Oskar und die Tieferschatten – Andreas Steinhöfel Rico
„Ich sollte an dieser Stelle wohl erklären, dass ich Rico heiße und ein tiefbegabtes Kind bin. Das bedeutet, ich kann zwar sehr viel denken, aber das dauert meistens etwas länger als bei anderen Leuten.“
Rico, der sich und sein Handicap hier so selbstbewusst beschreibt, hat es nicht einfach im Leben. Nicht alle Mitmenschen haben Verständnis dafür, dass Rico ein wenig langsam ist. Der alte Fitzke zum Beispiel, der im gleichen Berliner Mietshaus wohnt wie Rico und seine Mutter, nennt ihn nur „Schwachkopf“. Dabei ist der Junge auf seine Art ein kluger Kopf. Er lässt sich nie unterkriegen und hat fast immer gute Laune.
Rico ist ein guter Beobachter und findet durch sein unvoreingenommenes Wesen meist schnell einen direkten Zugang zu anderen Menschen. Das große Herz und sein Selbstvertrauen verdankt er seiner Mutter, die trotz ihres wenig bürgerlichen Berufs in einem Nachtclub über all die wichtigen Tugenden verfügt, die Rico ein Leben als ganzer Mensch ermöglichen: unbedingte Liebe, Fürsorge, Vertrauen und den Mut, ihren Sohn selbstständig handeln zu lassen.
An einem der ersten Ferientage trifft Rico auf Oskar. Der ist klein, schmächtig und überaus intelligent und damit Ricos genaues Gegenteil. Doch auch das Hochbegabtsein scheint seine Tücken zu haben. Oskar ist nämlich ebenfalls ein Außenseiter. Immer und überall trägt er einen Motorradhelm und weiß jedem statistisch nachzuweisen, dass das in dieser gefährlichen Welt dringend erforderlich ist. Im Gegensatz zum robusten und ausgeglichenen Rico ist Oskar oft schlecht gelaunt, weil er vor lauter Denken schon mal die schönen Seiten des Lebens übersieht.
Die Freundschaft der beiden Jungen wird bald auf die Probe gestellt. Oskar wird von einem Kidnapper entführt und verschwindet spurlos. Weil Rico ahnt, wer dieser Verbrecher ist und weil er seinen Freund nicht im Stich lassen will, wächst er über sich hinaus, überwindet seine Orientierungsschwierigkeiten und schafft es, nach einigen abenteuerlichen Wendungen das Geheimnis um die „Tieferschatten“ zu lösen.
Ricos Ferienerlebnis ist eine wunderbare Hommage an Erich Kästners berühmten „Emil und die Detektive“, aber weit mehr als eine gut konstruierte und auf höchst vergnügliche Art erzählte Kriminalgeschichte. Andreas Steinhöfels Interesse gilt den eigenwilligen Menschen, mit denen er das treffsicher beschriebene Großstadtmilieu liebevoll bevölkert.
Rico muss nicht auf ein Wunder warten, das ihn irgendwann einmal von seinem Handicap befreit. Es ist längst eingetreten und hat ihn zu einem zufriedenen Jungen gemacht, der sein Leben gut besteht. Rico entspricht so gar nicht den Normen einer hektischen Leistungsgesellschaft, hat aber die intuitive Gabe, hinter das Offensichtliche zu sehen und das Richtige zu tun. In Steinhöfels Geschichte ist das Kind mit dem Defizit der Held, der Unmündige wird zum Starken. Was du den Weisen und Klugen verborgen hast, hast du den Kleinen und Unmündigen geoffenbart, heißt es im Matthäus-Evangelium (Mt 11,25).
Steinhöfels warmherziges und sensibles Portrait eines ungewöhnlichen Jungen, das durch Peter Schössows lebendige Illustrationen noch an Über-zeugungskraft gewinnt, wird so zum glaubwürdigen Plädoyer für ein christliches Menschenbild, für Menschenwürde und Toleranz, Respekt und Nächstenliebe.