehört und wem sie die letzten Stunden des Tages widmen wollen. Familie, Vereine, Freizeitangebote, Fernsehen, Sport, Politik und Freunde konkurrieren um Aufmerksamkeit und Zeitbudgets. Die Auswahl fällt nicht leicht – und manchen stellt sich die Wahl gar nicht, auf sie warten zu Hause Pflichten, Notwendigkeiten oder Einsamkeit. Unsere Abende haben viel eingebüßt von der Stimmung, die sich in der Zeit der Romantik in Liedern, Bildern und Gedichten niedergeschlagen hat. Auch das ist Zeichen einer hastigen Zeit, in der viele sich getrieben vorkommen. Abends macht sich hin und wieder ein Unwohlsein darüber bemerkbar; es ist Ausdruck der Erinnerung daran, was der Abend sein könnte: Ruhepunkt, Kräftesammeln, wohltuendes Miteinander, Ausklang des heutigen und Auftakt des kommenden Tages.

Kostbare Abendstunden lehren uns die große Lektion des Lebens, sie lehren uns loszulassen. Dazu hat Jesus seine Freunde um sich versammelt. Während die drei anderen Evangelien davon ausgehen, dass die Gruppe das Pessachmahl feiert, diesen häuslich-familiären Gottesdienst in Erinnerung an das rettende Loslassen der Fesseln Ägyptens, lässt der vierte Evangelist es unbestimmt: Es fand ein Mahl statt – vor dem Paschafest. Der Evangelist Johannes sieht den Kreuzestod Jesu am folgenden Tag zu jener Stunde geschehen, in der die Lämmer für das Pessachmahl geschlachtet werden. Damit hat er einen wichtigen Bezug hergestellt, eine tiefe geistliche Einsicht formuliert, denn der Preis ist hoch, mit dem der gütige Vater uns in die neue Freiheit von Kindern Gottes entlässt. Loslassen ist wahrhaftig nicht leicht. Diese große Lektion des Lebens will oft und oft im Kleinen eingeübt sein – nicht selten teuer und schmerzlich empfunden, damit sie am Ende gelingt, wenn alles auf dem Spiel steht, unser Sterben zum Leben.

Auch Jesus ringt in den Abendstunden des Gründonnerstags damit. Pessach bedeutet für Jesus, den Schritt wagen, „um aus dieser Welt zum Vater hinüberzugehen“ (Joh 13,1). Er tut es sehr bewusst und im Wissen um das, was ihm am folgenden Tag blüht. Gesten und Worte lassen keine andere Deutung zu, als dass er testamentarisch verfügt, was bleiben wird. Die Fußwaschung: „Ich habe euch ein Beispiel gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt habe“ (Joh 13,15). Das Abschiedsmahl: „Tut dies zu meinem Gedächtnis“. Dann kündigt er seine Auslieferung an und bringt Petrus zum wiederholten Mal zur Raison. Abschiedsreden: Lange spricht er über sein Weggehen und sein neues Kommen, über Einheit, Freundschaft, Frieden, Standfestigkeit angesichts des rauen Gegenwinds, der kommen wird. Betend eröffnet er der kleinen Gemeinschaft den weiten Raum der Gottesherrschaft, und durch sein wirksames Gebet als Hohepriester des Neuen Bundes werden die Apostel bereits zu Mitbürgern der Heiligen und Gottes Hausgenossen (vgl. Eph 2,19) dieser neuen Welt. Jesus gestaltet seinen Übergang. Er überlässt nichts, schon gar nicht seine Freunde, dem Zufall. Er lässt los, verbindet sich fest mit den Seinen, denn sie sind einbezogen, mitgemeint, ja „Begünstigte“ all dessen, was in den kommenden Tagen geschieht. Es mag ungewöhnlich scheinen, aber angesichts der einzigartigen Bedeutung ist es durchaus angemessen, dass Johannes fünf Kapitel für diesen Abend reserviert, ein Viertel seines ganzen Evangeliums, mit dem er den Weg des göttlichen Wortes nachzeichnet. Dieses ewige Wort hat unter uns Wohnung genommen, damit wir die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater in einem Bruder und Freund schauen.

Thomas von Aquin (1225–1274) hat den tiefen Sinn dieses Abends großartig erfasst, als er im Auftrag Papst Urbans IV. im Jahre 1264 Hymnen für das neu eingeführte Fronleichnamsfest verfasste. Fronleichnam ist ja sozusagen die im Osterlicht gespiegelte Feier des Gründonnerstags. „Verbum supernum prodiens – Das Wort des Vaters, Gottes Sohn, tritt ein in unsre Erdenzeit, da seine Leidensstunde naht, krönt er sein Werk im Opfertod.“ Wörtlich heißt es: „venit ad vitae vesperam – er kam zum Abend des Lebens“. Ja, dieser Abend des Gründonnerstags ist der kostbare Lebensabend Jesu, nicht eine Zeit von Jahren, wie er vielen glücklich vergönnt oder mühsam aufgebürdet ist, sondern komprimiert zu wenigen Stunden im Kreis seiner Freunde. Aber der Gründonnerstagabend ist weit mehr als ein persönlicher Übergang. Der evangelische Pfarrer und Dichter Otto Riethmüller (1889–1938) übersetzte das lateinische „venit ad vitae vesperam“ folgendermaßen: „Das Wort […] geht zu der Welten Abendzeit, das Werk zu tun, das uns befreit.“ Wie trefflich ist damit die Tiefendimension des Gründonnerstags ausgelotet. Mit diesem Abend neigt sich eine ganze Welt dem Ende zu. Dieser Abend ist der Auftakt eines neuen Tages in einer befreiten Welt, unendlich kostbar.

Lesungen:     Ex 12, 1 Kor 11
Evangelium:    Joh 13,1–15


Hinweis:

Die Predigt von Bischof Dr. Georg Bätzing in der Eucharistiefeier zum Gründonnerstag ist untenstehend auch als PDF-Datei verfügbar.