Annas Himmel – Stian Hole
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger
Der Himmel ist das letzte Ziel und die Erfüllung der tiefsten Sehnsüchte des Menschen, der Zustand höchsten und endgültigen Glücks. Die christliche Glaubenslehre hält mit diesen Worten fest, wofür die Bibel unterschiedliche Bilder findet. Wie aber lassen sich Kindern solche Bilder erklären?
Der norwegische Bilderbuchkünstler Stian Hole nutzt dafür farbintensive Illustrationen, in denen er Symbole aus Pflanzen-, Tier- und menschlicher Alltagswelt zu neuen, paradiesisch anmutenden Szenarien zusammensetzt. Wenn er vom Tod erzählt, endet er nicht beim kindlichen Trauerprozess, sondern webt in den Moment des Abschiedes eine kindliche Vorstellung vom Himmel. Dabei werden komplexe theologische Fragen auf einer künstlerisch durchaus ebenfalls komplexen, aber dennoch zugänglichen Verständnisebene angesprochen.
Erzählt wird von Anna und ihrem Vater – und von einem Moment, vor dem es beiden graut. Auch wenn die Kirchenglocken läuten und der Vater im schwarzen Anzug bereitsteht, wird vorerst nicht ausgesprochen, wo die Unruhe der beiden herrührt. In den Illustrationen jedoch verweisen zahlreiche Details auf eine Bruchstelle im Leben der beiden: Zerschlagene Tassen, zerrissene Perlenketten, vereinzelt zurückgebliebene Schuhe, ein angebissener Apfel, neue Kleider, die „leblos“ auf einem Bügel hängen. Und während der Vater sich noch trauernd abwendet, ist Anna elektrisiert von der Idee, sich den Himmel vorzustellen – und ihn damit auf die Erde zu holen. „Wie kann Gott uns nur alle im Auge behalten?“ fragt Anna sich vor dem Hintergrund der Tatsache, dass ihre Mutter nicht mehr da ist. Bildlich entfaltet sich an dieser Stelle in tiefblauer Farbe ein Pfauenrad, dessen „Augen“ zeigen, dass sich Gottes Auge nicht lokalisieren lässt, sondern alle Menschen in ihm geborgen sind.
Ohne sie zu vereinnahmen werden mit spielerischer Lust konkrete Jenseitsbilder angeboten, die an keiner Stelle vordergründig erscheinen. Himmelsvorstellungen werden dabei an Paradiesvorstellungen rückgebunden, wenn die Mutter zum Beispiel im Garten Gottes aushilft. Mit diesem Paradies jedoch könnte auch eine Bibliothek gemeint sein, denn: „Auch Gott braucht ein Lexikon, in dem er ab und zu nachschlagen kann.“
Am intensivsten jedoch wird sicht- und spürbar, dass in der Vorstellung des Himmlischen eine endgültige Gemeinschaft jenseits von Zeit verwirklicht wird. Das Wunderlichste am Himmel, so hält der Philosoph Voltaire fest, wird es sein, Menschen zu treffen, die wir dort nicht erwartet hätten. Als Meer der Unsichtbaren, die unvermittelt sichtbar werden, bringt Stian Hole diese philosophische Überlegung bildlich ein und lässt diese Vorstellung in einen Kaffeetisch übergehen, an dem „der Opa, der immer mit dem Stuhl wippt“, Buster Keaton und der Großvater von Garman gemeinsam mit Annas Mutter „zu Besuch“ sind.
Dieses Bild des himmlischen Mahls zeigt, wie sensibel und doch eindrucksvoll Bilder und feste Vorstellungen in der Schwebe gehalten werden – und gerade damit ihre tröstliche Wirkung entfalten. Denn Anna bleibt nicht Objekt ihrer Trauer, sondern wird aktiv und zeigt, wie ein Stück jenes Himmels, in dem ihre Mutter nun ist, auch auf Erden sicht- und spürbar wird. Mit einer Fülle an bildlichen Schau-Erlebnissen lässt sich so nicht nur das kindliche Symbolverständnis schulen, sondern auch die Frage danach stellen, was unter einem Zustand höchsten, endgültigen Glücks gemeint sein kann.
Carl Hanser Verlag, München, 2014
48 Seiten, ISBN 978-3-446-24532-7, € 14,90
ab 6 Jahren